Undine Wolff und Ulrich Schacht in Viarpshult /Sverige (2017): In memoriam!

 

 

Ulrich Schacht mangelte es wahrlich nicht an Selbstbewusstsein, wenngleich er gerne Demut predigte. In Buch und Film verarbeitete er seine Familiengeschichte, schrieb recht abstrakte naturästhetische Betrachtungen und die atemberaubend schöne Novelle „Grimsey“. Seine Gedichte hielt er für nobelpreisverdächtig. Bei aller Demut: Wahrlich, das sind sie! Leider starb Ulrich Schacht viel zu früh an den Folgen eines zweiten Herzinfarktes. Am 9. März 2021 hätten wir seinen 70. Geburtstag feiern können und im kommenden Herbst die Vergabe des Literaturnobelpreises.

 

 

 

Clarissa Schwilk vor der Gedenktafel für ihren Patenonkel in Wismar (25. Juni 2022)

 

 

Wer sich nicht selbst wichtig nehme, sagt Thomas Mann in seinem Josephroman, der könne auch anderen kein Segen sein. In Ulrich lebte viel Glaube an die eigene Berufung. Sein Erwählungsbewusstein war die Voraussetzung dafür, andere an ihn glauben zu machen. Wie Joseph hatte er immer wieder die Erfahrung der Grube gemacht und aus ihr eine Steigerung der Lebenskraft gewonnen.

Ulrich hatte ein gewinnendes Wesen, wenn er etwas wollte, und immer eine Forderung oder einen Wunsch auf den Lippen. So fehlte es ihm nie an Sponsoren für seine Reisen in die russische Arktis. Michael Otto, Lutz Peters, Günther Schulz und Gönner aus deutschen Verlagen gehörten dazu.

 

 

 

Ulrichs bester Freund und Arktisfahrer Heimo Schwilk mit Clarissa Schwilk

vor der Gedenktafel in Wismar (25. Juni 2022)

 

 

Die Arktisreisen waren Ordensfahrten. 1987 hatte Ulrich in Marielyst/Falster den Ivenack-Orden gegründet, eine evangelische Bruderschaft mit katholisierender Ausrichtung. Ihm stand er als selbst ernannter Großkomtur vor. Der anachronistische Titel störte ihn nicht im geringsten. Mich schon. Bei aller Wertschätzung seiner Person bin ich Ulrichs Einladungen zu den Konventen seines Ordens nie gefolgt. Armut und Keuschheit mochte ich wohl geloben, aber nicht Gehorsam gegenüber dem Großkomtur „Bruder Wismar“. So lautete Ulrichs Ordensname. Friedrich Heiler hatte das Konzept einer „evangelischen Katholizität“ entworfen. Doch in der evangelischen Kirche kann man nicht katholisch sein. Das wusste Ulrich. Aber es störte ihn nicht im geringsten. Auf verlorenem Posten fühlte er sich pudelwohl.

 

 

 

Der ursprüngliche Ordensname nahm Bezug auf die Ivenacker Eichen, Deutschlands älteste Bäume. Als Ulrich eine landeskirchliche Anerkennung seines Ordens suchte, musste er diesen allzu deutschnational klingenden Namen aufgeben. Aus dem Ivenack-Orden wurde die Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden mit Sitz im Erfurter Augustinerkloster. Die Wahl von Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer als Ordensheilige schuf die notwendige Akzeptanz und Finanzierung durch die Landeskirche.

Ulrich war ein Mann für Konsensstörung, der als Querulant und Querdenker gerne zu Vorträgen mit provokativen Potential eingeladen wurde, etwa vom Jens Lüpke und dem Katholischen Forum Niedersachsen. In seinem Buch „Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011“ rechnet Ulrich mit der evangelischen Kirche ab:

„Übrig ist eine Art Kirchenruine, in der jeder Pastor Papst ist, Bischöfe machtlose Grüßauguste und synodale oder kirchenamtliche Verlautbarungen sich kaum noch von politischen unterscheiden, vor allem in ihren politisch-korrekten Absurditäten und linksseligen Verstiegenheiten. (…) Der nicht-häretische Teil des deutschen Protestantismus könnte, mit der entsprechenden „Melanchthon“-Formel und in eigener Gestalt, unter die Fittiche Roms zurückkehren, wie Teile der Anglikanischen Kirche es gerade zu vollziehen beginnen, und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nomen est omen, sowie die Riege der zeitgeistrunkenen Priester, Bischöfe und Theologieprofessoren bleiben Rom zukünftig erspart. So könnten die einen dann weiterhin konzentriert Gott dienen und dadurch der Welt ein normatives Beispiel geben, die anderen aber unentwegt die Welt retten und dabei Gott links liegen lassen oder überholen, bis sie ein weiteres mal des Teufels ist.“

 

 

 

Mitglieder der Schacht-Expedition vor dem MI-8 Hubschrauber

 

 

Das ist Ulrich Schacht! Doch besaß er auch eine andere Seite. Sie zeigt sich in seinen wunderbaren Gedichten. Manche sind Gebete. Sie beschreiben die Erfahrung des Heiligen in der Natur, auf die der Mensch nur mit tiefer Verbeugung vor dem Schöpfer in Demut reagieren kann:

 


„Schnee in der Luft die
Sonne sinkt ins Meer, von Osten
her ertrinkt die Welt im

Weiß. In Pfützen glänzt das
Eis vorm Haus die weißen Tische
Stühle - längst verschwunden. Schnee

in der Luft er deckt die
Schnitte Wunden wenn er
fällt, von Osten her ertrinkt die

Welt in Schweigen: Aufsteigen bis
ins All. Lautloser Fall. Tiefstes
Verneigen.“

 


 

 

 

Professor Baranov vom Institut für Arktis und Antarktis St. Petersburg

https://www.spitzbergen.de/2017/10/26/russischer-hubschrauber-abgestuerzt.html

 

 

Die zweite Fahrt (1991) der Ordensbrüder ging in diese Welt aus Schnee und Schweigen. Ausgangspunkt war Murmansk. In dieser Stadt hatte Michail Gorbatschow die Aufhebung der Sperrzone russische Arktis gefordert. Die Ordensbrüder fuhren mit der „Professor Molchanov“ in die hohen Breitengrade. Pavel Molchanov (1893-1941) gehörte zu den bedeutenden Arktisexperten. Wie viele seiner Kollegen wurde er von Stalins Geheimpolizei erschossen. Später fand sein Name eine Rehabilitierung.

Im Jahr des Mauerfalls hatte Ulrich Spitzbergen besucht. Franz-Joseph-Land lag damals noch im militärischen Sperrgebiet. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich für wenige Jahre ein Zeitfenster, das Ulrich für seine „Künstlerexpeditionen“ (1991, 1992, 1993, 1995) nach Novaja Semlja, Severnaja Semlja und Franz-Joseph-Land nutzte. An der letzten Reise in das Land hinter Lethe durften Heimo Schwilk und ich als Gäste teilnehmen. Dann wurde das Inselreich, auch wegen der atomaren Verstrahlung weiter Regionen der Kara-See, wieder zum militärischen Sperrgebiet erklärt.

Am 16. Juli 1995 trafen sich in Hamburg die schwarz gekleideten Ordensbrüder. Am Vorabend des Fluges hielten sie eine letzte Abendmahlzeit. In schwarzer Schrift waren auch die Aufkleber mit dem Zeichen des Ivenack-Ordens gehalten. Jeder hatte sie auf seine Gepäckstücke zu kleben. Von Hamburg flogen wir über Kopenhagen nach St. Petersburg. Dort startete eine Antonov-26 zum Flug nach Sibirien. Die Reisezeit wurde mit acht bis zehn Stunden angegeben. Am Ende waren es zwölf. Beim Flug in den Osten werden die Uhren um sechs Stunden vorgestellt, besser noch, der Reisende legt sie ab. Denn was bedeutet Zeit in diesen gewaltigen Räumen? Alles ist hier maßlos wie die sommerliche Lichtflut über und die dunklen Wälder unter uns.


 

 

Der Schreibtisch des Arktis-Forschers 

 

 

Am 16. Juli 1995 trafen sich in Hamburg die schwarz gekleideten Ordensbrüder. Am Vorabend des Fluges hielten sie eine letzte Abendmahlzeit. In schwarzer Schrift waren auch die Aufkleber mit dem Zeichen des Ivenack-Ordens gehalten. Jeder hatte sie auf seine Gepäckstücke zu kleben. Von Hamburg flogen wir über Kopenhagen nach St. Petersburg. Dort startete eine Antonov-26 zum Flug nach Sibirien. Die Reisezeit wurde mit acht bis zehn Stunden angegeben. Am Ende waren es zwölf. Beim Flug in den Osten werden die Uhren um sechs Stunden vorgestellt, besser noch, der Reisende legt sie ab. Denn was bedeutet Zeit in diesen gewaltigen Räumen? Alles ist hier maßlos wie die sommerliche Lichtflut über und die dunklen Wälder unter uns.

Wie das Wetter des Nordlandes in Minutenschnelle wechseln kann, so der Kurs der russischen Währung. Zwei Zwischenlandungen sind auf dem Flug nach Dickson nötig, doch selbst der Pilot weiß beim Start nicht, wo sie stattfinden werden. Während der Reise über menschenleere Landschaften wird er bei verschiedenen Flughäfen den besten Benzinpreis erfragen. Wir fliegen in Richtung Archangelsk über die ehemaligen Vernichtungslager aus stalinistischer Zeit. Weit unten liegen die Solowki-Inseln, auf denen Pawel Florenski verbannt worden war. Edzard Schaper hat das Schicksal der verfolgten Christen in der Sowjetunion in seinen karelischen Erzählungen und seinem Roman „Die sterbende Kirche“ (1936) beschrieben.

Im Juli 1931 flog Arthur Koestler als Korrespondent des Ullstein Verlages mit dem „Graf Zeppelin“ über die Welt der Lager in Richtung Franz-Joseph-Land. Ziel der Reise war die Stille Bucht der Hooker-Insel, wo das deutsche Luftschiff auf den sowjetischen Eisbrecher Malygin treffen sollte. Ulrich hatte eine kleine Reisebibliothek zusammengestellt, darunter Friedrich Sieburgs Bericht „Die rote Arktis“ (1932) über die Fahrt mit der Malygin. Das Verwaltungszentrum der roten Arktis und ihrer Straflager war Archangelsk. Wir dürfen die Stadt nicht betreten. Sieburg hatte über Archangelsk berichtet: „Die Kirche ist in ein antireligiöses Museum umgewandelt, ihr weißgekalkter Bau liegt in einer kleinen Anlage, die der Aufenthaltsort der Säufer, Bettler, Tagediebe und Obdachlosen von Archangelsk ist.“

Wieder in der Luft feierten wir die Überquerung des nördlichen Polarkreises mit zuckersüßem Schaumwein aus rosafarbenen Hartplastikschalen und einem Apfelstückchen. Amderma meldet 8 Grad. Wir betreten das Reich des Permafrostes. Im Sommer taut der Boden nur bis zu einer Tiefe von zwanzig Zentimetern auf. Aus Schutz vor der Bodenkälte steht das Flughafengebäude auf Pfeilern. Die Stufen sind vom Frost zersprengt worden, das Rollfeld zeigt tiefe Risse. Aus unerfindlichen Gründen verweigert unser Zielflughafen Dickson die Landeerlaubnis. So verzögert sich der Weiterflug um zwei Stunden. Gelegenheit, zwischen schrottreifen Maschinen und Öllachen zu gehen. Am Flughafengebäude die alte Parole: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird immer leben.“ Das Portrait des Diktators ist vom Frost zerfressen worden. Wir erleben den Untergang der roten Arktis.

Das Militärlager Dickson erreichen wir nach Mitternacht. Unter Stalin war Dickson ein Gulag. Während des Kalten Krieges lebten hier 1500 Soldaten, jetzt sind es nur noch zehn. Wieder grüßt ein verwitterter Lenin. Um zwei Uhr nachts steht die Sonne leuchtend am Himmel. Wir steigen durch eine Trümmerwüste. Eine apokalyptische Landschaft wie die Zone in Andrej Tarkowskijs Film „Stalker“. Aufgeplatzte Leitungsrohre, verlassene Häuser, verrostete Kettenfahrzeuge, tonnenweise Schrott, dazwischen Hinweisschilder auf radioaktive Strahlung. Draußen auf dem Grund der Karasee liegen nukleare U-Boote. Neue, noch verpackte Gerätschaften verwittern bereits am Straßenrand, eine Lieferung von Heizkörpern liegt vor den Häusern und dient als Fußabtreter.

Am Kap Tscheljuskin ist nur eine Zwischenlandung geplant. Ein eisiger, naßkalter Wind fährt durch das nebelverhangene Lager. In gefütterten Gummistiefeln waten wir durch den Schlamm, während der Hubschrauber aufgetankt wird. Auf einem Schild der Hinweis auf das Rauchverbot. Bei Zuwiderhandlung werden zwei Monate Entzug der Zuckerration angedroht. Der Tankwart raucht dennoch, denn Zucker gibt es hier auf verlorenem Posten schon lange nicht mehr. Russland hat für die Heimkehr seiner arktischen Arbeiter kein Geld. Aus der Nebelwand taucht ein blutverschmierter Samojede mit einem Knochen in der Schnauze auf. Sofort verbeißen sich sieben Bestien ineinander. Mit groben Fußtritten versucht sie der Tankwart auseinander zu treiben.

Fünf Eisbären seien im Gelände gesichtet worden, heißt es plötzlich. Da sie unter Naturschutz stehen, dürfen sie nicht geschossen werden. Eisbären kennen keine natürlichen Feinde. Sie gelten als unberechenbar und extrem schnell. „When you have seen them, you are dead!“, sagt Martin Harris, Meteorologe aus Oxford, der hier oben Wettersatelliten aussetzen will. „Wenn Du einen Eisbären siehst, fängst das Leben erst richtig an!“, meint Ko de Korte, ein holländischer Ornithologe und Zyniker. Er lebt von den wenigen Reisegruppen, die er in die Arktis führt, und verachtet zugleich den Menschen, der seinen Fuß in das Vogelparadies setzt.

 

 

 Arktisches Gelege

 

 

Unerwartet bietet sich die Möglichkeit, die Polarstation Fedorov und das Denkmal am Kap zu besuchen. Viktor schultert die Kalaschnikov und beordert einen Lastwagen. Wir legen uns auf die hölzerne Ladefläche und klammern uns während der holprigen Fahrt aneinander, um nicht abgeworfen zu werden. Durch die Risse in den Balken spritzt der Eisschlamm. Am Kap Tscheljuskin sind viele Entdeckungsreisende der Arktis gescheitert oder durch das Eis an der Weiterfahrt gehindert worden. Direkt am Ufer haben Soldaten auf hohen Wachtürmen Position bezogen. Vor ihren Augen gleiten Eisblöcke vorbei. Die breite Urinspur eines Eisbären zieht sich über eine Schneewehe. Grüne Steine mit langer gleichmäßiger Maserung liegen auf dem Boden. Einige Stellen sind mit leeren Patronenhülsen übersät. Zwei mannshohe Steintürme und ein aufgerichteter Baumstamm mit roten Farbstreifen markieren den Ort: 77° 42’ 07’’ nördlicher Breite, 104° 8’ Länge. Musik und Dialogfetzen der Radiostation durchdringen lautstark die Eiswüste. Wir frieren trotz der Spezialkleidung. Viktors Hals und Hände sind ungeschützt. Wärmende Kleidung wird den Soldaten nicht zugeteilt. Vielleicht geht deshalb die Zigarette im Mund niemals aus. Sechzig Kilometer von Kap Tscheljuskin entfernt befand sich ein Lager für politische Gefangene. Eine Ahnung von den Zuständen im GULAG läßt uns erschaudern.


Zehn Stunden dauert der Flug mit dem Hubschrauber MI-8 von Dickson über Kap Tscheljuskin ins Nordland. Ein gefährliches Unternehmen. Denn zwei MI-8 Hubschrauber sollten in diesem Sommer 1995 über dem Eis abstürzen. Aus zweihundert Metern Flughöhe gleitet der Blick über endlos scheinende Tundraweiten. Kilometerweit haben sich die Spuren der Kettenfahrzeuge in den Boden gefressen. Dreißig Jahre lang werden sie sichtbar sein. Das Leben ist empfindlich, und die kurzen Sommer schenken ihm nur wenig Blütezeit. Fünf Sommer dauert es, bis sich ein knospendes Blümchen entfaltet hat.

Niemand kann hier oben allein überleben. Alles Lebendige braucht Schutz. Die rotfarbene Flechte den Stein, das winzige Vergißmeinnicht die Grasnabe, der Eisbär die Schneehöhle, der Mensch den Hund und das Gespräch. Auch wir hocken dichtgedrängt zwischen den großen Benzintanks im Innenraum des Helikopters. Der Lärm der Rotorblätter ist ohrenbetäubend, die technische Ausrüstung wirkt überaltert.


 


 

Auf Sewernaja Semlja

 

 


 

Mir ist nicht zum ersten Mal auf dieser Fahrt ins Land hinter Lethe unwohl. Ein Ordensbruder kommentiert: „Man merkt auf Schritt und Tritt, dass du noch nie im Knast gewesen bist!“ Das stimmt. Ulrich wurde im Frauenzuchthaus Hoheneck geboren. Später wurde er wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Jeder Ordensbruder hat Knasterfahrung. Offenbar schöpft er daraus eine innere Stärke und Gelassenheit. Sebastian Kleinschmidt bringt diese Erfahrung auf den Punkt:

„Wer im Gefängnis ist, erfährt Licht und Dunkelheit elementar. Schacht gehörte zu denen, die Energie daraus gezogen haben, auch als späterer Dichter. So wurde er Zeuge der Dunkelheit und zugleich Bote des Lichtes. Beides ist in sein Schreiben eingegangen. In fast allen seinen Gedichten, besonders denen über den Norden, ist das zu spüren.“

Auf alles waren wir nach den bisherigen Erfahrungen gefaßt, nur nicht auf den angenehmen Komfort der Radio- und Wetterstation „Prima“. Sie liegt auf Bolschewik, der südlichsten Insel des Nordlandes Severnaja Semlja. Ihre Entdecker nannten sie Swjataja Olga - Sankt Olga. Die Revolution löschte auch diesen Namen aus.

Vier Russen wohnen das ganze Jahr über auf Prima. Die Station über dem 79. Breitengrad kann nur im Monat August von Eisbrechern aus Murmansk oder Archangelsk versorgt werden. Prima beherbergt in diesem Jahr nur drei Reisegruppen. Das sei zum Überleben zu wenig, erklärt Vladimir Baranov in morgendlicher Runde. Unser Begleiter war Angestellter des berühmten Forschungsinstituts für Arktis und Antarktis in St. Petersburg und versucht nun einen sanften Tourismus aufzubauen. Auf den Tischen steht der köstliche Fisch, den wir am Nachmittag geangelt hatten. Oberhalb der Station befindet sich der See Osero Twerdoje. Er dient zur Trinkwasserversorgung und ist ganzjährig zugefroren. Im Sommer beträgt die Eisdichte 150 Zentimeter. Wir hatten Löcher gebohrt und Lachsforellen gefangen. Unsere russischen Begleiter ließen die Tiere auf dem Eis liegen, wo sie lange Maul und Kiemen bewegten. Einige von uns befremdete der Brauch, und sie baten, die Fische zu köpfen. Entsetzt wiesen die Russen das Anliegen zurück. Wie könne man nur einem so edlen Tier den Kopf abschneiden!

Severnaja Semljas Inselwelt erstreckt sich 360 km von Nord nach Süd und 324 km von West nach Ost. Gut die Hälfte der Fläche ist vergletschert. Rentiere, Eisbären, Schneehasen, Lemminge und Polarfüchse sind auf Severnaja Semlja zu Hause. An den steilen Felswänden der Fjorde brüten Seevögel. Einige Kolonien bestehen aus zehntausend Brutpaaren. Severnaja Semlja bietet ein abwechslungsreiches Landschaftspanorama. Sanftwellige eisfreie Hochebenen sind mit grünen Schiefertafeln bedeckt. Weder Grashalme noch Moose wachsen hier. Schwarze Flechten mit grauen Rändern bilden die ersten Spuren des Lebens zwischen den gewaltigen Brocken einer Geröllhalde. Der Frost hat die Steine aufgesprengt und steinerne Blütenornamente gebildet. Im Anorganischen prägen sie die Grundmuster des Lebens vor. Orangerot leuchtende Flechten ernähren sich von den Mineralien. Die Reise führt in den Anfang der Schöpfung zurück, als Wasser und Land gerade getrennt worden waren.

 

 

Swernaja Semlja

 

Himmel, Erde und Wasser fließen ineinander über. Farben und Formen wechseln in Minutenschnelle. Türkisblau und grauschwarz bricht der Gletscher auf. Jahrtausendelang wurde das Land von seinen Eismassen geknetet. Jetzt hat das Eis den fruchtbaren Lehm der Schöpfung freigegeben, einen Erdenkloß, dem zum Lebendigwerden nur noch der Anhauch Gottes fehlt. Keine Kamera kann das Farbenspiel des Urschlamms einfangen. In braunroten, ockergelben und lindgrünen Linien stürzen Berge den Canyon hinab. An ihren Rücken sind die Spuren des Walkens und Knetens deutlich sichtbar. Unten in den Schluchten murmelt rostfarbenes Wasser über rosige Gipsplatten. Nur laufend können wir uns in dieser Landschaft bewegen. Wer stehenbleibt, versinkt bis zu den Knien im Boden. Vor Jahrmillionen war die Arktis eisfrei. Käme heute tatsächlich ein dauerhafter weltweiter Umschwung des Klimas, hier oben wäre bereits der fruchtbare Boden für eine neue Entfaltung des Lebens gegeben. Die Arktis geht mit jedem Klimawandel kreativ um.

Auf Novaja Semlja haben russische Wissenschaftler Atomversuche durchgeführt und große Teile der Insel verstrahlt zurückgelassen. Während wir die Überreste des Winterlagers „Het Behouden Huys" von Willem Barents an der Nordspitze dieser Insel besuchen, wird weltweit gegen die geplanten französischen Atomversuche im Pazifik protestiert. Seltsame Gedanken überfallen den Reisenden. Es ist, als werde hier im Nordland bereits eine neue Schöpfung vorbereitet. Die arktische Landschaft ist weder schön, gewaltig noch erhaben, ihre Größe übersteigt alles Begreifen. Sie ist ein heiliger Raum, vor dem der Eindringling zurückschreckt. Es kommt auf den Menschen nicht an, selbst die von ihm geschaffenen Katastrophen und Zerstörungen wirken bedeutungslos vor der Erfahrung einer unergründlichen Schöpferkraft. Ulrich Schacht schreibt:

 

„Woher wir kommenbleibt unerschlossen:
Die Daten sind reine Zahl auf Papier.
Am Anfang des Lebens wird Blut vergossen;
am Ende erschrickt ein verwundetes Tier.

Auftauchen Verlöschen: Kometengewitter -
im Raum aller Spiele besiegt uns der Kreis.
Es gibt kein Gestade für jenen Ritter,
von dem unser Herz mit Gewißheit weiß.

Schweigen herrscht zwischen verlorenen Welten:
ihr Kreisen ist grundlose Trunkenheit.
Wann immer wir in unser Leben schnellten,
gewannen wir nichts und verloren die Zeit.“

 

Vor dem fünfstündigen Flug von Severnaja Semlja über das Eismeer nach Franz-Josef-Land werden die vier großen Tanks des Hubschraubers in Sredni aufgefüllt. Sredni gehört zu den Sedow-Inseln. Die Haut des Tankwartes auf der Militärstation ist vom Frost gezeichnet. Ein erfrorenes Lächeln legt die Zahnhälse und das rotbläuliche Zahnfleisch frei. Drei junge Frauen sind gekommen und blinzeln gegen die Sonne. In Sichtweite von Sredni liegt die Insel Domaschni. Hier stand in den dreißiger Jahren das Haus des russischen Arktisforschers Georgi A. Uschakov (1901-1963). Bären- und Walroßknochen liegen verstreut. Zwischen den letzten Balken des Hauses brüten die Elfenbeinmöwen. Sie gelten als Schutzengel der Arktis und Symbole der Unsterblichkeit. Sergej, der Funker, verweist auf die Schwingen der Elfenbeinmöwe, die er als Tätowierung auf dem Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger trägt. Wenn der Helikopter ins Wasser stürze, sagt er, kämen die Möwen und trügen unsere Seelen in den Himmel.

 

 

 

 Engel der Arktis

 

 

Nach zwei Stunden Flug besuchen wir den einsamsten Ort der Arktis, die verlassene Station Uschakova. Zwei Holzhäuser inmitten des Eismeeres auf einem Gletscher. Ziegelsteine sind vor einem Haus gestapelt, ein moosiger Eisbärenschädel liegt zwischen alten Zeitungen und leeren Flaschen. Heute steht er ausgekocht auf Heimo Schwilks Art-Deco-Schreibtisch in der Uckermark.

Lebensmittelreste in der Vorratskammer. Wäsche hängt noch an der Leine und ein Feuerlöscher an der Wand. Mit weißem Pinselstrich sind die Umrisse eines nackten weiblichen Körpers an die Eingangstür gemalt. Doch schon beginnt eine dicke Eisschicht den Fußboden der Häuser zu überziehen. Über dem Hauptgebäude sind noch die Funkdrähte gespannt. Doch kein Mensch sendet aus diesem Eiland Botschaften, und auch die große Antenne empfängt keine Signale mehr. Auf ihren Drähten spielt der Polarwind das Lied von Nacht und Eis. In seinem Reisebericht „Von weißen Nächten und roten Tagen“ (1934) spricht Arthur Koestler vom „Wahnsinn der Einsamkeit“ und dem „Eiskoller“. Als er die Fahrt des Zeppelins L 127 begleitete, war er soeben Mitglied der kommunistischen Partei geworden. Seinen Reisebericht wird er in der Sowjetunion veröffentlichen. Die Arktis beweise, dass der Mensch nur in der sozialistischen Gemeinschaft leben könne: „Wenn man alle Propheten des Individualismus und alle Poeten, die die Einsamkeit verherrlichen, von Nietzsche bis Rilke, zwänge, nur ein Jahr oben zu verbringen - der Individualismus würde bald ausgestorben sein.“

Franz-Joseph-Land wurde von dem böhmischen Offizier Julius Payer und dem Schiffsleutnant Karl Weyprecht aus Hessen entdeckt. Ihre Fahrt mit der „Admiral Tegethoff“ inspirierte Christoph Ransmayr zu einem Roman, den Ulrich auf seiner ersten Fahrt nach Spitzbergen (1989) las. Unser Quartier auf der Station Krenkel (Hayes-Insel) befindet sich in einem desolaten Zustand, der alles in den Schatten stellt, was wir bisher gesehen hatten. Der Namensgeber, Ernst Krenkel (1903-1971), gehörte mit Pavel Molchanov und Rudolf L. Samoilowitsch (1881-1940) zu den wissenschaftlichen Leitern des ersten Zeppelin-Fluges nach Franz-Joseph-Land. Der LZ 127 Graf Zeppelin traf in der Buchta Tichaja - Stille Bucht der Hooker-Insel - auf den Eisbrecher Malygin. Die Forschungsstation an der Stillen Bucht wurde 1959 geschlossen. Dafür wurde unser Quartier neu errichtet.

 

 

 

Bell Island

 

Dass die Geschichte der Entdeckung der Arktis auch eine Geschichte des Scheiterns ist, wird plötzlich wieder bewußt. Willem Barents starb noch bei seiner Rückkehr von Novaja Semlja an Skorbut, Otto Krisch, Maschinist der Tegetthoff, liegt auf der Wilczek-Insel begraben, auf der Rudolf-Insel, dem nördlichsten Eiland von Franz-Josef-Land, liegt das Grab des Matrosen Sigurd Myhre, daneben der Propeller und andere Teile einer Antonov-26 und die Rotorblätter von zwei Hubschraubern. Als Franz-Josef-Land in den dreißiger Jahren von der Sowjetunion besetzt wurde, versuchte man sämtliche Spuren der bisherigen Erforschung des Archipels zu beseitigen. Planmäßig wurden amerikanische und norwegische Polarstationen eingeebnet. Wie unübersichtlich und wenig kontrollierbar die Inselwelt von Franz-Josef-Land jedoch ist, zeigt die Tatsache, dass inmitten des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten auf Alexandra-Land eine Militärstation errichten konnten, die erst in den sechziger Jahren entdeckt wurde. Inzwischen hat sie ein Gletscher unter sich begraben.

Stille herrscht in der arktischen Landschaft, aber kein Schweigen. Das ruhige Gespräch beim Eisangeln ist noch in weiter Ferne zu vernehmen. Aus den Fjorden steigt das Geschrei der Möwen empor. Die Walrosse grunzen und rülpsen am Meeressaum. Wer könnte die Worte des Windes übersetzen und den Gesang der treibenden Eisberge? Wer entziffert die Frostmuster der Steine? Die eisige Stille der Arktis bricht Felsen und versteinerte Seelen auf. Nach jahrelangem Schweigen beginnt mancher Pilger wieder das Gespräch mit Gott.

 

 

 

 

Wir sind die letzten Gäste auf der nördlichsten Wetterstation der Welt. Nach unserem Besuch wird die Station geschlossen werden. Sie liegt an der Teplitzbucht unweit des Kap Germania. Hier auf der Rudolf-Insel lebt ein Ehepaar. Krapfen, Gebäck, Brot, Butter, Marmelade und Tee werden aufgedeckt. Gesang ertönt. Der Funker hat ein kleines Museum eingerichtet: Steine, Eisbärenkrallen, Überreste der Ziegler-Expedition. Die Hausfrau führt uns durchs Gebäude. Im Schlafzimmer über dem Ehebett eine Muttergottes mit Jesuskind, dann durch einen Flur mit Nahrungsvorräten vor eine Tür, hinter der sich Unglaubliches verbirgt: Leinen- und ledergebundene Bücher, Regale vom Boden bis zur Decke gefüllt. Es mögen zehntausend Bände sein. Wir versuchen, die Buchrücken zu entziffern. Alles ist in diesem Hort der Kultur zu finden. Auch Goethe in der Arktis. Seit 1995 versinkt die Station in Schnee und Eis. Einst wurden hier Saurierknochen gefunden. Vielleicht werden kommende Geschlechter eines fernes Tages die Bibliothek der Weltliteratur unter dem Eis finden.

Auf der Jackson Insel erinnert eine Gedenktafel in russischer und norwegischer Sprache an Fridtjof Nansen und Fredrik Hjalmar Johansen, die hier vor genau einhundert Jahren neun Monate in Nacht und Eis überwinterten. Nach zwei Jahren Eisdrift mit der „Fram“ („Vorwärts“) hatten sie auf 84° 4’ nördlicher Breite das Schiff verlassen, um zu Fuß den Nordpol zu erreichen. Trotz unglaublicher Willensstärke scheiterte der Versuch, und nur einem guten Geschick hatten es die beiden zu verdanken, dass sie auf ihrem Rückweg Franz-Josef-Land erreichten. Auf Jackson ist noch der Fichtenstamm zu sehen, der als Firststück für ihre Winterhütte aus Stein, Eis- und Walroßfellen diente. Neun Monate dunkle Nacht, neun Monate, in denen nichts passiert, die Gedanken nichts mehr denken und das Herz im Schweigen versinkt. Was ist der Mensch? „Nur ein Staubkorn ist er vor der Macht, die alles, was wir sehen und nicht sehen, erschaffen hat, der Macht, die von Ewigkeit her alles regiert und in Ewigkeit alles nach ihren uns unfaßbaren Gesetzen regieren wird, der Macht, die uns auf dieser Reise so oft vom Untergange errettet hat!“, notiert Hjalmar Johansen in seinem Reisebericht. Noch immer ist die Arktis ein Ort der Selbstbegegnung und der Berührung mit dem Geheimnis der Schöpfung.

 

 

 

Undine von der Lamme und Ulrich Schacht im Arbeitszimmer des Dichters

 

 

In seiner neuen schwedischen Heimat habe ich Ulrich immer wieder besucht. Das letzte Mal im Herbst 2017 mit Undine, meiner Frau. Ulrich führte uns in sein weiß gestrichenes Arbeitshaus. Es besteht aus einem großen Raum, vollgestopft mit Büchern. Eine Couch von Büchern bedeckt. Davor ein Tischchen mit einem Schachspiel. Dann zwischen Büchern eingemauert der Schreibtisch. Zur Linken an der Wand ein Bild Friedrich Schillers, eine Ikone mit der Darstellung der Ankündigung der Geburt Jesu, ein schlichtes Holzkreuz, Rubljovs Dreifaltigkeitsikone. Im Bücherregal hinter dem Schreibtisch Bilder und Postkarten: Die Sixtinische Madonna, Uta von Naumburg, Cranachs junger Luther, daneben Papst Benedikt XVI., weitere Marienbildnisse. Daneben eine grüne Postkarte mit der Bitte: „Herr, gib mir Geduld, aber zackig!“

 

 

 

Das Leben feiern

 

Am Nachmittag fahren wir mit Stefanie und Ulrich ans Meer nach Hovs Hallar. Birgit Nilsson lebte hier. Es gibt auch ein kleines Museum. Aber die Saison ist schon vorbei. Wir gehen hinunter an die Steilküste. Die stark zerklüfteten Felsen erinnern an die Steinwüste von Franz-Joseph-Land. Ulrich herzt unseren Hund Tobit und bleibt auf einem dicken Felsbrocken sitzen, während wir weiter durch das unwegsame Gelände steigen. Hier auf der Halbinsel Bjäre drehte Ingmar Bergmann im Sommer 1956 den Film „Das siebente Siegel“. In Hovs Hallar wurde die Szene aufgenommen, in der Max von Sydow mit dem Tod Schach spielt.

Fassungslos waren wir, als wir ein Jahr später die Nachricht von Ulrichs Tod erhielten. Dieser überaus vitale Bursche - so früh aus dem Leben gerissen. Viel zu früh! Es gibt sehr viele Todesarten, und jeder Mensch hat sein eigenes Urteil, seine eigenen Ängste und Hoffnungen. Viel zu früh. Ja. Aber wenn es sein muß, denke ich heute, dann möchte ich auch so gehen dürfen, allein, aber nicht einsam. Stefanie Schacht hat auf der Todesanzeige ein Photo platziert. Es zeigt Ulrich, wie immer schwarz gekleidet, in einem winterlichen Buchenwald. Mit dem rechten Arm lehnt er seinen mächtigen Leib an einen Baum. Ganz klein wirkt Ulrich in dieser Landschaft. Beigegeben hat Stefanie dieses herrliche Gedicht ihres Mannes:

 

„Manchmal gibt der Wind den
Bäumen eine Stimme: Sie flüstern sie

ächzen sie schreien vor
Schmerz. Gefährten, sagen

wir dann, und wissen: Selbst
wenn wir die letzten Stimmen

wären wir wären, noch
immer, nicht einsam.“

 

 

 

  

Forschungsstation Krenkel/Rudolf-Insel/Franz-Joseph-Land

 

*

 

Die Gedichte werden zitiert nach:
Ulrich Schacht. Platon denkt ein Gedicht. Edition Rugerup. Berlin 2015.