Eintragung ins Gästebuch des "New Afghan Restaurant“ an der Pir Baba Road:

Uwe Wolff und Mahmut Malak

(Der Bericht wurde im Sommer 1996 geschrieben.)

 


„Inschallah. Wenn Gott will, wird unsere Maschine um 8.52 Uhr in Peshawar landen!“, bekennt die Stimme aus dem Bordlautsprecher. Und wenn Gott nicht will? Der Ruf des Muezzin hatte die schlaflose Nacht beendet. In den nördlichen Gebirgsdörfern von Chitral erklingt er im vielstimmigen Widerhall ebenso wie auf den Monitoren in den schwülen Wartehallen des Flughafens von Karashi. Allah ist groß, und überall in der muslimischen Welt beugen sich vor ihm die Herzen. „Islam“ bedeutet Hingabe an den Willen Gottes. Die Rhythmen des Tages und der Woche, des Jahres und der Jahrzehnte sind auf ihn ausgerichtet. Der alte Mann auf der Landstraße nach Mingora wirft sich zum Gebet in den Staub. Neben seinem Haupt rollt die Karawane der schweren Trucks. Wenn Gott will, kommt er unter die Räder. Beim Nachmittagsgebet wird die Kreuzung zum Ort des Gebetes, denn die Moschee kann die Zahl der Frommen nicht fassen. Der Angestellte unterbricht höflich das Gespräch, entschuldigt sich und geht für fünf Minuten zum Mittagsgebet.

„Bismillahir rahmanir rahim!“ Im Namen Gottes, des gnädigen, des Barmherzigen! Mit der ersten Sure des Heiligen Koran werden die Gäste der PIA (Pakistan International Airlines) auf dem Inlandflug vom indischen Ozean zu den Ausläufern des Karakorum begrüßt. Pakistani tragen Gebetskäppchen, Pathanen einen Turban auf dem Kopf. Frauen sind züchtig verschleiert. Sie kehren von einer Hochzeitsfeier zurück, wie die hennarote Färbung von Fingerspitzen und Fußsohlen der jugendlichen Mütter und ihrer Kinder zeigt. Übermüdet quengeln die Kleinen. Gelassen kümmert sich der Vater um die Töchter seiner beiden, offensichtlich überforderten Frauen.

Im staubigen Dunst von Peshawar tauchen endlose Siedlungen aus Lehmhütten und Zelten auf. Aus der urbanen Sicht von Lahore und Islamabad gehört die Grenzstadt am Kabul-Fluß zum „Wilden Westen“ Pakistans. Nicht nur wegen der drei Millionen afghanischen Flüchtlinge, die hier zum Teil in der zweiten Generation leben. Vor ihrem Elend hat die Welt die Augen geschlossen. In Peshawar gibt es keinen Tourismus, und auch die Eroberer von Alexander dem Großen bis zur britischen Koloninalmacht haben kein dauerhaftes Reich errichten können. Bedeutende Heiligtümer aus buddhistischer, hinduistischer und muslimischer Tradition, britische Festungen und Bewässerungssysteme zeugen von der wechselvollen Geschichte. Über den Khyber-Paß ist Peshawar mit Afghanistan verbunden. Wichtiger noch sind die Pässe und Pfade über die hohen Berge nach Nuristan und in die Ebene von Ghazni.

 

 

Am Khyber-Pass

 

Die von den Engländern gezogene Grenze zwischen Indien und Afghanistan (1893) ist künstlich. Denn von Peshawar bis in den Süden zieht sich das alte Stammesgebiet (Tribal Areas) der Pathanen mit seinen über 15 Millionen Einwohnern. Ausländer dürfen es offiziell nicht betreten, Pakistani nur mit einer Einreisegenehmigung. Hier herrschen eigene, uralte Stammesgesetze und ein Ehrencode, den es unter allen Umständen zu verteidigen gilt: Gastfreundschaft (melmastia) und Sippenehre (nang), Vergeltung bei Streitigkeiten bis zur Blutrache (badal), aber auch die Pflicht, dem Gegner Gnade zu gewähren, wenn dieser Unterwerfung signalisiert (nanwatai). Pashto ist die Sprache dieser Stammesgebiete. In ihr haben Dichter wie Khushal Khan Khattak (1613-1689), Kriegerpoet der Pathanen, den geistigen und militärischen Widerstand gegen die persisch sprechenden Mogulherrscher formiert, und noch heute lebt hier der Traum vom Land Pashtunistan, in dem der Nordwesten Pakistans mit dem Osten Afghanistans vereint ist. Wie überall in der indomuslimischen Kultur ist das Englische gemeinsames Verständigungsmittel. In den Basaren der Nordwestprovinz trifft man aber auch afghanische Teppichhändler mit guten deutschen Sprachkenntnissen. Unter Mohammed Zahir Shah (1914-2007), dem letzten König von Afghanistan, herrschte ein reger bildungspolitischer Austausch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Universität Kabul. Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurden Kontakte zu ostdeutschen Universitäten (Jena) gepflegt.

Abid Zareef Khan ist Pathane, Leiter einer Privatschule und stolzer Besitzer eines 26 Jahre alten VW-Käfers. Vierspurig brandet der Verkehr durch die Stadt. Zwischen überladenen Bussen und buntbemalten Motor Rikshas trotten Eselkarren und Wasserbüffelgespanne. Man ruft sich zu, schreit, schimpft, lacht und flucht. Die linke Hand am Steuer, die rechte auf der Hupe. Überholt wird kreuz und quer wie auf dem Jahrmarkt. Die schwarzweiß gemusterten Halstücher der Männer, in der Mittagsglut zum Abtupfen des Schweißes oder Schneuzen der Nase benutzt, dienen jetzt in der Abenddämmerung als Atemschutz. Der Polizist am Straßenrand trägt eine Atemmaske. Ein apokalyptisches Szenario wie aus einem expressionistischen Gedicht. Der Feueratem des Dämons legt einen Schleier aus Staub und Abgasen über seine Braut. Durch die verschmutzten Scheiben des Wagens ist nur wenig zu sehen. Abid reißt das Steuer nach links, um einem Kameltreiber und seinen Tieren auszuweichen. Die Sonne ist untergegangen. Trotzdem fahren die meisten Fahrzeuge ohne Licht oder haben wenigstens die Rückleuchten ausgeschaltet. Man glaubt auf diese Weise die Energie der Autobatterie zu sparen. Ja, das sei sehr gefährlich, kommentiert Abid. Jeden Moment könne ein Unfall passieren - Inschallah. Bodenwellen sollen den schnellen Verkehr bremsen. Doch niemand drosselt das Tempo. Wenn der Wagen über sie springt, lacht Abid; „German car is good for jumping!“ Und er zeigt stolz auf die Mitte des Lenkrades mit den Symbolen „Wolf“ und „Burg“.

Zwei Engel wolle er mir vorstellen, hatte Abid gesagt. An der großen Straße Nummer 5 nach Jalalabad rasten die Truckfahrer, wenn sie den Khyber-Paß glücklich passiert haben. Das typische Restaurant besteht hier aus einem großen offenen Raum ohne Mobilar. Mit dem Verzehr einer Mahlzeit erwirbt sich der Gast zugleich das Recht, auf einer der nackten Holzpritschen übernachten zu dürfen. Fünfzig Fernfahrer liegen nebeneinander ausgestreckt, richten ihre Blicke auf einen Fernsehapparat und genießen den Frieden Allahas. „Salam aley kum!“ Morgen schon können sie auf der Fahrt nach Kabul zwischen die Fronten geraten. Gekocht wird vor dem Restaurant. Aus einem Topf schöpft der Wirt Reis und füllt ihn in eine Plastiktüte. Scharfgewürztes Fleisch gibt er auf ein Schälchen. Der Bäcker holt aus dem Feuerloch im Boden nacheinander sechs runde Fladenbrote. Sie sind Grundnahrungsmittel und ersetzen als Esshilfe den Gebrauch von Messer und Gabel.

 

 

 

Swat Valley

 

Straße und Basar gehören zur Welt des Mannes. Hier geschieht alles öffentlich: die fromme Bezeugung des Glaubens wie die Geschäfte des Geldwechslers, das Ausweiden der Schlachttiere und das Mahlen der Gewürze. Der Dentist kramt in alten Gebissen und sucht für seinen Kunden einen passenden Zahnersatz, der Messerverkäufer demonstriert an einem Eisenpfahl die Schärfe der Schneide aus russischem Raketenstahl. Am Straßenrand arbeitet der Friseur, und der Schuster flickt einen Koffer. Aus der Presse fließt der Saft des Zuckerrohrs, während nebenan drei Männer hocken und in den Abwasserkanal urinieren. Hinter dem Schleier und der Haustür verborgen liegt die Welt der Frau. Hier legt sie den Chaddar ab. Er bedeckt bei Bedarf ihr Haupt und das Gesicht. Den Ganzschleier des Burqa mit der vergitterten Öffnung für die Augen wirft sie in glücklichen Augenblicken als Liebeszelt über das Haupt des Geliebten. Die Frau des Teppichhändlers stillt den Säugling in Gegenwart des Gastes. Wer es sich leisten kann, setzt auf sein Haus eine Dachterrasse mit hohen Mauern, damit die Frauen und Töchter den Blicken der männlichen Öffentlichkeit entzogen im Freien wandeln können. Auch wir sind im inneren Bezirk angekommen. „Meine Engel!“, sagt Abid. Dass die beiden Lehrerinnen dem Orden der Benediktiner angehören, ist ihnen äußerlich nicht anzusehen. Durch päpstlichen Dispens ist es auch ihnen erlaubt, Schleier und Ordensgewand abzulegen. Christen in Afghanistan und Pakistan führen ein Leben im Verborgenen.

Abid verteilt das Essen und schenkt Cola ein. Für östliche Technik und westliche Konsumgüter gibt es keine kulturellen, nationalen oder religiösen Grenzen. Noch in den letzten Dörfern des Karakorum und des Hindukusch steht neben der Moschee eine Werbung für Pepsi-Cola, und der afghanische Geschäftsmann hält beim Überqueren der Straße in der einen Hand das Handy, in der anderen seine Frau in der blauen Burqa. In Pakistan herrscht striktes Alkoholverbot. Weder in den Duty-Free Läden der Flughäfen noch in den Bars der großen Hotels ist er erhältlich. Doch hinter dem Schleier sind nicht nur schöne Frauen verborgen. Plötzlich steht eine Flasche Whiskey auf dem Tisch. Auch Abids Engel sprechen ihm zu, allerdings nicht ohne vor der Mahlzeit nach katholischem Brauch gebetet zu haben.

Den Genuß von Alkohol hatte der Prophet Muhammed (570-632) untersagt, nicht aber das Rauchen von Drogen. Deshalb begrüßen uns die Sufis beim Schrein des Chishti-Mystikers Abdur Rachman (1653-1711) mit einem Klümpchen schwarzen Afghanen. Es ist Donnerstagnacht. Bald beginnt Juma, der islamische Feiertag. Grund, durch Tanz und Musik in den Gesang der unsichtbaren Welt der Engel (jinn) einzustimmen. Nicht nur Perlen und weibliche Anmut weiß der Islam durch einen Schleier vor unberufenen Blicken zu schützen. Sag’ es niemand, nur dem Weisen: Denn wer wird dem biederen Frommen in der Moschee verraten, dass auch Gesang und Tanz ein Gebet sind? Der Mullah pocht auf den arabischen Urtext des Koran, der Mystiker aber sieht das Geheimnis Gottes auch in der Mitte der Rosenblüte und im aufsteigenden Duft des cardamomgewürzten Tees. Das Sichtbare kann dem Weisen Gleichnis des Unsichtbaren werden. Der Unwissende sieht nur den breiten Graben zwischen der westlichen und indomuslimischen Kultur. Der Wissende aber hört hinter den verschleierten Gottesbräuten Judentum, Christentum und Islam das gleiche Herz der Gottessehnsucht schlagen.

 

„Wer könnte wohl den Menschen Glauben geben?
Er schenkt den Glauben jedem Gläubigen.
Wer könnt’ zum Himmel von der Erde steigen?
Die Möglichkeit dazu gab Jesu Er.
Wer könnte sich mit Gott wohl unterreden?
Doch damit hat Er Moses hoch geehrt.“

 

Wenn der letzte Schleier fällt, was bleibt anderes als die Liebe? Von ihr sang Abdur Rachman, den die Pathanen zärtlich Baba (Vater) nennen. Ihm gehören diese Nacht und der kommende Tag. Südwestlich von Peshawar, inmitten eines riesigen Gräberfeldes, liegt sein neu restaurierter Schrein. Die Straße zum Heiligtum gilt als äußerst gefährlich, denn sie führt durch eine Region, in der Mörder, entflohene Häftlinge und Diebesgesindel ihr Unwesen treiben. Jederzeit könnten sie uns auf den unbeleuchteten Straßen durch eine Straßensperre stoppen, kommentiert Abid.

 

 

 

 Eine Welt hinter dem Schleier

 

Ohne Gottes Willen erreicht niemand sein Ziel. Wer hier ankommt, kann kein Fremder sein, gleichgültig, welche Sprache er spricht und in welchem Winkel der Erde er geboren wurde. Gott ist einer, und diese Welt ist eine. Deshalb begrüßt uns der Wächter vor dem umzäunten Heiligtum als Freunde und führt uns über den dunklen Pfad dem Gesang entgegen.

 

„Vor Ihm wirft sich die Erde betend nieder,
Der Himmel beugt sich im Gebet vor ihm.
Anbetend steht vor Ihm der Baum im Walde,
Ein jedes Gras ist Zunge seine Lobes.
In Seinem Lobpreis sind beständig alle,
Ob’s Engel sind, ob Geister, ob der Mensch.
Sein Lob verkündet jeder Fisch im Wasser,
Im Hain singt jeder Vogel seinen Preis.“

 

Auf einem überdachten Platz in der Mitte des Gartens sitzt der alte Sänger. Er hält die Augen geschlossen, denn die zweizeiligen Pashtoverse (landay) des litaneiartigen Gesanges (qawwali) stehen in seiner Seele geschrieben. Die königsblaue Farbe von Umhang und Turban kennzeichnen seinen Rang. Drei Musikanten begleiten ihn mit Schlaginstrumenten: einer Art Bongo und einer umgedrehten Waschschüssel, der schwebende Rhythmen entlockt werden. Im Sprechgesang rezitiert der Alte Rachman Babas Gottespoesie, seine Schüler wiederholen die Worte im schöpferischen Widerhall. So wurden durch Jahrtausende die großen religiösen Dichtungen der Menschheit von den Upanischaden bis zum Enuma Elisch tradiert, so memorieren Pakistans Kinder noch heute die arabischen Suren, die Muhammed einst aus dem Mund des Engels Gabriel vernahm. Das gesprochene Wort weist über die inhaltlichen Aussagen hinaus. Religiöse Sprache ist Magie. Deshalb wird auch der Gast vom Gesang des Alten ergriffen. Seine Schüler umgeben ihn in Kreisen. Unter ihnen Gesichter mit auffällig heller Hautfarbe. Die Verwandtschaft mit den Völkern Nordeuropas wird in Pashtunistan gerne betont. Die Jungen begleiten den Meister mit rhythmischem Händeklatschen. Zuweilen blitzt der Griff eines Revolvers unter ihren Gewändern hervor. Pathanen sind Waffenliebhaber. In Bannu, Kohat und besonders in Darra Adam Khel baut der Büchsenmacher innerhalb einer Woche jedes gewünschte Objekt nach. Auf Holzpritschen in der Hütte nebenan ruhen die Alten. Auch hier in der Küche (langar), die nach altem Brauch jedem Gast offensteht, ist die Luft vom süßlichen Duft des Rauschgiftes geschwängert. Tee kreist. Der Fremde wird eingeladen, in den innersten Kreis zu treten. Er legt die rechte Hand auf die Brust und bekundet mit leicht angedeuteter Verbeugung seinen Dank für die Ehre.

 

„Im Namen meines Gottes will ich singen“

 

Jeden Tag rufe Rachman Baba seine Seele, bekennt der fünfundsiebzig Jahre alte Sänger Painda Khan. Solle er zwei Tage hintereinander nicht an diesem Ort erscheinen, mögen die Freunde zu ihm auf den Hof kommen, denn er sei dann gewiß bettlägerig. Da aber die Nähe eines Heiligen Gesundheit an Seele und Leib schenkt, war Painda Khan noch nie krank gewesen. Das Rad des Pfaus ist Symbol der Ganzheit, der Einheit in der Vielfalt der Farben und Formen. Muhammeds Pferd Buraq trug einen Pfauenschweif. „Pfau“ nannte sich ein Jünger Rachman Babas. Vor dem Betreten des umzäunten Grabes zieht der Besucher wie in einer Moschee die Schuhe aus und legt sie mit den Sohlen aneinander. Eine Almosenbüchse erinnert an die heilige Pflicht (zakat). Oben im hohen Baum über dem Grab wacht ein echter Pfau. Die Seele des Verstorbenen sei in ihm, heißt es.

 

 

Mädchen in Saidu-Sharif

 

In Saidu-Sharif (Swat-Tal), nordwestlich von Peshawar, wird Hochzeit gefeiert. Ob im Flugzeug oder Hotel: die Reste der Mahlzeit werden auf den Teppichboden geworfen. Dieses Hochzeitsbankett muß üppig und die Gesellschaft sehr zufrieden gewesen sein, wie die zahlreichen Speisereste auf dem Boden des Hotel Royal Palace signalisieren. Jetzt bewegen sich zwei Tänzerinnen lasziv im Kreis der Männer. Bleiben sie mit kreisenden Hüftbewegungen vor einem stehen, darf dieser mit Hilfe seiner Freunde einen Tanz „kaufen“. Aus dicken Bündeln lassen sie Geldscheine über dem Kopf der Frau regnen. Wenn diese Bereitschaft signalisiert, springt der Mann von seinem Sitzplatz auf. Die anderen begleiten das Geschehen mit schrillen Lustschreien und Klatschen. Allah ist ein sittenstrenger Gott. Doch hier bricht noch einmal uraltes Erbe hervor. Ischtar läßt die Männer tanzen, und der Bräutigam folgt ihren Reizen mit eindeutiger Bewegung des Unterleibes.

Die Pubertät fordert strikte Geschlechtertrennung. Das Mädchen verschwindet hinter dem Schleier. Anders als bei Kindern und Männern gilt das Photographieren von Frauen als obszön. Deshalb hat der Tanz im grellen Scheinwerferlicht der Videokamera einen besonderen Reiz. Die Inszenierung ist nicht ohne symbolische Funktion: Hier die Huren mit langem offenen Haar und nacktem Bauch, dort im separierten Raum die weiblichen Hochzeitsgäste mit der Jungfrau. Die Mädchen hatten meine Begleiterin in ihren Kreis gezogen, um sie der Braut vorzustellen. Alle sind neugierig, auch die Braut. Doch sie weiß, dass sie an diesem Tag schamvoll die Augen niederzuschlagen hat. Die Kontrastierung von Heiliger und Hure ist ein beliebtes Klischee des Unterhaltungsfilms. Der Mann steht im Konflikt zwischen einer züchtig im Burqa gekleideten Frau zu seiner Rechten und einer europäischen Frau, freizügig gekleidet, einer Flasche Bier in der Hand und einer Zigarette im Mundwinkel.

Einförmiger Sprechgesang dringt aus der Schule von Islampur. Die Jungen sitzen auf der Dachterrasse, andere werden auf freiem Feld unterrichtet. Der Lehrer schreibt an die Tafel: „The teachers are clever.“ Einige Jungen gehen nicht zur Schule. Sie arbeiten in den Webereien. Auffallend viele Mädchen laufen auf der Straße herum und betreuen ihre kleinen Geschwister. Gewiß, es gäbe auch eine Mädchenschule in Islampur, beruhigt uns der Weber. Beim Rundgang durch sein Dorf führt er uns in Handwerksbetriebe und signalisiert, wenn ein Blick tabu ist. Unvermittelt bleibt er stehen und deutet auf ein Gebäude. Dort liege die Mädchenschule. Deshalb sei hier für Männer der Weg zu Ende. Angesprochen auf seine familiären Verhältnisse, erzählt er von seiner zukünftigen Frau. In vier Wochen werde Hochzeit sein. Sein Vater habe die Braut ausgesucht. „Ist sie schön?“ Er lächelt. „Besitzt Du ein Photo von ihr?“ Erneut lächelt er. „Kennst Du Deine Braut?“ Jetzt antwortet der Weber. Ja, er habe sie einmal im Alter von vier Jahren gesehen. Dann zeigt er uns stolz den Rohbau der neuen Moschee, den seine Familie finanziert hat.

 

 

Lernen ohne Bücher, ohne Tafel und Kreide

 

Zwischen Moslems und Hindus gibt es auch nach der Unabhängigkeit Pakistans von Indien (14. August 1947) noch Spannungen. Unserem muslimischen Freund Mohammed wird der Eintritt in den Sikh-Tempel Gor Khati von Peshawar verweigert. Wir als Christen dagegen sind hier ebenso willkommen wie in der Mahabat Khan Moschee, wo dem Hindu als „Ungläubigen“ der Zutritt versagt bleibt. Das reiche buddhistische Erbe dieser Region wurde dank umfangreicher japanischer Hilfe restauriert und vor Dieben geschützt. In Shahbaz Garhi, so wird erzählt, lebten einst Buddha in der Gestalt des Prinzen Visvantaras und der weiße Elefant Chanaka Dheri, der die Fähigkeit des Regenmachens besaß. Hier sind die weltberühmten Edikte des buddhistischen Königs Ashoka (272-231 v.Chr.) in der alten Gandhara-Schrift Kharoshti in Stein gemeißelt, eine frühe Magna Carta des Humanismus. Sie fordern zu religiöser Toleranz, Achtsamkeit vor allem Lebendigen, Pilgertum und Armenfürsorge auf.

 

 

Im Restaurant bei Takht-i-Bahi

 

Unweit der Ashoka-Inschriften liegen Überreste des buddhistischen Klosterkomplexes von But-Kara und die Tempelanlage von Takht-i-Bahi, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. Mohammed führt uns durch den Innenhof mit seinen 35 Stupas und über 30 Bodhisattva-Kapellen. Ein Arbeiter bietet kleine antik aufbereitete Buddhastatuen zum Verkauf an. Über den Hang steigen wir auf den Berggipfel. In der Ebene liegen die Lager von Peshawar und fern am Horizont Afghanistan, das Land, aus dem man flüchtet. Ein Vers von Khushhal Khan Khatak geht mir durch den Kopf: „Ich habe Hunde, Wölfe hier gesehen!“ Achtsamkeit vor dem Leben lautete Buddhas oberstes Gebot. Sie gilt auch dem Brudertier im zerbombten Zoo von Kabul: den von Schrapnell-Kugeln zerfetzten indischen Elefanten, dem Löwen, der durch die Explosion einer Handgranate erblindete und nun statt Fleisch Reis und Karotteneintopf zu fressen bekommt.

Von der Militärbasis in Peshawar hatten wir in vielen Nächten den Start von Flugzeugen verfolgen können. Es hieß, sie dienten der Versorgung der Taliban, jener verlorenen Generation von Kindern des heiligen Krieges (jehad), die nun nach der Macht griffen. Im amerikanischen Club von Peshawar, dem zentralen Treffpunkt von Vertretern der Hilfskommitees aus aller Welt, hieß es, Pakistan und die USA unterstützten sie. Pakistan trage die Hauptlast der Flüchtlinge und müsse daher ein Interesse an der baldigen Beendigung des Krieges haben. Die USA sähen in den Taliban als sunnitischen Muslimen einen Widerpart zum schiitischen Iran. Vor allen Dingen seien sie an den Bodenschätzen im Norden des Landes interessiert. Zudem gelte Afghanistan als eines der großen Drogenanbaugebiete (Vakhan) Asiens und als Kaderschmiede des Weltterrorismus. Ramzi Yusuf, der einen Terroranschlag auf das World Trade Centre in New York ausgeübt hatte, sei hier ausgebildet worden. Als ich Mohammed nach seiner Beurteilung der politischen Lage frage, zählt er die wechselnden Führer seit dem Einmarsch der Roten Armee (27. Dezember 1979) bis zum Sturz der Regierung von Burhanuddin Rabbani (27. September 1996) auf: Hafizullah Amin, Babrak Kamal, Najibullah, Rabbani, Mulla Muhammad Umar. Der 27. sei ein Schicksalstag in der blutigen Geschichte Afghanistans. Doch habe König Amanullah Khari am 27. Juli 1919 auch die Unabhängigkeit von den Briten erreicht. Mehr sagt er nicht.

Mohammeds Freunde wohnen im Universitätsviertel von Peshawar. Sie kommen aus Norwegen, der Schweiz, aus England oder Australien. Ihre Kinder besuchen die kleine internationale Schule. Vor das bewachte Grundstück dürfen sie keinen Schritt alleine gehen. Im Schlafzimmer der Kinder hängen Photographien von Koalas, Känguruhs und dem Münsterländer Jagdhund. Daneben ein Bild, das ihre Mutter mit dem Dalai Lama zeigt. Die Schüsse in der Nacht hören sie nicht mehr. Wenn ihre Mutter nach einem Einsatz in Afghanistan wiederkommt, ist sie von Wut, Trauer und Ohnmachtsgefühlen erfüllt. Im Kreis der Familie und der Freunde gewinnt sie neuen Mut. Für die Kinder sind die Tage, wo ihre Mutter jenseits der Grenze arbeitet, von großer innerer Anspannung. Die unzähligen Minen aus russischer Besatzungszeit sind noch nicht weggeräumt. Täglich fallen ihnen Afghanistans Kinder zum Opfer. Kann man die Sorge um das eigene Leben ablegen? Darf aus Liebe das Leben gewagt werden? Das Grenzland ist eine Schule des Lebens. Dass der Mensch inmitten einer heillosen Welt Freundschaft, Vertrauen, Liebe schenken und erfahren kann, wenn er in der Dunkelheit ein Licht anzündet, lernen die Kinder hier. Ihre Mutter erzählt von einem einsamen Spaziergang am Rande eines afghanischen Dorfes. Nach der Rückkehr habe ihr Fahrer, der auch für ihre Sicherheit verantwortlich ist, gesagt, sie sei soeben über ein Minenfeld gelaufen. „Aber keine Sorge. Sie explodieren nur bei Panzern!“

 

 

Gastfreundschaft in einem afghanischen Lager

 

Auch Mohammed vertraut man sein Leben bedingungslos an. Beim Abstieg vom Klosterberg von Takht-i-Bahai singt er fröhliche Lieder aus Badakhshan. Sadat fährt uns zum Fluß. Bei einer kleinen Bootsfahrt kühlen wir die staubigen Füße im Wasser. Vorbei geht die Fahrt an einem Lager. Die Kinder winken und rufen Mohammeds Namen. Seit fünfzehn Jahren wohnen Mitglieder seiner Familie hier. Seine Frau lebe noch in der Nähe von Nangarhar. Weiter oben am Fluß reinigt ein Bauer seinen Traktor. Anschließend füllt er den Wassertank, seift seinen Körper ein und wäscht sich die Haare. Kinder springen vom Rücken der Wasserbüffel ins erfrischende Naß. Mohammed knackt Mandeln zwischen seinen Zähnen. In der Bude am Ufer genießen wir den würzigen Fisch. Dann geht es über den Ambela und Buner Paß durch unwegsame Mondlandschaft wieder ins Gebirge. Wasserfälle haben weite Teile der Straße weggespült. Immer wieder setzt der Wagen auf. Mohammed klatscht beim Vorbeifahren einer Kuh auf den Rücken. Die wehrt sich mit den Hinterläufen und schlägt eine Beule in den Wagen. Sadat lacht.

Das Wesen des Heiligen ist Freundschaft, wie das Wort „wali“ andeutet. Es bedeutet zugleich „Heiliger“ und „Freund“. Deshalb suchen die Pilger bei einem Besuch des Grabmales (mazar) von Pir Baba den freundschaftlichen Zuspruch und konkrete Hilfe bei körperlichen Gebrechen und Unfruchtbarkeit. Wie „Baba“ ist auch „Pir“ (der Alte) Ehrentitel eines Sufiheiligen. Sayyid Ali Shah von Tarmez, genannt Pir Baba, ist Nachkomme des Propheten und zugleich Pashtunistans größter Heiliger. Der aufsteigende Pfad zu seinem Schrein führt an Verkaufsständen mit allerlei Trödelkram vorbei. Unten im Bach wird ein Kleintransporter gereinigt. Anschließend wirbt der Fahrer durch vielstimmiges Hupkonzert um Kunden. Wir haben die Schuhe abgelegt, Füße, Arme und Gesicht bei der großen Waschanlage im Zentrum der Moschee gereinigt. Mohammed verabschiedet sich zum Gebet. Ohne Opferbereitschaft gibt es keine Annäherung an das Heilige. So schreibt das Ritual den Tausch von Scheinen in Opfermünzen vor. Wir erhalten zwei Säckchen voller Münzen. Hinter dem Geldwechsler öffnet sich unter einem Torbogen der letzte Aufstieg zum Schrein des Pir Baba.

Auf einer überdachten Mauer sitzen Bettler mit leprös verkrüppelten Gliedmaßen und entstellten Gesichtszügen. Einige fordern lautstark das Geldopfer ein, andere blicken den Fremden demutsvoll an. Zur rechten des Pilgerpfades befinden sich kleine Verkaufsstände mit Parfümfläschchen und pulverisierter Holzkohle, die, als Lidstrich verwendet, Zeichen der Pilgerschaft ist. Wir geben reichlich, doch einige schreien: „Gib mehr!“ Besorgt richtet sich der Blick nach oben. Werden die Almosen für den Rückweg reichen? Das Heiligtum besteht aus einem weiten, beinahe leeren Raum. Ein Bild der Sammlung und des Friedens. Mütter mit ihren Kindern haben sich auf dem blanken Fußboden niedergelassen. In der Mitte des hohen Raumes, von einem Gitterzaun geschützt, stehen die Schreine von Pir Baba und seinem Sohn. Einzeln treten die Pilger hier ein. Väter heben ihre Söhne hoch, damit sie den Schrein des Heiligen küssen können. Über dem Grabmahl hängt ein Bild von dem zentralen Heiligtum der Muslime, der Kaaba. Die Wallfahrt (hadsch) nach Mekka gehört zu den heiligen Pflichten des Muslim. Dem Wissenden aber deutet das Bild ein Geheimnis an: Auch hier ist Mekka, und die Kaaba liegt in jedem Herzen, das sich zu Gott bekehrt. Ein Pilger verteilt rosagefärbtes Fettgebäck. Süß ist der Friede Allahs. Dann folgt der Abstieg an den Krüppeln vorbei. „Gib mehr!“ rufen sie. Das Geld ist ausgegangen. Der Geldwechsler nimmt ein winziges Holzstäbchen und will mir das Zeichen der Pilgerschaft auftragen. Erst beuge ich mich vor, zucke aber bei der ersten Berührung meines rechten Augenlides zurück.

Auf der Rückfahrt machen wir Rast bei Adul‘rahim im „New Afghan Restaurant“ an der Pir Baba Road. Der Wirt reicht mir das Gästebuch und bittet mich, meine Adresse einzutragen und ein Photo von ihm zu machen. Was ich ihm schulde, frage ich den Wirt. Nichts, sagt Abdul‘rahim und legt die rechte Hand auf seine Brust. „Salaam alay kum!“ sage ich zum Abschied. „Waalay kum as salaam! Nächstes Jahr in Afghanistan!“ entgegnet er und nimmt mich in die Arme. Inschallah!

 

 

 

Hinweis: Ich danke Annemarie Schimmel für die Erlaubnis, aus ihrem Werk „Nimm eine Rose und nenne sie Lieder. Poesie der islamischen Völker“ (1987) zu zitieren.