"Nur ein Stück blaues Meer möcht ich nun, nur ein Nadelöhr Meer!"

Ossip Mandelstam (übersetzt von Ralph Dutli)

 

 

Ein Jahr leben wie die Meerjungfrauen. Das ist Undines Wunsch. Die Uhr ablegen. Keine Klassenarbeiten korrigieren, keine Disziplinarkonferenzen leiten, keine Elterngespräche über den Nachteilsausgleich führen, keine Schulbegleiter in ihre Arbeit einweisen. Raus aus der Zeit in die kleine Ewigkeit! Ein Sabbatjahr im Land der kleinen Meerjungfrau und eine Reise durch Småland. Nicht mit dem Flugzeug in ferne Länder reisen und die arme Erde noch mehr belasten. Einfach untertauchen in einem roten Haus am Meer und durch die weißen Sprossenfenster auf die Dünen schauen. Nixenzeit genießen. In der Nordsee schwimmen oder in einem einsamen See in den Wäldern.

 

Ein Sabbat-Jahr ist ein Tropfen aus dem Meer der Ewigkeit. Wir sind auf dem Weg nach Lønstrup. Der kleine Badeort liegt im nördlichsten Teil von Dänemark. Hier an der Jammerbucht machten die Eltern mit uns vier Kindern Urlaub.

 

„Wann war das?“, fragt Undine.

„Vor fünfzig Jahren,“ antworte ich, „und ist doch wie gestern.“

„Das Geheimnis der Zeit“, lächelt Undine. „Meerjungfrauen haben Meer-Zeit. Sie werden älter als die Walfische. 300 Jahre, 400 Jahre - niemand weiss es genau. Aber diese Lebenszeit reicht ihnen noch nicht. Sie wollen leben und lieben im ewigen Sabbat.“

 

Das sind schöne Aussichten auf kommende Zeiten, denke ich. Wir stehen irgendwo am Rande der Lüneburger Heide im ersten Stau auf der A7. Wir müssen nicht heute und nicht morgen an unserem Ziel ankommen. Wir haben Zeit und verplaudern sie mit Geschichten von gestern.

 

Der Vater besaß einen Ford Taunus 17m. Die sogenannte Badewanne ohne Kopfstützen, Kindersitze und Sicherheitsgurte war großräumig, aber zu klein für vier Kinder, Bettwäsche, Handtücher, Lebensmittel, das grüne Metzler-Schlauchboot, Paddel, verschiedene Schwimmhilfen und Sommerkleidung. So wurde ich als Ältester mit Bruder Volker am Münsteraner Bahnhof in den Zug gesetzt. Der Rest der Familie fuhr mit dem Vater die 800 Kilometer zum Bahnhof der kleinen Stadt Hjørring nördlich von Aalborg. Hier sollen wir uns treffen.

 

Wir nähern uns Hamburg. Eine Röhre im Elbtunnel ist gesperrt. Vor den anderen staut sich der Verkehr viele Kilometer. Wir sind im Sabbatjahr. Wir müssen nicht durch dieses Nadelöhr in den Norden fahren. Während ich mit Tobit und Undine irgendwo bei Finkenwerder auf die Elbe schaue, erzähle ich vom Mut des Vaters und seiner schier unerschöpflichen Energie. Aber auch von dem Zutrauen, das der Eisenbahner in die Fahrpläne der Deutschen und Dänischen Bahnen hatte - und in seine beiden ältesten Söhne. Der Vater hatte Lønstrup als neues Ferienziel entdeckt. Der jütländische Tourismusverband verschickte kleine Handtücher in den Farben des Dannebrogs mit der Einladung zum Hygge-Sein:

 

"Sei froh in Dänemark!"

 

 

Völlig hygge sprangen wir mit dänischen Kindern von der hohen Steilküste in den Sand, nicht ahnend, welchen Frevel wir begingen. Denn ein Jahrzehnt später musste die Küste wegen der Folgen unserer Sprünge mit schweren Granitbrocken aus Norwegen befestigt werden, erzähle ich Undine. Sie meint, ich übertreibe maßlos. Da hat sie recht. Denn es war die große Sturmflut des Jahres 1981, die die Küste der Kindheit und Jugendzeit verändern sollte.

 

Der Ort verdankt seine Beliebtheit einer weiteren Katastrophe. Nordsee ist Mordsee: 1877 rauschte und schwoll der Lønstruper Bach zu einem reißenden Strom und spülte mehrere Häuser in die Nordsee. Die Naturkatastrophe machte Lønstrup in ganz Dänemark bekannt und kurbelte die Tourismusindustrie kräftig an, wie es oft geschieht, dass ein Unglück zum Wegbereiter neuen Glücks wird. Seit alters her wird die Küste im Nordosten Jütlands Jammerbucht genannt, nach den vielen Schiffsunglücken auf See und den Strandungen. Einen Schiffbruch zu erleben, ist fürchterlich. Zuschauer eines Schiffbruchs zu sein, ist eine ganz andere Sache, wie die Geschichte der Plünderungen von Wracks zeigt. Nichts begeistert den Müßiggänger am Strand mehr als eine angeschwemmte Kiste mit fremdem Gut.

 

An der Steilküste bei Lønstrup entstand im Jahr 1946 eine große Siedlung für deutsche Flüchtlinge aus dem Osten. Die Siegermächte hatten die Regierung in Kopenhagen zum Bau von kleinen Holzhäusern aufgefordert. Dänemark sagte unter der Bedingung zu, die aus Schweden importierten Waldarbeiterhäuser nach dem Abzug der Flüchtlinge als Touristenunterkünfte nutzen zu dürfen. Flüchtlinge kurbeln die Wirtschaft und nachhaltiges Bauen an. Schon 1949 setzte die touristische Nutzung ein. In einem dieser Häuser mit fließend kaltem Wasser und Außendusche verbrachten wir den ersten dänischen Sommerurlaub.

 

Die Zeitspanne, die der Vater brauchte, um vor unserer Ankunft den Bahnhof von Hjørring zu erreichen, verbringe wir im Alten Land. Im Energiesparmodus fahren wir gemütlich durch blühende Apfelbaum-Plantagen. Wer sagt, es gäbe zum Elbtunnel keine Alternative! Zwischen weidenden Schafen sitzen wir auf einer Bank und schauen der Elbe zu, wie sie ruhig dem Meer entgegen strömt. Wie wunderbar leicht wird doch das Leben, wenn man die Willenskräfte fließen lässt.

 

Undine beschließt, dass Tobit Durst hat. Ich nehme den kleinen Pfad zur Elbe. Die Gezeiten machen sich bemerkbar. Die Ebbe hat den schlammigen Uferstreifen freigelegt. Tobit freut sich auf eine Moorpackung, aber ich möchte den schmutzigen Hund anschließend nicht durchs Alte Land kutschieren und suche nach einer Alternative. Wir haben vergessen, eine Flasche des weichen Bad Salzdetfurther Wassers für Tobit abzufüllen. Es geht auch ohne. Auf der anderen Seite der Straße befindet sich ein Graben. Ein Straßenarbeiter schneidet mit der Motorsense die Böschung. Er hält inne, damit ich den Blechnapf füllen kann.

 

„Im Knast sitzen, wo andere Urlaub machen!“, sagt der Mann. Ich bin verwirrt. Der Arbeiter mit der orangefarbenen Sicherheitskleidung weist auf den Deich. Ich überquere wieder die Straße und sehe ein Schild „Justizvollzugsanstalt Hahnöversand“.

 

„Wusstest Du, dass hinter dem Deich ein Gefängnis liegt?“, frage ich Undine.

 

Während Tobit begeistert den Napf mit brackigem Wasser leert, sagt die Deutschlehrerin:

 

„Aber natürlich! Hast Du nicht den Roman ‚Die Deutschstunde‘ von Siegfried Lenz gelesen?“

 

Undine weiß genau, dass ich nichts von Lenz gelesen habe, nur aus erotischer Neugierde die späte Liebesgeschichte zwischen einer reifen Lehrerin und ihrem Schüler, an die ich jetzt denke, deren Titel mir aber nicht einfällt. Bei Geschichten von Liebenden mit grossem Altersunterschied spitze ich immer die Ohren.

 

Die Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche in Lenz’ Roman ist der Halbinsel Hahnöversand nachempfunden. Seit 1913 wird sie als Gefängnisinsel genutzt. Es soll auf dem Gelände auch ein Museum geben und eine Grablege für russische Kriegsgefangene, die hier an den Folge eine Seuche starben.

 

Ein weiterer Roman spiele auf den Inseln in der Elbe, sagt Undine und nennt den Namen des Schriftstellers Uwe Timm.

 

„Doch nicht Rennschwein Rudi Rüssel!“, rufe ich.

 

„Nein“, sagt Undine. „Der Schatz auf Pagensand.“

 

Wir steigen in unseren Wagen und fahren nach Wischhafen. Wieder wird uns durch einen Stau viel Zeit geschenkt. Reisende mit Hund verlassen ihre Wagen und promenieren auf dem Fahrradweg. Tobit und ich folgen ihnen. Drei Rüden verbeißen sich ineinander. Offenbar gibt es Streitigkeiten um einen Stock. Tobit taucht seine Nase tief in ein Grasbüschel und schleckt sich anschließend die Schnauze. Kein Wunder, dass er seit Wochen unter Schnupfen leidet. Fröhlich winkende Urlauber radeln an uns vorbei. Ich setze mich wieder in unseren Wagen und greife zu einem modernen Sprachführer mit dem Reihentitel „Kauderwelsch plus“.

 

Auf der ersten Innenseite befindet sich ein Bild der kleinen Meerjungfrau. Ihr Gesicht ist so schwarz, als käme die Ikone aus einem der ehemaligen Missionsgebiete der dänisch-hallensischen Mission. Ich blättere hin, ich blättere her und lande bei dem Sprach-Quicky „Flirt, Liebe & Co.“ Genau die richtige Zerstreuung. Von der Aufforderung zum Tanz bis zum One-Night-Stand sind die elementaren Phrasen mit Aussprachehilfe zu finden.

 

„Höre mal“, sage ich zu Undine, „was ist was: flirte, elske, kysse og kramme, bolle med dig?“

 

Undine reagiert wie immer auf Anzüglichkeiten: Ganz Lehrerin lenkt sie durch eine Frage ab:

 

„Hast du einmal versucht, Dänisch zu lernen?“

 

„Ich hatte es vergessen. Ein Kurs „Dänisch für Anfänger“ am Institut für Nordistik der Universität Münster. Zuerst hatte ich mir ein Langenscheidt Wörterbuch gekauft, dann das empfohlene Lesebuch.“

 

„Wie weit bist du gekommen?“

 

„Bis zur ersten Lektion. Nach einer Stunde gab ich den Versuch, Dänisch zu lernen, auf.“

 

Undine glaubt, ich scherze. Ich erkläre mich also. Doch zuerst darf ich den Motor anwerfen und zehn Meter weiter fahren. Mit meinem Versuch Dänisch zu lernen, verhielt es sich so: Der junge dänische Dozent blickte auf unsere Gruppe von vier Personen und sprach offen seine Verwunderung aus, dass wir nicht Schwedisch oder Norwegisch lernen wollten. Dänisch, sagte er, klinge doch immer so, als rede ein Besoffener. Dann ließ er uns einzeln nachsprechen: Piskefløde, Flødeboller und Rødegrød med fløde. Zum Abschluss der ersten und letzten Sitzung gab er uns noch eine Empfehlung. Wir sollten es einmal mit Aalborg Jubiläums Akvavit versuchen. Das sei die sicherste Methode, Dänisch zu lernen: „Zuerst einen Akvavit kippen, dann eine warme Kartoffel im Mund halten - und schon redet ihr wie die Dänen.“

 

Wir befinden uns auf der Fähre. Vor uns liegen Pagensand und die kleine Inselwelt der Elbe. Der Kapitän steuert sein Schiff sicher durch die Sandbänke. Dann fahren wir an Itzehoe vorbei durch Schleswig-Holstein. Wären wir durch den Hamburger Elbtunnel gefahren, hätten wir dieses schöne Land niemals kennen gelernt. Vor allen Dingen hätten wir nicht gewusst, dass es hinter Itzehoe einen Flugplatz mit dem Namen Hungriger Wolf gibt. Im Sabbatjahr entdeckt man die Sensationen des Lebens in den kleinen Dingen am Wegesrand.

 

Nach Rendsburg am Nord-Ostsee-Kanal hat es mich noch nie gezogen. Doch heute beschließen wir in Rendsburg zu übernachten. Jedes Mal, wenn wir nach Dänemark fuhren, überquerten wir die Rader Hochbrücke und ließen Rendsburg links liegen. Wir hatten keine Zeit zum Verweilen oder haben sie uns nicht genommen. Die Brücke wurde in den Jahren 1969-1972 über dem Kanal, der Rader Insel und dem alten Flussbett der Eider errichtet. Sie sollte neunzig Jahre halten. Heute hat sie einen bedenklichen Bauzustand und wird 2026 durch eine neue Brücke ersetzt werden. Die Fahrten mit dem Vater fielen in die Zeit der Bauphase. Volker und ich fuhren mit der Bahn über die Rendsburger Eisenbahnbrücke. Der Vater steuerte seine Badewanne über die neue Rader Hochbrücke. Wir hätten einander zuwinken können.

 

 

"Meer geht immer" steht auf dem kleinen Kissen, das wir in der Buchhandlung Liesegang entdeckt haben. Rendsburg gehörte einst zum Vielvölkerstaat Dänemark, dann zum Deutschen Reich. Heute wird sein Bild von verschleierten Frauen bestimmt. Rendsburg hat die größte Moschee Schleswig-Holsteins und eine sehr fruchtbare Gemeinde wie die Kinderschar auf dem Marktplatz beweist. Wie alle Kinder tragen sie Turnschuhe und tackern auf ihre Handys.

 

Vor der Eisdiele steht ein großer Mülleimer in Form einer Eiswaffel mit drei Kugeln. Ich mache Undine auf einen Sechsjährigen im froschgrünen Anorak aufmerksam. Fleißig traktiert er die Eiswaffel. Das Ding muss doch kaputtzukriegen sein! Die Mütter in der Warteschlange schauen interessiert zu. Wird es der kleine Rollobo schaffen, den Mülleimer umzuwerfen? Natürlich schafft er das! Ich vertraue seinem Tatendrang. Der Deckel fällt ab. Eine frische Brise verteilt den Müll über den Platz. Der Erstklässler traktiert nun die Speichern seines auf dem Kopfsteinpflaster liegenden Fahrrades. Durch ihre neonrote Mütze kann ich die Mutter dem munteren Burschen mühelos zuordnen. Was wird passieren? Natürlich nichts! Der hyperaktive Rollobo traktiert jetzt seinen Bruder durch einen gezielten Tritt gegen das Schienbein. Gewiss ist er hochbegabt.

 

„I want you to panic!“, sage ich.

 

Undine mahnt: Wir sind im Sabbatjahr und wollen nicht über Schüler und Schule reden. Das haben wir uns fest vorgenommen. Rendsburg beweist: Es wird auch im nächsten Schuljahr an Nachwuchs mit Förderbedarf nicht fehlen. Wir können getrost abschalten.

 

Der dänische König Christian VII. (1749-1808) gehörte zu den schwer erziehbaren Kindern. Er war hochintelligent und hochgradig verhaltensgestört. Seine Stimmungen schwankten wie Dünengras im Wind: Einmal aufgeblasen, dann apathisch, einmal von grausamer Wildheit, dann heimgesucht von tiefer Niedergeschlagenheit. Zum Glück musste der junge König keine Schule besuchen. Er wäre gewiss ein Grenzfall der Integration gewesen. Christian hatte einen Privatlehrer. Der brachte dem jungen Monarchen die auf Vernunft setzende Philosophie von Christian Wolff bei. Am Sonntag besuchte er mit ihm zwei Gottesdienste. Christian musste den Inhalt beider Predigten wörtlich wiedergeben könnten, sonst setzte es Schläge. Er litt unter Schlafstörungen. Fühlte sich vom Teufel verfolgt. Dann floh er vor seiner Angst in frühe sexuelle Exzesse, spielte Scheinhinrichtungen, zog durch die Bordelle von Kopenhagen. Als Begleiter wählte sich Christian zwei Sklaven aus den dänischen Kolonien: Der „Negerknabe Moranti“ und ein „Negermädchen“ mussten nach seiner Pfeife tanzen.

 

War der Junge krank oder einfach nur schlecht erzogen? Christian glaubte, er sei ein Wechselbalg. Nach alten dänischen Sagen legen die Meermänner gelegentlich eines ihrer Kinder in die Wiege eines Menschen und nehmen dafür das Menschenkind mit in ihr Reich. Asperger soll er gehabt haben, hieß es später, oder Schizophrenie. Vielleicht hatte er einfach keine Lust, sich rollenkonform zu verhalten und wollte nicht König sein. So verordnete ihm der Hof ein Sabbatjahr. Als Begleiter auf eine Reise durch Deutschland, Belgien, die Niederlande und England wurde ihm der Arzt Johann Friedrich Struensee (1737-1772) zur Seite gestellt. Struensee fand einen Zugang zu dem Monarchen. Nach Kopenhagen zurückgekehrt, übernahm Struensee die Regierungsgeschäfte. Dann wurde zwischen der Schwester des englischen Königs und Christian eine Hochzeit arrangiert.

 

„Christian VII. zählte noch nicht achtzehn Jahre und die Prinzessin, die das Unglück hatte, diesem Elenden die Hand reichen zu müssen, zwei Jahre weniger als er. Es war seine Cousine, die englische Prinzessin Karoline Mathilde, König Georgs III. jüngste Schwester- eine reizende Erscheinung, wenn auch keine regelmäßige Schönheit, voller Grazie und Holdseligkeit, voller Naivität und natürlicher Heiterkeit, die allerdings bis zur Ausgelassenheit sich steigern konnte, dabei voll Esprit und Wissbegier. Mit einem festen Willen, einem freimütigen Urteil begabt, schien sie trotz ihrer Jugend einen schon fertigen Charakter mitzubringen. Hochsinnig und gemütvoll, aufmerksam, liebenswürdig und gütig gegen Jedermann, schien sie alles Talent zu besitzen, ihren Gemahl wie ihr Volk glücklich zu machen. Und sie selbst wäre glücklich geworden, wenn das Los ihr einen guten und ehrenwerten Fürsten beschieden hätte. Sie wollte lieben und geliebt werden.“

 

So beschreibt der Historiker Karl Wittich die englische Prinzessin. Sie ist die Schöne. Er das Biest: „Christians ruchlose Kumpane sollten ihn ganz wie ihres Gleichen behandeln; täglich raufte er sich mit ihnen, indem er fest, hieb- und schussfest werden wollte. Noch übertroffen wurde diese Rauflust durch eine fast dämonische Freude am Umstürzen, am Zerstören, durch eine immer mehr zur Grausamkeit sich ausbildende Schadenfreude. Weit entfernt, von dem schönen Rechte der Begnadigung Gebrauch zu machen, verschärfte er vielmehr die Pein der zum Tode Verurteilten, um dann als geheimer Augenzeuge zu studieren, bis zu welchem Grade der Schmerz ertragen werden könne.“

 

Christian erfüllte seine eheliche Pflicht und zeugte einen männlichen Nachkommen. Dann überließ er seine Frau der Pflege eines anderen Mannes. Johann Friedrich Struensee wurde der Leibarzt der Königin.

 

In unserer Reisebibliothek befinden sich auch DVDs, die wir schon immer einmal sehen wollte. Zum Glück ist in Rendsburg an diesem Abend nichts los. Nach einer kleinen Wanderung zur Eisenbahnbrücke kehren wir in unser Hotel, den „Pellihof“ ein, öffnen eine Flasche Rotwein und schauen den Film „Die Königin und der Leibarzt“ (2012) mit Mads Mikkelsen als Struensee. Der dänische Originaltitel benennt direkt den Kern der leibärztlichen Bemühungen: „En kongelig affære - Eine königliche Affäre“. Struensee wurde der Vater von Louise Auguste Prinzessin von Dänemark, und diese Frau wiederum gehört zu den Vorfahren der letzten deutschen Kaiserin Auguste Viktoria.

 

Die königliche Affäre kostete Struensee den Kopf. Dem König war der Liebesdienst nur Recht. Vergeblich versuchte er das Leben des Freundes zu retten. Die Staatsräson schlug zu. Christian VII. starb während der napoleonischen Kriege in Rendsburg. Später wurde der Leichnam des „verrückten Königs“ („Den gale konge“) im Dom zu Roskilde beigesetzt.

 

Nach einer Hinrichtung könnte ich nicht mehr schlafen. Als Mads Mikkelsen in den Kerker geworfen wurde, habe ich Tobit die Leine angelegt und ihn noch einmal auf den Paradeplatz geführt, wo der Nachfolger von Christian VII. ausgerufen wurde. Die dänische Prinzessin hätte sich gewiss Mads Mikkelsen hingegeben. Auch Undine mag diesen Schauspieler und begleitet seinen Filmtod bis zum bitteren Ende.

 

Ein neuer Tag. Ich habe das Auto gepackt, Undine hat nach Nixenart das Bad unter Wasser gesetzt und Tobit hält wartend sein neues Kuschelkissen in der Schnauze: „Meer geht immer.“ „Mehr geht immer“, sage ich, „müsste Tobits Motto sein.“ Tobit ist ein Golden Retriever. Hundekenner wissen, was das heisst. Wer sich nicht für Hunde interessiert, dem ist auf diesen Seiten bereits zu viel von einem Hund die Rede gewesen. Mir geht es ebenso. Aber, was soll ich machen? Ohne Hund kein Sabbatjahr für Undine! Also: Heckklappe auf - Hund rein. Ein Sabbatjahr schenkt Gelassenheit. Ich hoffe es.

 

Eine halbe Stunde später stehen wir wieder auf der A7 im Stau, verlassen die Autobahn und fahren an Flensburg vorbei an die Grenze. Die Beamtin verzieht keine Mine, als sie uns auffordert, an den Rand zu fahren und auszusteigen. Auch Tobit muss den Wagen verlassen. Neben uns wird ein Auto auseinandergenommen. Die vier Afrikaner müssen sich einer Leibesvisitation unterziehen. Unsere Grenzerin interessiert sich für Tobits Impfausweis.  Dann lächelt sie, als sie Tobits Bild sieht. Undine hat eine Aufnahme des rosenumflorten Hundes in den Ausweis geklebt.

 

Wir besuchen Christiansfeld. Die Stadt wurde nach Christian VII. benannt. In seinem Sabbatjahr hatte er Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeinde in der holländischen Stadt Zeist kennengelernt und war von ihrem ganzheitlichen Lebenskonzept begeistert. Herrnhut liegt in Sachsen. Hier hatte Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf wegen ihres Glaubens verfolgte Christen aufgenommen. Sie stammten aus jener religiösen Utopie einer die Welt umspannenden Christenheit, für die Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil wider alle Absprachen verbrannt worden war. Zu den grossen Gestalten der Bewegung gehörte Johann Amos Comenius, unter dessen Namen heute ein europäisches Bildungsprogramm steht.

 

Struensee schrieb den Erlaß, der König unterzeichnete und so wurde 1773 in Dänemark eine neue Herrnhuter Siedlung gegründet. Seit dem Jahr 2015 gehört die Stadt zum Weltkulturerbe der UNESCO, auch das Hotel der Brüdergemeinde („Brødremenigheden“). Eine Tafel an der Außenwand bezeugt die Anwesenheit adeliger Gäste. Nur fehle der Name von Königin Margarethe II., beklagt eine Dame, der wir bei unserem Spaziergang mit Tobit begegnen. Die Dänin liebt Hunde, besaß einst einen Golden Retriever und sagt lachend, sie führe nun ihren erwachsenen Sohn aus. Der müsse mal vom Sofa hochkommen. Der sanfte junge Mann mit Downsyndrom hat einen entspannten Blick. Er ist glücklich über das Recht auf Teilhabe an den modernen Medien und zieht sich mit seinem Tablett auf eine Bank zurück. Seine Mutter grinst wie ein Honigkuchenpferd. Das ist kein Zufall, denn Christiansfeld ist weltberühmt für seine Honigkuchen. Nur müsse man wissen, wo es die besten Honigkuchen der Stadt gebe, sagt die Dänin und verrät uns den Geheimtipp: Das Honningkagehuset! Hier gebe es die besten Honningbomber, Honningbrød und Abrikossnitter. Wir erwerben einen Vorrat an Honigkuchen für die kommenden Wochen, darunter ein dickes zweigeteiltes Honigkuchenherz für Liebende. Die Honigkuchen aus Christiansfeld wurden durch Immanuel Martin Achtnich zu einem Exportschlager. 1785 kam der Perückenmacher aus der Brüdergemeinde Neudietendorf nach Christiansfeld. Perücken waren aus der Mode gekommen,  Goethes Werther hatte sie bereits ein Jahrzehnt zuvor abgelegt. Doch Achtnich war flexibel und orientierte sich beruflich um. Er heiratete eine Dänin, und gemeinsam buken sie fortan Honigkuchen. Später kam das sogenannte Herzbrot hinzu. Zur Bestellung des Aufgebotes bekam das junge Brautpaar vom Geistlichen ein Honigkuchenherz geschenkt, das beide vor seinen Augen verspeisten.

  

Das Bäckereiwesen war nur kleiner Teil der grossen Selbstversorgungsgemeinschaft in Handwerk, Landwirtschaft, Gartenbau. Die Herrnhuter Frömmigkeit kannte keine kirchliche Hierarchie. Alle waren vor Gott gleich, deshalb stand allen Kindern das Recht auf Bildung zu. Die Internatsschule für Mädchen hatte Zöglinge aus ganz Nordeuropa. Eine Gedenktafel vor der Pigekostskolen erinnert an Riborg Voigt (1806-1883), die Hans Christian Andersen Herz entflammte. Doch ein gemeinsames Honigkuchenherz konnten sie nicht verspeisen, weil Riborg bereits versprochen war.

 

Vor Gott sind nicht nur alle Menschen gleich, sie haben auch alle die gleiche Pflicht zur Selbständigkeit. Neben der Schule stand die Berufsausbildung - auch für Mädchen. Bildung, Fleiß und handwerkliches Können führten rasch zu einem wirtschaftlichen Erfolg. Die Produkte waren nachhaltig gebaut, gezimmert, gestrickt, gestrickt, gewebt - vielleicht nicht für die Ewigkeit, aber doch für den Gebrauch über einige Generationen. Von den Gewinnen finanzierten man die Mission in Grönland und Dänisch-Westindien.

 

 

 

Wir verlassen das Städtchen und wandern nach Christinero - „Christines Ruheort". Christine Friderica von Holstein (1741-1812), geboren in Tønder, lebte am Hofe Christians VII. Ihr Mann und Vetter Christian Frederik von Holstein war Kammerherr, fiel aber in Ungnade. Der Grund ist nicht überliefert. So zog das Ehepaar nach Christiansfeld und erwarb den Hof Favrvrågård. Christine war kein Mitglied der Herrnhuter Gemeinde, aber sie unterstütze die sozialen und diakonischen Arbeiten. Als sie an Blattern erkrankte, verließ sie ihr Ehemann. Christine stiftete viel Geld zur Errichtung eines Pflegeheimes und bezahlte im voraus die Pflegekosten.

 

„Netztet mit Tränen des Dankes dies Grab ihr

Armen und Kranken.

Die hier schlummerte, sie trug Gott nur

im Herzen und Euch"

 

lesen wir auf der Stele vor ihrem Mausoleum in Christinero. Ob Christine diese Aufforderung selbst entworfen hatte? Warum nicht? Christines Ehe war kein Honigschlecken, aber ihr Herz war süß wie ein großer Honigkuchen.

 

 

 

Auf den Sockel gemeißelt finden wir Uroboros und Schmetterling - die alten Symbole der Wandlung und des „Stirb und Werde!“ Hinter dem Grabmal und der angrenzten Pferdeweide liegt dichtes Gestrüpp. Zwei muntere Däninnen mit graumelierten Haaren scheinen dort etwas zu suchen. Wir hatten die beiden Freundinnen bereits neben der alten Blockscheune („Bullade“) in einen Haselbusch klettern sehen und diskret weggeschaut. Als Ausländer respektieren wir fremde Sitten. Die beiden Frauen waren an dem Denkmal achtlos vorbeigegangen. Nun begrüßen wir uns und lassen uns das Geocaching Programm der Herrenhuter Ralley erklären. Ich verweise auf die Inschriften in dänischer, lateinischer und deutscher Sprache. Die Damen öffnen das Display: Alles schon gescannt! Hier steht auch im Wortlaut der Vers aus der Apokalypse. Auf dem Grabmal lesen wir nur die Abkürzung „Apk 14.13“, können uns aber an dieses Kapitel der Bibel nicht erinnern. Wir sind eben keine Herrnhuter. Die Freundinnen gehören auch nicht zu den Anhängern des Grafen Zinzendorf. Aber kennen den Text. Er lautet:

 

„Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, spricht der Geist, sie sollen ruhen von ihrer Mühsal; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“

 

Dem Vater hätte dieser Ort gefallen. Aber er hatte auf seiner Fahrt in den Norden keine Zeit irgendwo zu verweilen. Denn wir folgen ihm mit dem Zug. Niemals haben wir uns verpasst. Wenn er uns vom Bahnhof abholte, hatte er bereits Lønstrup erreicht, die Betten bezogen, das Schlauchboot aufgepumpt, ein erstes Bad genommen, die toten Insekten von der Frontscheibe des Ford Taunus 17m entfernt und seinen geliebten Eintopf mit Bockwurst verspeist. Ich kann es selbst nicht glauben, und vielleicht hat sich diese frühe Reise auf den Flügel der Zeit längst zu einer Legende verklärt. Doch in jeder Legende liegt ein wahrer Kern. Er berührt das Geheimnis einer Person. Die Geschichte vom Eintopf glaube ich nicht. Aber indem ich sie auf dem Gelände von Christinero erinnere, bekomme ich Appetit.

 

 

 

Wir kehren in der Gaststube des Brüderhotels ein. Sie befindet sich im ausgebauten Keller. Unter der Decke des Tonnengewölbe hängen noch jene große Ringe, an denen die Pferde der königlichen Gäste angebunden wurden, während die Herrschaften im blauen Salon speisten. Ihre Portraits schmücken heute den langen Gang im ersten Stock.

 

Wir sind wieder auf der Autobahn. Noch haben wir Lønstrup nicht erreicht. Ich sehe den Vater braungebrannt am Strand liegen. Es ist Samstagmorgen. Auf der Gegenfahrbahn reihen sich Wagen mit dänischem Kennzeichen.

 

„Wo wollen die Dänen hin?“, frage ich Undine. Das Wetter ist traumhaft. Gewiss fährt ganz Silkeborg und Aarhus ans Meer.

 

„Ist heute nicht der 5. Mai?“, fragt Undine.

„Ja, 5. Mai, Søren Kierkegaards Geburtstag.“

 

In dem kleinen Museumsladen von Christiansfeld haben wir einen rot-weißen Herrnhuter Stern gekauft und mit dem freundlichen Alten ein Gespräch über die Kirche in Dänemark geführt. Ob Kierkegaard noch gelesen werde, hatte ich gefragt. Der pensionierte Pfarrer der Gemeinde lächelte und sagte, Kierkegaard sei unter den Gebildeten sehr präsent, auch wenn niemand den größten Philosophen Dänemarks mehr lese. Doch bei großen festlichen Anlässen eröffne der Redner seine Ansprache gerne mit einem Kierkegaard-Zitat. Das schaffe sofort Einverständnis.

 

Undine dachte nicht an Kierkegaard, sondern den Tag der Befreiung Dänemarks von den deutschen Besatzern. Der 5. Mai ist einer der großen Feiertage. Dänemark zeigt nicht nur bei den Grenzkontrollen Flagge.  Alle Dänen und Däninnen denken bei dem Stichwort "Mohammedkrisen" an eine Serie von zwölf Mohammed-Karikaturen der Jyllands-Posten. Die Karikatur "Muhammads ansigt" ("Das Gesicht Mohammeds“) vom 30. September 2005 führte zu weltweiten Protesten in der islamischen Welt. Nun hat das Dänische Parlament (Folketing) ein Verschleierungsverbot erlassen. Der Gesichtsschleier darf nicht mehr in der Öffentlichkeit getragen werden. Dänen sind nicht nur hyggelig. Ein Verschleierungsverbot richtet sich nicht nur gegen Gesichts- und Ganzkörperschleier, sondern gegen jede Art der Verhüllung des Antlitzes. Das dänische Parlament hat sich mit 75 % der Stimmen seiner Mitglieder für das Verschleierungsverbot ausgesprochen.

 

„Sie werden Lønstrup nicht wieder erkennen!“, sagt der Mann aus Hamburg. Wir treffen ihn auf einem Rastplatz hinter Aarhus. Die Bekanntschaft mit ihm und seiner Frau verdanken wir Tobit. Er roch die mit Schinken belegten Brötchen und bettelte. Hinten im BMW sitzt der Sohn der Familie.

 

„Zehnte Klasse“, meint Undine.

 

Eine Woche hat die Familie Zeit für einen Urlaub in Dänemark. Der Vater freut sich auf den Autostrand bei Løkken.

 

„Erinnern Sie sich noch an die Mårup Kirche?“, fragt er. „Die Kirche am Abgrund.“

 

Ich gestehe, mich nicht zu erinnern. Bei meinen letzten Ferien in Lønstrup war ich fünfzehn oder sechzehn Jahre jung und hatte andere Interessenschwerpunkte. Ich schaue den Sohn der Familie an. Er tackert auf seinem Tablett und hebt nicht den Blick.

 

 

 

„Ich mochte das Salz des Meeres auf den Lippen der dänischen Mädchen.“

 

„Das klingt aber sehr poetisch, meinst du nicht auch Werner?“, lacht die Mutter des Jungen. „Sind sie Schriftsteller? Ich schreibe auch - Gedichte.“ Die Frau reicht mir ihre Visitenkarte. 

 

„Ich kann mich an Gesichter erinnern. An übermütige Sprünge von der Steilklippe und an das LønstruperKino, wo wir bis zum Sonnenuntergang herumlungerten. Das Leben war schön.“

 

„Die Kirche ist inzwischen abgestürzt. Der Leuchtturm von Rubjerg Knude fast versandet. Das Kino gibt es nicht mehr“, sagt der Mann.

 

 

Wir erreichen Lønstrup und beziehen unser Haus. Die Kirche von Mårup gibt es tatsächlich nicht mehr. Auch der Leuchtturm wird bald in den Abgrund stürzen. Ein kleiner Gottesacker am Abgrund ist stiller Zeuge, dass hier einst Gott verehrt wurde. Einige Gräber sind die Steilklippe hinuntergestützt. Bei unserem Spaziergang am Strand finden wir Reste von Grabsteinen und einen vergilbten Unterschenkelknochen. Am Rande des Abgrundes stehen zwei dunkel gestrichene Blockhäuser. Eines gehörte den Eltern von Jens, mit dem ich zum ersten Mal Tuborg Bier trank. Jens rauchte Cecil ohne Filter. Es gibt diese Zigaretten noch, aber nur mit der Warnung „Rygning kan dræbe“. Jens umgab ein Geheimnis. Niemand im Dorf mochte ihn. Ich habe ihn gelegentlich vor einer Schlägerei bewahren müssen, denn wo immer er auftrat, gab es Streit. Später besuchte ich ihn in seiner Kopenhagener Studentenbude. Ich folgte seiner Einladung. Doch war das Zimmer so klein, dass ich auf dem nackten Fussboden schlafen musste. Immer wieder stand Jens in der Nacht auf, rauchte eine Cecil und legte sich stöhnend in sein Bett. Er war der Sohn vermögender Eltern, aber offensichtlich knapp bei Kasse. Denn kaum war ich im Morgengrauen endlich eingeschlafen, weckte mich Jens und forderte Geld für die Übernachtung. Das Lønstruper Haus am Abgrund haben wir immer nur durch ein kleines Fenster betreten. Es gehörte zu seinem Zimmer. Ein merkwürdiger Bursche. Was mag aus ihm geworden sein?

 

 

 

Alles befindet sich im ständigen Wandel wie das Meer vor unserem Haus. In diesen sonnendurchfluteten Tagen ist es beinahe spiegelglatt. Doch wechselt es seine Farbe vom dunklen Blau am Morgen zu einem leuchtenden Weiß, wenn die Sonne hinter den Horizont getreten ist. In Lønstrup übte ich mich in der Zeichenkunst. Ich versuchte die Farben des Meeres zu malen. Ich hatte mir einen großen Zeichenkarton gekauft und Farbstifte, besaß aber nicht den Ansatz einer Begabung für das Bildnerische. Der Vater sprach es offen aus.

 

An Galerien und Flohmärkte kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an Döner- und Pizzabuden und das Yoga-Zentrum in Hafennähe. Das Kino steht wie vor fünfzig Jahren. Gerade feiert ein kleiner Freundeskreis das hundertjährige Jubiläum. Damals traf sich hier die Dorfjugend mit den Feriengästen aus Deutschland. Es waren wunderbare Tage mit salzigen Meeresküssen. Doch nicht alles blieb, wie es einmal war.

 

Mit Tobit stehe ich wieder auf der hohen Düne und schaue durch mein Fernglas aufs Meer. Ein Seehund steckt seinen Kopf aus dem Wasser. Möwen lassen ließ von den Wellen wiegen. Keine Meerjungfrau in Sicht! Früher lagen sie am Strand nur mit kappen Bikinihöschen begleitet. Das war im Jahr 1970. Jimi Hendrix lebte noch und sang sein Nixenlied „A merman I should turn to be“. Wo sind die kleinen Meerjungfrauen geblieben? Wo die Lieder? „So my darling and I make love in the sand…“

 

Warum kam diese Freikörperkultur aus der Mode? Diese gelebte Hygge-Kultur bot Einblicke, wie sie nur das Leben selbst vermitteln kann. Die Lehrer forderten damals, dass wir auch in den Ferien lernten. Das taten wir: So vielfältig, so schön war der kleine hyggelige Unterschied und seine großen Folgen! Auch der Vater liebte die kleinen Meerjungfrauen am Lønstruper Strand. Er war ein großer Verehrer der Schönheit und hatte die schönste aller Meertöchter geheiratet. Durch ihn erfuhr ich auch von Hans Christian Andersens Märchen und der kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen.

 

 

Am Abend kommt Undine auf die salzigen Küsse aus früher Zeit zu sprechen. Zuerst, sagt sie, habe sie gedacht, die salzigen Lippen seien meine Erfindung. Dann sei ihr ein Gedicht des Archivarius Lindhorst wieder in den Sinn gekommen. Undine stöbert gerne auf der Homepage https://rg-gedichte.jimdofree.com dieses in Würde ergrauten Salamanders. Auf der Homepage stehe das Gedicht nicht. Sie habe es einmal gehört.

"Wozu muss ein Autor gedruckt werden, wenn er so im Gedächtnis bewahrt wird?", frage ich.

"Ja, Rainer Maria Rilke", lacht Undine. Sie hat das Zitat sogleich erkannt. Dann spricht sie die Worte des Archivarius Lindhorst:

 

 

Gudrun

Bei Nacht das Gesicht
In den Nordwind gewendet,
Der weht durch die Zinnen
Auf moosigem Turm,
Ach, über das Meer.
Das Salz auf den Lippen,
Stets schmeckt es nach Blut.

Archivarius Lindhorst