„Andersen was here“:
Zwischen Nørre Vosborg und Bjerghuse



„Flet dine Fingre i mine Fingre
nu vil vi ikke mere skilles“
Johannes und Olga Buchholtz
 
 

 


Herrlich ist es, ins Vertraute heimzukehren: Lemvig am Limfjord. Das Fischrestaurant. Mit geschlossenen Augen könnte ich meine Nummer für die Bedienung ziehen. Alle Angebote liegen, wo sie immer lagen. Hier der warm geräucherte Lachs mit Dill, schwarzem Pfeffer, Paprika oder Knoblauch, dort der marinierte Hering und die Krabben. Wir müssen die Auslagen nicht studieren. Wir kennen sie. Nichts hat sich verändert. Draußen liegt der Flohmarkt. Der warme Wind streichelt Bücherrücken und Schallplattenhüllen und weht einen muffigen Kellergeruch herüber. Da - die Eisberge, Inuit und Kajaks auf den Briefmarken aus Grönland. Einst waren sie Schmuckstücke in der Sammlung des Kindes. Zartblaue Porzellanfiguren von Bing und Grøndahl spiegeln das helle Licht des Hafens: Lesende Geschwister, eine Balletttänzerin, die kleine Else. Hans Christian Andersen als Erzieher eines Kindes. Der Dichter könnte jede dieser Figuren zum Sprechen bringen. Sie würden uns von ihren ehemaligen Besitzerinnen erzählen. Einst waren sie Boten der Schönheit und Zeichen eines bescheidenen Haushaltes. Ein Geschenk zur Geburt des ersten Kindes, eine Gabe zum 25. Hochzeitstag, ein Erbstück der Großeltern.
 
 


Wir betreten vertraute Geschäfte, Slagter Mortensen und den Käseladen mit dem umwerfenden Duft. Draußen vor der Stadt liegen die Hügelgräber. Dahinter am Horizont grüßt der Leuchtturm von Bovbjerg. Wir fahren über eine Nehrung. Hinter den Dünen braust die Nordsee. Auf der anderen Seite der Straße ruht der Nissum-Fjord. Ein Paradies für Ornithologen und Surfer. Doch Nordsee ist Mordsee, haben die alten Fischer gesagt. Entlang der Straße erinnern Gedenksteine an die zahlreichen Schiffbrüche und ihre Opfer. Die Seeleute wurden auf dem Friedhof von Sønder Nissum begraben. Wir befinden uns an der Küste der Schiffbrüche.



Doch vor uns bereiste Hans Christian Andersen (1805-1875) diesen Teil Jütlands. Bei unserem letzten Besuch wanderten wir auf seinen Spuren. „Andersen was here“ steht auf einer Tafel vor dem Wasserschloss Nørre Vosborg. Als er vom 5. bis 21. Juli 1859 den alten Herrensitz besuchte, war er längst der berühmteste Dichter Dänemarks. Er hatte es geschafft. Alle liebten und bewunderten ihn. Der Sohn eines armes Schusters war aus der Verborgenheit eines Lebens in Odense mit vierzehn Jahren nach Kopenhagen gekommen, um hier als Balletttänzer und Schauspieler Karriere zu machen. Der Traum platzte zwar, doch im Laufe der kommenden Jahre wurde er zum gefeierten Dichter. Diesen Erfolg verdankte er auch seiner Kontaktstärke. Er kannte die entscheidenden Kulturträger seiner Zeit und wusste durch Beharrlichkeit auch den widerspenstigen Kritiker für sein Werk zu gewinnen.
 


Der Empfang auf Nørre Vosborg war typisch für den großen Bahnhof, der immer veranstaltet wurde, wenn Andersen erschien: Einhundert geladene Gäste empfingen den Dichter. Ein Badezelt für die Ausflüge nach Bjerghuse und zur Husby Klitplantage stand bereit. Sein Zimmer war nach aller Bequemlichkeit hergerichtet. Es lag ebenerdig, wie es Andersen bevorzugte. Trotz entschiedener Reiselust war er nicht frei von Phobien. Andersen war immer unterwegs. Er stieg in jedes Bergwerk, obwohl er Angst hatte, dass er verschüttet werden könnte. Bekannt ist seine Furcht vor Bränden, weshalb er immer mit einem Strick im Gepäck reiste, um sich zur Not aus dem Fenster abseilen zu können. In Nørre Vosborg brauchte er kein Seil. Hier fürchtete man nicht das Feuer, sondern den Blanken Hans. Eine Sturmflut hatte einst den mittelalterlichen Vorgängerbau zerstört. Evald Meinert Tang, der neue Besitzer von Nørre Vosborg, wusste viele Geschichten von Wassersnot, Sintfluten und Schiffbrüchen zu erzählen.
 

Wie der von ihm verehrte Dichter Ludwig Tieck war Andersen nicht nur ein großartiger Erzähler und Unterhalter, er konnte auch zuhören. Seine Märchen und Geschichten gehen oft auf Vorlagen zurück, die Andersen im Sinne seiner Lebensphilosophie bearbeitete. In Andersens Welt gibt es kein Entweder-Oder, sondern immer ein Sowohl-Als-Auch. Er war ein Kind des romantischen Zeitalters und wurde ein Mann der Moderne. Der Märchenerzähler war zugleich ein Technikfreak. Er liebte den Komfort und die Schnelligkeit des Reisens mit der Eisenbahn oder dem Dampfschiff. Andersen war Realist und Träumer. Er kannte das Leben der Schönen und Reichen und das Elend auf den Straßen Londons, wie es sein Freund Charles Dickens beschrieb.

Seine hoch emphatische Seele legte er der ganzen Welt unter und belebte die Natur mit seinen Gefühlen. Er sprach die Sprache der Könige, der Meerjungfrauen und der Grashalme. Er war eine fromme Seele, doch weder Kierkegaard noch Kirche verpflichtet, sondern einer Herzensfrömmigkeit, die über allen Religionen und Konfessionen auf Licht, Leben und Liebe blickt. Dieser universale Humanismus ist vielleicht der Grund für seine weltweite Wirkung.

Andersen glaubte an die Allversöhnung: Wie hart das Schicksal einem Menschen zuspielt, am Ende wird alles gut. In Andersens Welt hat daher auch das Scheitern einen höheren Sinn. Das Leben der kleinen Meerjungfrau ist eine Tragödie. Doch es endet in Herrlichkeit. Andersen konnte Menschen trösten, weil er vom Leid nie ohne Liebe erzählt.

Was Evald Meinert Tang an den Abenden auf Nørre Vosborg erzählte, verdichtete Andersen zu der „Geschichte aus den Dünen“ („En Historie fra Klitterne“): Ein spanisches Liebespaar tritt eine Seereise an. Das Schiff strandet an der dänischen Nordseeküste. Die schwangere Braut überlebt als einzige, kommt nieder und gebiert einen Sohn, der als Vollwaise bei Zieheltern aufwächst. Denn die leibliche Mutter stirbt unmittelbar nach der Geburt.

Manches Leben beginnt mit einem Schiffbruch. Doch über allem waltet die Vorsehung. Das war Andersens Überzeugung. Er beschreibt ein Erwachsenwerden in der kargen Landschaft zwischen Bovbjerg, Bjerghuse und dem Herrensitz Nørre Vosborg. Die „Geschichte aus den Dünen“ beginnt nicht nur mit dem Schiffbruch, sie endet auch mit dem Tod des Helden. Das Schicksal der Eltern wiederholt sich in seinem Leben. Beim Versuch, seine Braut aus dem Wasser zu retten, kommen beide ums Leben. Doch wie die kleine Meerjungfrau werden sie auf einer höheren Stufe des Lebens Glückseligkeit finden.

 
 

Thor ist der Gott des Wetters und der Winde. Wir erreichen Thorsminde. Hier durchbricht die Nordsee den Schutzwall der Dünen und fließt in den Nissum-Fjord. Der Eingang wird von einer Schleuse geschützt und von einer Meerjungfrau bewacht. Direkt hinter den Dünen liegt das Strandungsmuseum St. George. In einer alten Lagerhalle am Fischereihafen befindet sich ein Flohmarkt und gegenüber Nørgaards Fischrestaurant. Hinter Thorsminde kommt nichts mehr. Nur noch Ruhe in der kleinen Siedlung von Bjerghuse. Hier liegt unser Haus.

Ein weiß- und rosafarbenes Blütenmeer von Heckenrosen begrüßt uns. Die duftende Rose kenne ich unter vielen Namen: Sylter Rose, Japan-Rose, Kamtschatka-Rose oder Kartoffelrose, weil ihre runzeligen Blätter an die Laubblätter der Kartoffel erinnern. Aber wie wird sie von den Dänen genannt? Rosa Rugosa, so lautet der lateinische Name, wächst in dichten Sträuchern auf den Dünen. Silbermöven fressen ihre ziegelroten Früchte. Aus ihrer getrockneten Schale wird Marmelade oder Hagebuttentee gewonnen.
 


Die Dänen lieben Rosa Rugosa. In ihr vereinigen sich Zartheit, Robustheit und Abwehrbereitschaft. Über 200 Sorten sind gezüchtet worden, darunter die stark duftende Melusine. Dass Andersens kleine Meerjungfrau die Blumen liebt, verwundert nicht. Natürlich ist sie die schönste der sechs Töchter und hat eine rosenzarte Haut, „so rein und fein wie ein Rosenblatt“.

Unser grün gestrichenes Haus hinter den rosenbestandenen Dünen ist von kleinen Kiefern umgeben. Die Heide reicht bis an die Holzveranda. Wir kehren heim. Die dicken Bohlen der Holzveranda haben sich noch stärker gebogen. Wir schreiten achtsam über sie. Das Salz hat weitere Löcher in die Dachrinne gefressen. Noch immer lassen sich einige Fenster nicht öffnen. Einige Stühle am großen Esstisch wackeln. Ich werde Leim und Öl besorgen. In den kleinen Vasen steht noch immer das getrocknete Heidekraut, das wir im vergangenen Herbst pflückten. Ich öffne den CD-Player und finde „Make this Moment“ von Inger Marie Gundersen. Es ist die letzte Musik, die wir gehört haben. Im Zeitungsständer liegt noch immer der „Spiegel“. Ich hatte ihn wegen eines Interviews mit Peter-Jürgen Boock gekauft. Das war am 26. August 2017.

Unberührt stehen jene Bücher in dem kleinen Regal, die wir vor acht Monaten in dem Antiquariat von Søndervik erworben haben. Darunter Max Picards „Die unerschütterliche Ehe“ (1942). Ich blättere in dem Buch und lese meine Unterstreichungen: „Oft bekommt erst in der Ehe der Mann sein ganzes männliches Wesen und die Frau ihr ganzes weibliches Wesen.“ Dann die Astrid-Lindgren-Biographie von Margareta Strömstedt. Vorne im Innendeckel des Buches habe ich Lesefrüchte notiert. Ein Wort zum Nobelpreis, das unser Freund Ulrich Schacht gewiss nicht teilt:

„Ich glaube, wir sollten den lieben Gott lieber bitten, mich mit dem Nobelpreis zu verschonen. Nelly Sachs ist daran gestorben, davon bin ich überzeugt, und das würde ich auch tun.“

Hiersein ist herrlich. „Dejlig“ sagen die Dänen, wenn etwas „herrlich“ ist, wie der Tango, den wir in Aalborg tanzten. Undine entdeckte das Wort. Sie fragte ihren Tanzpartner, wie man „herrlich“ in seiner Sprache ausdrücken könne. Die kleine Seejungfrau liebt wie wir den Tanz und den Gesang. Ihre Stimme und ihre tänzerische Bewegung sind so „dejlig“, wie Andersen gerne gewesen wäre. Er wollte Balletttänzer werden. Herrlich mochten die Kopenhagener seinen Tanz nicht nennen, aber die tanzende und singende Meerjungfrau findet die ganze Welt bis auf den heutigen Tag „dejlig“.

Auf dem Holzfußboden liegt noch immer der Kelim mit den verblassten Farben. Wir rollen ihn ein und schauen auf die Spuren von unseren Tänzen. Der Sand unter den Tanzschuhen hat kreisförmige Muster hinterlassen. Wir bewegen uns zu den Sommerliedern von Holger Drachmann: „Sommerdrømme“ und „Bella“. Draußen wiegt der warme Wind die Kiefernzweige, weht die Samen in dichten Wolken an den Fenstern vorbei und hüllt unseren Wagen in einen gelben Flor.

Wir wollen in der Einkehr leben. Gehen täglich den gleichen Weg hinter den Dünen zu Marens Maw und von dort über den Dünenpfad zum Meer. Wir brauchen keinen Zeitmesser. Wir kennen die Entfernungen wie die Wege und Nebenwege. Doch heute lockt ein neues Ziel. Wir sind auf dem Weg nach Lystbækgaard. Dichte Büsche von gelb blühendem Ginster säumen die Straße. Undine nimmt die Kamera und steigt aus dem Wagen. Da fallen Schüsse.

 
 
 
 
 

„Elchjagd!“, sagt sie. „Der letzte seiner Art.“

Gab es jemals Elche in Dänemark? Die herrlichen Ginsterbüsche wachsen an den Randzonen eines großen Geländes für Schießübungen. Wir stehen auf dem Boden des Ulfborg Skyttecenter/DDS Vestjylland. Zwei Fahrzeuge aus Hannover und ein Wagen aus Verden/Aller sind hier geparkt. Vor uns liegt eine Schussbahn. Sie ist so lang, dass wir die Zielscheiben in der Ferne nicht sehen können. Auf dem Boden liegen Gewehre. Mit einer Schutzhülle sind sie vor Sandstaub aus den Dünen geschützt. Die Schützen haben soeben ihre Übungen beendet. Drei Männer wollen über die Sandpiste zu den Zielscheiben fahren. Sie freuen sich über unser Interesse an ihrem Sport und laden uns zum Mitkommen ein.

Schützen kenne ich von den Schützenfesten in meiner Kindheit. Im Bier- und Kaffeegarten von Sebon wurde geschossen und bei Heuckmann an der Bahnstation. Die Schützen waren in der Regel alte und wohlbeleibte Männer, und wer am Ende den Vogel abschoss, stand bereits vor dem Beginn des Schießens fest. Denn ein Schützenkönig trug nicht nur die Ehrenkette, sondern hatte die Zeche zu bezahlen. Besonders für Jungschützenkönige gab es kein größeres Pech, als den unkontrollierten Schuss. Das galt auch für die schnelle Vereinigung hinter dem Bierzelt. Die Schützen auf dem Übungsgelände von Ulfborg sind aus anderem Holz geschnitzt. Ihre Waffen werden in Einzelanfertigung hergestellt, die Munition wird selbst gegossen.

 
 
Bei Anblick dieser Langwaffen denke ich an Scharfschützen, die sich beim Auftritt berühmter Personen in Position gebracht haben. Vielleicht lagen sie auch in Westminster Abbey verborgen, als Prinz Harry und Meghan Markle heirateten. Möglich sei das schon, meint Robert und erzählt Geschichten vom Einsatz dieser Waffen im Kampf gegen die Taliban und den IS. Der britische Scharfschütze Craig Harrison traf einen Taliban aus 2475 Metern Entfernung. Ein kanadischer Scharfschütze machte den Gegner im Irak mit einem Schuss aus seiner McMillan TAC-50 aus 3540 Metern Entfernung unschädlich.

Robert und seine Kameraden befinden sich an der Grenze zum Rentenalter. Es sind Sportschützen. Ihre Mitglieder, sagt er, könnten einen Ärztekongress stellen. Leider seien noch immer zu wenige Frauen unter den Schützen. Er bietet Undine eine Schießübung auf 1000 Meter Entfernung an. Mir ist es ein Rätsel, wie diese Männer ihre High-Tech-Waffen über die deutsch-dänische Grenze bekommen haben. Das gehe nur mit einer Einladung von dänischen Schießfreunden. Aber warum fahren sie nach Dänemark? In Deutschland, sagt er, werde nur auf die Distanz von 300 Metern geschossen. Doch erst bei 1000 Meter Entfernung und in einer Gegend mit Winden, biete sich die höchste Herausforderung für Langwaffenschützen. Wer auf diese Distanz schieße, der müsse nicht nur sehr gut zielen, sondern zugleich Erdanziehungskraft und Wind berechnen, damit Schuss für Schuss in dasselbe Loch geht. Das ist das Ziel des Schützen. Robert befindet sich nahe an diesem Ideal. Sämtliche Schüsse gingen in die Mitte der Scheibe.

 

Dann will Robert wissen, was wir so treiben. Undine erzählt von der Schule.
„Wir machen etwas Ähnliches wie Sie“, sage ich. „Wir tanzen Tango.“
Ich hatte mit Roberts Widerspruch gerechnet. Aber der Vergleich leuchtet ihm sofort ein. Es gäbe sogar einen Spielfilm, in dem ein Scharfschütze das Tango tanzen lerne, sagt Undine. Aber uns beiden fällt der Titel nicht ein.

„Killing Moves!“, ruft Undine, als wir wieder im Wagen sitzen. Richtig: In diesem Film fliegt ein alternder Auftragskiller nach Buneos Aires, um einen General der Militärjunta zu töten. Vor Ort gibt es Komplikationen und eine unfreiwillige Verzögerung der Durchführung. Er nutzt sie, um Tango zu lernen.
„Robert Duvall, heisst der Schauspieler und Drehbuchautor“, sage ich.
„Robert? Wirklich Robert?“
„Natürlich!“
„Der letzte seiner Art“, sagt Undine.

 
 
 

Präzisionsarbeit findet auch auf Lystbækgaard statt. Hier wohnt Berit Külerich, die Herrscherin über ein Reich von 1000 Nordlandschafen. Sie stehen im Dienst einer EU-Kampagne und rücken friedlich, aber entschieden der schönen Japanischen Rose an die Blätter und Blüten. Hyben Rose, erfahren wir, wird sie von Dänen genannt. Exakt 2845912 Euro koste die Bekämpfung der Rose durch Beweidung, Herbizideinsatz und Ausrodung. Die Hälfte der Unkosten werde durch den Life und Natur Fond der EU (www.rist.dk/saarbarnatur) getragen.

Ein Fluch liegt über der Heide. Wir waren ahnungslos und ließen uns von der Schönheit blenden. Diese herrlich duftenden Rosen sind für uns ein wunderbarer Farbtupfer in der Dünenlandschaft. Auf dem Bauernhof erfahren wir nun, das sich diese Rose von Japan bis Jütland ungehemmt ausbreitet. Im Namen der Rose ziehen Berits Nordlandschafe gegen diesen Eroberer dänischen Bodens zu Felde.


 
 

Wie eine Schafherde durch Border Collies und eine Schäferin bewegt wird, erleben wir bei einer Vorführung. Die Schäferin erzählt von den Gefahren, denen ihre wolligen EU-Kommissare ausgesetzt sind. Wölfe breiten sich wieder in Jütland aus und setzen den Lämmern zu. Sie dürfen nicht geschossen werden. Auch die traditionelle Pflege der Hufe und die Schafschur entspricht nicht den EU-Richtlinien. Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Ob das Bäckersterben auch eine Folge bestimmter Verordnungen aus Brüssel ist? Ist dänisches Mehl nicht mehr EU-konform? Schon bei unserem letzten Aufenthalt suchten wir vergebens nach einem jener kleinen Bäckerläden, die einst in jedem dänischen Dorf zu finden waren.
 

Im ehemaligen Kuhstall von Lystbækgaard erleben wir ein Konzert der Gruppe „Valfart“ mit nordischen Liedern. Wir sitzen zwischen Webstühlen, essen nordische Tapas und trinken Apfelmost. Valfart, erklärt Christian Risgaard den Namen seiner Formation, meine nicht die christliche Wallfahrt. Valfart sei ein ein Begriff aus der Wikingerzeit. Ich denke an ein kriegerisches Unternehmen, an Schlachten auf der Valstatt, dem Kampfplatz, an Walvater Wotan, der die gefallenen Helden nach Valhalla bringt, aber diese Vorstellung passt nicht zum Auftreten des Quartetts und den Liedern. Die nordische Liederreise dieses Abends unternimmt auch kleine Ausflüge nach Istanbul. Christian Risgaard spielt neben der norwegischen Geige die Bouzuki. Christine Dueholm an den Schlaginstrumenten und Johanne Buus Andersen an der Querflöte sowie Ib Buchholtz am Akkordeon führen immer wieder in die nordischen Länder zurück. Sie spielen alte Volksweisen und neue Lieder mit starkem Bezug auf die Region.

 
 
 

Nach dem Konzert treffen wir einen hochgewachsenen Herrn. Er trägt eine norwegische Jacke. Seine feinen Gesichtszüge und sein langer weißer Bart lassen ihn wie einen Pastor aussehen. Theologie habe er tatsächlich einst in Kopenhagen und Århus studiert. Die Orgel spiele er bis auf den heutigen Tag. Den Lebensunterhalt verdient habe er als Busfahrer und Taxifahrer, das sei besonders bei Nachtfahrten auch eine Art Seelsorge.

Der Fluch über der jütländischen Heide, sage ich, erinnere mich an Søren Kierkegaards Vater. Kierkegaard sei in Dänemark vergessen, sagt der alte Mann. In Dänemark könne man Abitur machen, ohne ein Wort von Kierkegaard gelesen zu haben. Ich habe einst Kierkegaard gelesen, und ich erinnere mich an ein Schlüsselerlebnis seiner Familiengeschichte. Irgendwo hier in der Gegend müsse Kierkegaards Vater seinen Gott verflucht haben.

„Ja“, sagt der Alte, „das war in Sædding, zwölf Kilometer nordwestlich von Skjern. Hier lebte Michael Pedersen Kierkegaard (1756-1838). Wie viele Bauernkinder musste er als kleiner Junge seinen Beitrag zum Leben der Familie leisten. Er hütete die Schafe auf der Heide. Doch er haderte mit seinem Schicksal. Eines Tages stand er mit seiner Herde auf dem Hügel von Højestehøj. Der Regen hatte seine Kleidung durchtränkt. Den Zwölfjährigen fror es an Leib und Seele. Im Gewitter hob er seine Faust gegen den Himmel und fluchte Gott. Dann verließ er den elterlichen Hof, ging nach Kopenhagen und wurde ein sehr vermögender Kaufmann. Doch aus der jütländischen Heide nahm er ein tiefes Schuldgefühl mit. Dieses Sündenbewusstsein gab er an seinen Sohn Søren weiter. Michael Pedersen Kierkegaard überlebte seine beiden Ehefrauen und fünf seiner Kinder. Er war überzeugt, dass ihr früher Tod eine Strafe Gottes sei und dass alle seine Kinder vor dem 34. Lebensjahr sterben würden. Sein Sohn Søren überlebte den Vater um wenige Jahre. Nur Peter Christian Kierkegaard (1805-1888) erreichte ein hohes Alter, vielleicht auch, weil er sich als Kultusminister und später als Bischof von Aalborg von der düsteren Glaubenswelt des Bruders distanzierte.“

„Søren Kierkegaard wurde der dänische Philosoph des Abgründigen. Die Nachtseite der Seele mit Schuld, Sünde, Sühne, Angst, Verzweiflung, Furcht und Zittern wurde sein Thema.“

„So ist es. Deshalb hat ein Kierkegaard keine Heimat auf dänischen Kanzeln.“

„Hat Kierkegaard jemals den Hof seiner Vorfahren in Sædding besucht?“, fragt Undine.

„Im Gegensatz zu Hans Christian Andersen liebte Søren Kierkegaard nur das Reisen auf den Flügeln der Einbildungskraft, einige Ausflüge in das Seebad Gilleleje ausgenommen. Sein Vater und er pflegten ein merkwürdiges Ritual. Sie bewegten sich durch das Wohnzimmer und stellten sich vor, sie weilten an einem anderen Ort. Dann führten sie ein Gespräch über ihre Eindrücke. Doch einmal besuchte Kierkegaard die Heidelandschaft im Westen Mitteljütlands. 1840 reiste er nach Sædding, wo der Hof seiner Großeltern gestanden hatte.“

Ein Gedenkstein erinnere daran. Er trage die Inschrift: „Her laa Søren Kierkegaards Slægts-Hjem. (Hier lag der Stammsitz von Søren Kierkegaard).“

 

„Es gibt produzierende Geister, die vieler und großer Schicksale oder Erlebnisse bedürfen, um ein kleines Werk hervorzubringen“, fährt unser Busfahrer fort. „Das ist jene Art von Poeten, welche aus hundert Pfund Rosenblättern einen Tropfen Rosenöl gewinnen. Und es gibt andererseits Talente, deren Natur so fruchtbar, deren inneres Klima so tropisch ist, dass sie aus einem ganz einfachen, alltäglichen Verhältnis, das sie mit der höchsten Energie erleben, ganze Reihen von bedeutenden Werken herausholen. Sie gleichen jenen baumlosen Inseln in der Südsee, die wenige Jahre, nachdem Passagiere eines vorübersegelnden Schiffes einige Obstkerne dort vergessen haben, mit mächtigen Wäldern bedeckt sind. Kierkegaard gehörte zu der letzteren Art.“

„Sie meinen also, Kierkegaards Geist gleiche der Rosa rugosa?“
„Nicht ihren zarten Blättern. Die gehören Andersen. Aber die Stacheln und die Wurzeln sind Kierkegaards Teil.“

Gegen Ende des Gespräches tritt ein junger Mann in unsere Runde. Respektvoll hatte er gewartet, bis sein Vater das Gespräch beendet hatte. Er arbeite als Krankenpfleger, hatte er mir auf meine etwas indiskrete Frage geantwortet. Wir verabschieden uns und kehren heim. Unser Gesprächspartner, meint Undine, hätte einen guten Pfarrer abgegeben. Merkwürdig, dass es ihn nicht ins Pfarramt drängte. Er hatte von der politischen Theologie der Siebziger Jahre gesprochen. Damals wird er Theologie studiert und Kierkegaard gelesen haben. Vielleicht hat er gespürt, dass seine Zeit vorbei war, noch bevor sie begonnen hatte.

 

„Das klingt paradox“, meint Undine.
„Kierkegaard liebte das Paradox.“
„Ja, er war der letzte seiner Art.“
„Kierkegaard?“
„Nein, unser Bus- und Taxifahrer von Lystbækgaard.“
„Und Andersen?“
„Der erzählt mir jetzt die Geschichte der kleinen Else!“