Die Photos habe ich auf meiner Reise in die russische Arktis (Juli 1995) aufgenommen.

 

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"Ich habe Menschen kennen gelernt,

deren Sprache nicht nur,

deren ganze Seele eins geworden war

mit dem Cliché der Broschüren."

(Hermann Borchardt. Als deutscher Lehrer in der Sowjetunion.

Werke, Band 1, Wallstein 2021. S. 102)

 

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„Wie groß ist jetzt die Zahl der Menschen,

die, freiwillig oder unfreiwillig, nicht die Maske tragen,

die der Polizeiregisseur ihnen angelegt hat?

Die nicht lügen, nicht verleumden, nicht die Hinrichtung für ihre Freunde fordern,

nicht Unschuldige denunzieren - oder sogar sich selbst?

 

Nicht alle sind so, doch es lügen alle.

Das ist das Land, wo gegenwärtig niemand, kein einziger Mensch die Wahrheit sagen kann!“

 

(Georgy Fedotov. Der Kampf um Russlands Seele.

In: Neue Schweizer Rundschau.

Februar 1938/ Heft 10. S. 621)

 

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„Wir warfen wie Passagiere auf einem sinkenden Schiff
alles geistige Gepäck fort,
bis es auf das unbedingt erforderliche Minimum an gängigen Phrasen,
dialektischen Klischees und marxistischen Zitaten zusammengeschrumpft war,
aus dem das internationale Djugaschwili-Rotwelsch besteht.“

Arthur Koestler. Das Rote Jahrzehnt


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„Die Tyrannei der Phrase nahm immer mehr zu.“
Boris Pasternak. Doktor Schiwago

 

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"Man sah, was man sehen wollte."

Halldór Gudmundsson. Hallór Laxness

 

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Der neue Mensch im Zeitalter der Konversionen

 

Nach der Oktoberrevolution und der Ermordung der Zarenfamilie begannen Pilgerreisen in die Sowjetunion. Die mit Notizblock und Skizzenheft bewaffneten Wallfahrer sahen, was sie sehen wollten - die Geburt des neuen Menschen. In Zeitungen und Büchern, in Vorträgen und auf Kunstausstellungen berichteten sie von der Morgenröte einer neuen Zeit.

Im Mai 1923 begab sich Heinrich Vogeler (1872-1942) auf die Wallfahrt zum roten Stern. Seine Reise ins gelobte Land der Revolution eröffnete die gegenläufige Bewegung zur Flucht vieler Geistlicher und Gelehrter in den Westen. Eine Zeit der Entscheidung war gekommen. „In der Welt der Menschen fühlte man, dass sich etwas Unheilvolles vorbereitete. Es lag in der Luft wie der Hauch der winterlichen Erstarrung, den alle in diesen Tagen verspürten“, beschreibt Boris Pasternak (1890-1960) in seinem Roman Doktor Schiwago (1957) diese Jahre des sozialistischen Experiments. „Aber der Doktor machte sich keine Illusionen. Er wusste zu gut, dass das Leben von einst dem Untergang geweiht war. Er hielt sich selbst und seine Umgebung für verloren. Es galt, sich auf schwere Prüfungen, ja vielleicht auf den Tod vorzubereiten.“

Gethsemane und Golgatha, Demut und Ergebung in das Unausweichliche gehörten nicht zu Heinrich Vogelers Selbstbild. Er hatte mit der Künstlerkolonie in Worpswede eine Erfahrung des Scheiterns gemacht. Ehen zerbrachen. Der Künstler öffnete den Barkenhoff für eine sozialistische Kommune, in der auch seine Kinder untergebracht wurden. Rilke verließ Frau und Tochter. Paula Becker-Modersohn ging allein nach Paris. Bald scheiterte auch das reformpädagogische Projekt auf dem Barkenhoff. So richtete Vogeler den Blick gen Osten. In der Sowjetunion sah er seine ungebrochene Sehnsucht nach dem neuen Menschen verwirklicht. Unter dem Titel Reise durch Russland. Die Geburt des Neuen Menschen (1925) berichtet er über das, was er sehen wollte und deshalb gesehen hatte:

„Wieviel schöner und ruhiger sind hier die Menschen, denen man ins Antlitz sieht, im Vergleich zu den Menschen des Westens. Man sieht nicht diesen äußeren Glanz und dies verzweifelte Leid, aber viele, viele Hoffnungen. Freie Menschen, die das Schlimmste getragen haben, um ihren Kindern den Zukunftsweg zu sichern. (…) Das Volk sieht vor allem gesund und lebensfroh aus. Es fehlt das fette Schiebergesicht mit den Etagenfalten im Genick, dieser Typ, der in Deutschland die herrschende Klasse besonders auszeichnet.“

Vogeler schaut den neuen Menschen in vielen Gestalten und malt ihn in Komplexbildern nach Art einer Art Collage. Eine Arbeit trägt den Titel „Die Geburt des Neuen Menschen“ (1923). Sie zeigt eine nackte Muttergottes des Proletariates mit einem Neugeborenen auf den Armen. In seinem Reisebericht schildert Vogeler Szenen aus dem Leben des Homo sovieticus. Der neue Mensch verbringe seine Freizeit im Kollektiv. Man führe kein behagliches Spießerleben in der eigenen Familie. Auch die Kinder zeigten am Elternhaus wenig Interesse. Das neue Kinderland sei die Arbeitsschule. Weil das kulturelle Leben so erfüllend sei, habe kein Mann das Bedürfnis den Abend in einer Kneipe zu verbringen. Der neue Mensch lebe abstinent:

„An den großen Festtagen der Revolution, an denen ganz Moskau auf den Beinen ist, wird man nie das widerliche Bild der Säufer finden. - Wie ist das alles anders im Vergleich zu Deutschland, wo man an schwarz-rot-goldenen und an schwarz-weiß-roten Festtagen ganze Städte in Besoffenheit wanken und johlend sich betäuben sieht!“

Wo bedarf es bei dieser Selbstdisziplin noch der Ordnungskräfte? In Deutschland wüte der Polizeiknüppel. Der rote Polizist zeige Gelassenheit und Humor. Wie ein Dirigent regele er den Verkehr auf der Straße und übe so seine erzieherische Tätigkeit aus. In der jungen Sowjetunion herrsche Ordnung dank der Säuberungsarbeit von Feliks E. Dzierzyński (1877-1926), dem Leiter der Tscheka. Selbst die Straßen- und Eisenbahnen fahren ruhiger als in Deutschland.

Heinrich Vogeler reiste im Auftrag der Regierung durch die Sowjetunion. Er sah die Konzentrationslager in Karelien und die durch Raub entweihten Kirchen. Die Ikonenmalerei gehörte für ihn zur Kunst einer überwundenen Zeit. Ikonen vermauerten den Blick auf die Wirklichkeit. Der Glaube an eine jenseitige Erlösung war nun überwunden. Die Kirche galt als gegenrevolutionäre Kraft. Alle Mystik verschwand im Licht des Materialismus. Erlösung kommt nicht mehr von außen, sondern wird zur Aufgabe der Erziehung des neuen Menschen. Noch wichtiger ist die Erlösung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unwissenheit und Abhängigkeit: Arbeit macht frei! Vogeler begegnet bei einem Sanatoriumsaufenthalt in Sotschi am Schwarzen Meer einem Stachonowarbeiter und porträtiert ihn als Ikone des neuen Mannes. Ernst und konzentriert sitzt er auf einer Bank. Doch signalisiert seine Haltung, dass er sich jederzeit zu neuem Einsatz erheben wird, wenn der Ruf an ihn ergeht. Dass er zupacken kann, zeigen zwei Hände groß wie Schaufeln. Aleksej G. Stachonow (1906-1977) verkörpert den neuen Menschen als Arbeiter, der sein Soll mit vollem Einsatz mehr als erfüllt.

Vogeler siedelte in die Sowjetunion über und besuchte wiederholt im Auftrag der Regierung Zentralasien, Armenien, Kurdistan und den Kaukasus. 1940 wohnt er in der siebten Etage des „Haus der Regierung“ unter 3000 anderen Mietern. 1941 wird er in ein Arbeitslager eingewiesen. Ein Jahr später stirbt er an Auszehrung. Sein Grab ist unbekannt.

 

 


Die russische orthodoxe Kirche

 

Mit der Entthronung und der Ermordung der gesamten Zarenfamilie begann auch für die Kirche der Tsunami einer neuen Zeit. Patriarch Tichon setzte die Kommunisten in den Kirchenbann (1918). Sein Anathema bewirkte nichts. Einst verstand sich die russische orthodoxe Kirche als drittes Rom und einzig wahre Erbin der christlichen Tradition. Hier wurde das Geheimnis des neuen Menschen in Christus gehütet. Nun wurden die Bastionen geschleift. Das 19. Jahrhundert hatte Visionen vom toten Christus und den Kirchen als Grabmälern und Grüften Gottes hervorgebracht. Nun war die Zeit der sterbenden Kirche gekommen. Kirchenschätze wurden konfisziert, Kirchengebäude als Gefängnisse und Konzentrationslager des Geheimdienstes genutzt. Der Religionsunterricht und jede religiöse Betätigung wurden verboten. Geistliche Führer der Kirche und einfache Priester wurden ermordet oder in Arbeitslager nördlich des Polarkreises deportiert. Der Gulag wurde ihr Golgatha.

Die Protagonisten der Oktoberrevolution waren wissenschaftsgläubig. Religion war Opium für das Volk. Priester galten als arbeitsscheues Gesindel, das in Lagern am Eismeer zur Vernunft kommen sollte. Da gab es keine Diskussionen, sondern nur Flucht ins Ausland oder Unterwerfung. Den Kotau leistete Patriarch Tichon durch eine Erklärung in der Izvestija (27. Juni 1923). Sie bildet das Muster jener Selbstbezichtigungen, nach denen die Moskauer Schauprozesse ablaufen sollten. Tichon bekannte sich schuldig in Worten, Gedanken und Taten. Er habe antisowjetisch gedacht und gehandelt. Jetzt bereue er diese Handlungen gegen die Staatsordnung. Ausdrücklich distanzierte er sich auch von der ausländischen und inneren monarchistischen Kontrarevolution der Weißgardisten.

Als Martyrium der Lüge bezeichnete Edzard Schaper diese Kapitulation vor der Diktatur. Um die Gemeinden vor Verfolgung zu schützen, schien taktisches Verhalten, Verstellung und Verrat erlaubt. Auch die evangelisch lutherische Kirche in der Sowjetunion ging diesen Weg der Anpassung. Es sollte ihr nichts nützen. Von den einst 210 Pastoren im Land, gab es im Jahr 1937 nur noch einen. Paul Reichert war der letzte Pastor der Leningrader St. Petri-Kirche und Mitarbeiter des Geheimdienstes. Mit seinem Sohn Bruno wurde er erschossen. Nicht einmal die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten rettete das eigene Leben. Die Lage der Christen war aussichtslos. Da half keine Diplomatie, nur noch der Gang in den Untergrund.

Tichon starb bald nach seiner Erklärung als gebrochener Mann. Das Moskauer Patriarchat blieb zwischen 1925 und 1943 ohne Patriarchen. Sergij, Metropolit von Niznij-Novgorod, führte nun die Amtsgeschäfte. Er hatte einige Zeit in dem berüchtigten Butyrka-Gefängnis in Moskau sitzen müssen und passte den Kurs seiner Kirche vollkommen dem Geist der neuen Zeit an. Dennoch wurde er immer wieder unter Druck gesetzt und verhaftet. Die auf der ehemaligen Klosterinsel im hohen Norden verbannten Geistlichen hatten das „Memorandum von der Insel Solovki“ (1926) aus dem Konzentrationslager schmuggeln können. Sie erklärten die Unversöhnlichkeit der religiösen Lehre der Kirche mit dem Materialismus. Die Kirche wünsche ein Aufblühen der Religion, der Kommunismus ihre Vernichtung. Sergij aber nährte mit einer berüchtigten Erklärung (Juli 1927) die Illusion eines letzten Raumes der Freiheit. Wie die Deutschen Christen in Hitlers Machtergreifung eine Offenbarung Gottes sehen wollten, so erklärte Sergej im Namen der Orthodoxie das Ereignis der Oktoberrevolution als göttliche Fügung. „Die Einführung des Sowjetregimes erschien vielen als ein zufälliges und daher keinen Bestand habendes Mißverständnis. Die Menschen vergaßen, dass es für einen Christen keine Zufälligkeiten gibt, dass in dem bei uns vorgefallenen die Hand Gottes gewirkt hat, die ein jedes Volk ohne Umwege zu dem ihm vorbestimmten Ziel führt.“ Für diese Erklärung, die Sowjetmacht stamme von Gott, erntete Sergej unter den Kommunisten nur Spott. Die alten Muster, nach denen Sergej die Staatsmacht an sich binden wollte, hatten sich überlebt.

 

 


Martin Andersen Nexø

 

Zu den frühen Pilgern gehörte auch Martin Andersen Nexø (1869-1954). Er kannte das Leben am Existenzminimum aus eigener Erfahrung und hatte es in Pelle, der Eroberer (1906-1910) beschrieben. Pelle ist das proletarische Gegenmodell zu Jean Jacques Rousseaus Emile. Er kommt von ganz unten. Niemand fördert sein Streben und stillt seine Wissbegier. So hat er sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Pelle geht nach Kopenhagen und wird zum erfolgreichen sozialistischen Arbeiterführer. Der erste Teil einer Kindheit auf Bornholm wurde von Bille August (1987) mit Max von Sydow in der Rolle von Peles Vater eindrücklich ins Bild gesetzt. Der Vater ist wie Doktor Schiwago eine Hiobsgestalt. Weder er noch der dänische Filmemacher folgen der sozialistischen Utopie von Peles Erfinder.

Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key hatte das Jahrhundert des Kindes (1902) ausgerufen. In der jungen Sowjetunion meinte Martin Andersen Nexø die Morgenröte dieser neuen Zeit zu sehen. Bis zur Oktoberrevolution war die Geburt des neuen Menschen aus dem Geist der Revolution nur der Roman eines proletarischen Schriftstellers aus Dänemark. Nun eroberte Pelle die Sowjetunion. Nexø kam und sah in den russischen Kindern Peles Geschwister. In seiner Schrift Für die russischen Kinder (1922) betrachtet er den Klassenkampf aus Pelles Sicht:

„Das neue Russland stellte sich sofort unter das Zeichen der Verwaisten; die Errichtung von Kinderheimen gehörte zu dem ersten, was getan wurde. Russland ist heute, trotz aller Not, das Land der Kinder; die Berichte aller Augenzeugen - bürgerlicher wie revolutionärer - sind des Lobes voll über das, was für die Kinder getan wird. Kann der Proletarier sich und sein Eigenstes hierin wieder erkennen? in dieser Güte, die sich des Hilflosen, Zarten zuerst annimmt, und in dem Weitblick, der die heutige Generation sich opfern läßt für das kommende Geschlecht! Von allen Hilferufen Russlands, so warm ist keiner wie jener für die Kinder: Helft uns das heranwachsende Geschlecht stark und gesund zu machen.“

Tatsächlich aber waren Russlands Kinder ein Opfer der revolutionären Wirren. Viele Kinder hatten ihre Eltern verloren und schlugen sich nun einzeln oder in Banden organisiert durchs Land. Die Hungersnot der Nachkriegszeit verschärfte ihre Situation. Russlands große Dichterin Marina Zwetajewa (1892-1941) gab ihre beiden Töchter in ein Kinderheim, weil sie keine andere Möglichkeit für ihren Unterhalt sah. Eine Tochter verhungerte, mit der zweiten floh sie 1922 in den Westen. Die meisten Kinder trieben sich auf den Straßen herum. Sie wurden Besprizorni („Heimatlose“) genannt. Der Geheimdienst rekrutierte aus diesen entwurzelten jungen Menschen jene Spitzel, von denen bald das gesamte rote Reich unterwandert war. Boris Pasternak beschreibt die Verfolgung Doktor Schiwagos durch Besprizorni: „Grauenvoll verwilderte, in Lumpen gekleidete Bauernkinder folgten ihm in einiger Entfernung. Sie warfen einander Blicke zu, als wollten sie beraten, wann sie über den Doktor herfallen sollten, um ihn zu zerreißen. Sie nährten sich von Aas, empfanden aber auch keinen Widerwillen gegen die Mäuse, die die Felder aufwühlten, und von ferne spähten sie auch den Doktor aus, folgten ihm zuversichtlich, als erwarteten sie etwas von ihm.“ Schiwago wird nie erfahren, dass seine Tochter ein gleiches Schicksal erleiden wird.

Joseph Roth (1894-1939) romantisierte die „Heimatlosen“. Im Auftrag von Benno Reifenberg unternahm er von August bis Dezember 1926 eine Reise durch die Sowjetunion. Seine Berichte erschienen unter dem Titel Reise in Russland in der Frankfurter Zeitung. Der Autor der Legende vom heiligen Trinker befand sich in einer schweren familiären Krise, als er auf einem Wolga-Dampfer bei Nishnij-Nowgorod den obdachlosen Kindern, „die von der Luft und vom Unglück leben“ begegnete. In der Nacht wirft er einen Blick in den schäbigen engen Schlafraum und erfährt beim Blick in die Gesichter der Schlafenden eine Art Erweckungserlebnis: „In der Nacht aber weht eine Andacht durch ihn. So heilig sieht die schlafende Armut aus. Auf allen Gesichtern liegt das Pathos der Naivität. Alle Gesichter sind wie offene Tore, durch die man in weiße, klare Seelen sieht.“

Der ehemalige Lehrer Nexø neigt nicht zu Verklärungen dieser Art. Peles Geschwister sollten in Kinderheimen und Arbeitsschulen zum Urbild des sozialistischen Menschen geformt werden. Arbeit galt als Weg zur Freiheit. Das Programm einer Resozialisierung durch Arbeit galt auch für die ersten Konzentrationslager. 1923 wurde auf einer von Mönchen bewohnten Inselgruppe im Weißen Meer das erste Arbeits- und Umerziehungslager gegründet. Hier auf den Solowezki-Inseln wurden vor allen Dingen Geistliche interniert.

Erziehung durch Arbeit bestimmte auch das Programm von Anton S. Makarenko (1888-1939). Er wirkte seit 1920 als Pädagoge in der Gorki-Kolonie Poltawa. In aufgelösten Klöstern wurden weitere Erziehungsanstalten errichtet und Jugendliche zu Spitzeln und Agenten des Geheimdienstes ausgebildet. Die Kolonie Dzierżyński in Charkow war eine Kaderschmiede der Tscheka. Mit ehemaligen Zöglingen dieser Kommune entstand das pädagogische Poem Der Weg ins Leben (1931) als erster sowjetischer Tonfilm unter der Regie von Nikolai Ekk. Im Jahr 1931 betreute die große Bolschewno-Kommune 2000 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. 1936 waren es 5000 Jugendliche. Bolschewno gehört zum Pflichtprogramm der Wallfahrer aus dem Westen.

Martin Andersen Nexø besuchte Kinderheime und Konzentrationslager. Am 12. August 1922 begab er sich mit George Grosz auf die Reise. Sie wählten den Seeweg über das Nordkap und erreichten die russische Hafenstadt Murmansk. Grosz war von den Zuständen in der Sowjetunion schockiert, trennte sich von seinem Reisegefährten, fuhr nach Deutschland zurück und trat aus der KPD aus. Nexø aber ließ sich durch das Land führen und kehrte in den folgenden Jahren immer wieder in die Sowjetunion zurück.

Am Nordufer des Onegasees besuchte er die Silberfuchsfarm Karhumäki. Dieses Arbeitslager mitten im Wald „ist von Gefangenen angelegt, von Menschen, die sich auf verschiedene Weise gegen die Gesellschaft vergangen haben und hier eine Gelegenheit erhielten, sich durch Gründung einer kleinen Gemeinschaft wiederaufzurichten.“ Dann besichtigt Nexø die gigantische Baustelle des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Die Bauleitung hatte der Staatssicherheitsdienst (GPU, Tscheka). Nexø weiß von 30000 Opfern dieser Schinderei. Wer überlebte, der sei mit dieser Arbeit gewachsen. „In der Geschichte der Arbeit wird der Weißmeer-Ostsee-Kanal stets als eine gewaltige Leistung gelten, und diese Leistung ist von ‚Zuchthäuslern‘ ausgeführt worden oder von ‚Entgleisten‘, wie sie in der Sowjetunion genannt werden. Er ist ihr großer Aufbaubeitrag. Sie sind gewachsen bei dieser Arbeit; viele von ihnen sind dabei zu Führern der schaffenden Gesellschaftskräfte geworden.“

Der Kanalbau als Erziehung des Menschengeschlechtes: Nexø preist die Meister der Schaufel. Dass ihre Leistung „von Gefangenen vollbracht wurde, von aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, die hier Gelegenheit erhielten, sich durch eine soziale Großtat ihren Platz in der Gemeinschaft zurückzuerobern - das hebt sie ins Außergewöhnliche und sichert ihr dort einen Platz als gigantischen Versuch der Menschenerziehung, wie er in der Geschichte noch nicht vorgekommen ist.“ Für jede Sünde wider den Geist des Kommunismus kann es Vergebung durch die Arbeit mit der Schaufel geben. Dann wandelt sich der Kriminelle nicht nur zu einem wertvollen Mitglied des Kollektives, er wird im Arbeitslager den Sinn des Lebens finden. Nexøs Führer durch den Gulag spricht sogar von Liebe:

„Sie müssen wissen, dass die Gefangenen hier den Kanal liebten; sie dachten an nichts anderes, manche sprachen im Schlaf von ihm. Der GPU war es wirklich geglückt, auch den Stumpfesten klarzumachen, dass sie an einem großen Werk mitwirkten. Nun mag es sehr wohl sein, dass viele Menschen deshalb zu Verbrechern werden, weil sie dem Drang nachgeben, ihr allzu tristes Leben mit ein wenig Spannung zu versehen. Hier oben gab es Spannung genug: Kälte, Stürme und Überschwemmungen drohten ständig unsere Arbeit zu vernichten.“

In Petrosawosk, Zarskoje Selo, Petrograd, Moskau und Samara besuchte Nexø Arbeitsschulen für Kinder und Jugendliche. Staaten im Kleinen nennt er diese Einrichtungen der Tscheka. Alle Elternbindungen sind hier überwunden. „Im neuen Russland sind alle Erwachsenen aller Kinder Eltern.“ Religiöse Erziehung ist verboten. Die Geistlichen gelten als arbeitsscheues Gesindel. Nexø kann sie nicht riechen wie jenen Popen, der „ungewaschen wie ein katholischer Mönch und nach Tabak wie ein protestantischer Pfarrer“ roch.

Die neue Welt kennt nur ein Evangelium. „Die revolutionäre Weltbewegung umfaßt Neger, Mohammedaner und Inder ebensosehr wie Juden und Germanen; seine Internationalität ist gerade das Erstaunliche am heutigen Russland. Auf den Kongressen in Moskau begegnen der Neger aus dem Feuerland und der Gelehrte von einer deutschen Universität dem Grubenarbeiter aus einem englischen Bergwerk zu Erörterungen auf allgemein menschlicher, auf kommunistischer Grundlage; an den Moskauer Universitäten studieren Vertreter aller merkwürdigsten Rassen und Völker, die unsere Erde aufzuweisen hat. Neben der freien Amerikanerin sitzt dort eine Haremsdame aus dem Orient, die noch zittert unter dem Eindruck der gewaltigen Daseinsumwälzung, die ihr den Mut verlieh, den Schleier abzuwerfen.“

Nexø hat auch die stalinistischen Schauprozesse verfolgt. 2,5 Millionen Menschen wurden in die Vernichtungslager deportiert, über 700000 zum Tod durch Erschießen verurteilt. Dem zweiten Moskauer Prozess (1937) konnte er beiwohnen. Wie Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Bertolt Brecht rechtfertigte er die Prozesse.

 

 

 

 

Oskar Maria Graf

 

Oskar Maria Graf (1894-1967) gehörte zu den Gästen des Unionskongresses der Sowjetschriftsteller (1934). Über seine Erfahrungen berichtete er später freimütig in sehr gut besuchten Vorträgen: Wie ein Bayer Sowjetrussland erlebte. Oskar Maria Graf war ein Hüne und Schwergewicht. Auf einem gemeinsamen Photo mit dem trinkstarken Katholiken mutiert Brecht zu einem kleinen Wicht. Graf hatte durchaus Sympathie für die kommunistische Idee. Auch er besuchte Bolschewo, sah in den verwaisten Streunern ein Spiegelbild seiner Kinderjahre und wollte den neuen Menschen in der neuen Welt erkannt haben. Doch ließ er sich von dem pseudoreligiösen Kult nicht blenden. Der Bayer in der Lederhose und mit dem Gamsbart am Hut hatte sich in die lange Schlange der Wartenden vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz eingereiht. Als er in diesem Altötting des roten Reiches vor dem wächsern schimmernden starren Gesicht Lenins steht, überfällt ihn die Vorstellung, die in Ehrfurcht und Andacht verharrenden Menschen würden sich im nächsten Moment bekreuzigen und auf die Knie sinken.

„Er, der den Massen immer eingehämmert hatte, Religion sei Opium fürs Volk, und da hat man, wie um ihn im Tode zu verhöhnen, seinen Körper als Reliquie ausgestellt! Lenin! Lenin! Eine Welt für Millionen! Und herabgewürdigt zum pfäffischen Kult! Ihn! Ihn! Nein, das ist nicht mein Lenin! Das ist nicht unser aller Lenin! Nein, nie und nimmer!“

Die westlichen Besucher wurden von Dolmetschern durchs Land geführt. Sie konnten viel erzählen. Doch ließ sich Oskar Maria Graf nichts vormachen. Nicht nur im Wein Grusiniens liegt Wahrheit, auch im Bier und im Wodka. Maxim Gorki wurde Grafs Saufkumpan und auch auf dem Land öffnete sich manch verschlossener Revolutionsführer im Morgengrauen einer durchzechten Nacht. „Nur im Trinken können sich die Menschen nicht mehr verstecken!“, wusste Graf. Er ließ sich auch nicht von Klaus Mann blenden, der an der Seite von Annemarie Schwarzenbach („eine schreibende Millionärstochter aus der Schweiz“) einen kurzen Auftritt auf dem Schriftstellerkongress hatte.

„Klaus Mann? Ich erinnerte mich seiner aus München. Wir sahen uns immer nur von weitem. Er und die Jugend um ihn, die damals auftrat, waren mir zuwider. Es war eine überzüchtete, höchst unentschiedene Generation. (…) Alles an ihm schien ein bißchen manieriert, aber es wurde abgedämpft durch einen klug witternden Geschmack. Der ganze Mensch hatte etwas Ruheloses, überhitzt Intellektuelles und vor allem etwas merkwürdig Unjugendliches. Was ich von ihm bisher gelesen hatte, verriet die unverarbeitete Stiltradition, die er von seinem Vater und teilweise von Heinrich Mann übernommen hatte, alles war noch wenig eigen, zwar untadelhaft, aber kernlos.“

Friedrich Sieburg berichtet in seinem Buch Die Rote Arktis (1932) von einem prometheischen Streben im Dauerzustand der totalen Mobilmachung. Ein jugendlicher Typ in einer Atmosphäre von Marschbereitschaft und Kriegslust wachse heran. Er kenne weder Zögern noch Zweifel, denn er glaube sich im Besitz der absoluten Wahrheit und wisse sich von der Geschichte erwählt. Er ist die Avantgarde der Menschheit. „Dies Gefühl, als einziger auf dem richtigen Weg zu sein, berauscht ihn. Es erfüllt seine Seele mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der in einer Welt von Kranken der einzig Gesunde zu sein glaubt. Für ihn ist alles Zukunft. Wir sind für ihn Vergangenheit.“

Die Feindschaft gegenüber jeder Religion betraf nicht nur das Christentum. Auf einer Reise ans Kaspische Meer trifft Oskar Maria Graf muslimische Bevölkerungsgruppen. Der bayerische Schriftsteller vermisst den Anblick verschleierter Frauen in Plunderhosen. Sie gehören für ihn zum Zauber des Orients. Der politische Kommissar informiert ihn über die neuen Verhältnisse. Da die neue Arbeitswelt zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied mache, sei es auch für die Muslima in der Sowjetunion selbstverständlich, den Schleier und die Plunderhose gegen einen Blaumann zu tauschen. Diese Inkulturation geschah nicht ohne blutige Exzesse in den Familien, erfährt der Besucher. „Die Älteren, noch ungeheuer religiös fanatisiert, ermordeten ihre eigenen Kinder auf grauenhafte Weise. Eine Lehrerin im bolschewistischen Klubheim Ali Beiram berichtete uns von der Ermordung ihrer Schwester durch die Eltern. Man zerschnitt das blühende Geschöpf in Stücke und warf es den Hunden zum Fraße vor! Aber allmählich siegte doch der moderne Geist.“

 

 

Arthur Koestler

 

Die Sowjetunion brauchte Devisen. So wurde Holz aus Karelien exportiert. Man überlegte den Bau von Sanatorien in der keimfreien Luft der Arktis. Auf Novaja Semlja wurden Bergwerke errichtet, in denen sich Menschen zu Tode arbeiteten. Der Export von Bodenschätzen ging über Murmansk und das Nordkap in den Westen. Zugleich erkundete man Möglichkeiten für den Handel mit Japan, China oder den USA über die Nordostpassage. Am nördlichsten Punkt der Sowjetunion wurden militärische Stationen errichtet.

Nachdem das Zeitalter der großem Arktis- und Antarktisreisen abgeschlossen war, engagierte sich die Sowjetunion in der wirtschaftlichen Eroberung der nördlichen Polarregionen. Dazu bedurfte es Schiffe, die mühelos das Eis durchflügen konnten. Unter der Leitung von Rudolf L. Samoilowitsch (1881-1939) hatten sich die drei Eisbrecher Krassin, Malygin und Sedow aufgemacht, um den italienischen Luftschiffer Umberto Nobile (1885-1978) zu retten. Er war im Sommer 1928 mit seiner Mannschaft bei dem Versuch, den Nordpol mit dem Zeppelin Italia zu erreichen, abgestürzt. Zwei Jahre zuvor hatte er mit dem Luftschiff Norge und Roald Amundsen zum ersten Mal den Nordpol erreicht. Roald Amundsen brach nun mit einem Flugzeug zur Rettung auf und verlor bei der Aktion sein Leben. Nobile und seine Männer konnten durch den Eisbrecher Krassin gerettet werden. Da er in Italien verachtet wurde, bot ihm die Sowjetunion Asyl.

Nobile und Samoilowitsch gehörten auch zu den Begleitern einer spektakulären Reise in die Rote Arktis mit Eisbrecher und Zeppelin. Durch Luft und Eis sollten ihre Wege nach Franz-Joseph-Land führen, wo sich die Expeditionsteilnehmer vor der Station Kap Flora auf Hooker-Land treffen sollten. Hugo Eckener, unter dessen Leitung der LZ 127 Graf Zeppelin (24.-31. Juli 1931) vom Bodensee aufbrach, hatte das Unternehmen durch 70000 Briefmarken finanziert. Sie wurden in der Arktis auf Ersttagsbriefen abgestempelt. Neben Samoilowitsch und den berühmten russischen Arktisexperten Ernst Krenkel und Pawel Moltschanow befand sich Arthur Koestler an Bord. Der junge polyglotte Journalist flog im Auftrag der Vossischen Zeitung und erlebte auf der Reise seine Bekehrung. Im Dezember 1931 wurde er in Deutschland Mitglied der KPD. Im Sommer 1932 siedelte er in die Sowjetunion über und veröffentlichte hier seinen Reisebericht „Von weißen Nächten und roten Tagen“ (1934) im Staatsverlag der deutschen Minderheiten in der UdSSR. „Die weiße Arktis beginnt sich rot zu färben“, jubelte Koestler. Er spricht von der wachsenden Bevölkerung in den Polarregionen und wird erst Jahre später in seiner Revision die Ursache dieses Bevölkerungswachstums benennen: Der Zeppelin fliegt über die Lager von Karelien. Koestler aber sieht nur sozialistische Siedlungen und eine Humanisierung der eisigen Einöden. Denn der Mensch brauche den Menschen. Die Arktis sei kein Raum für Polarmystiker. „Wenn man alle Propheten des Individualismus und alle Poeten, die die Einsamkeit verherrlichen, von Nietzsche bis Rilke, zwänge, nur ein Jahr da oben zu verbringen - der Individualismus würde bald ausgesprochen sein.“

Auf dem Eisbrecher Malgin fährt Friedrich Sieburg als Berichterstatter mit. Zu den Begleitern gehören neben Umberto Nobile reiche amerikanische Touristen. Sie sind Vorboten des kommenden Arktis- und Antarktis-Tourismus, der besonders von den Folgen der Klimaschwankungen profitiert. Friedrich Sieburg sieht die Strafgefangenen und berichtet auch über sie in seinem Buch „Die Rote Arktis“ (1932). In unvorstellbarer Härte und mit bloßen Füßen verrichten sie ihre Arbeit. „Sie alle hatten den völlig leeren Blick von Menschen, die schwere Lasten tragen. Nichts schien ihre Aufmerksamkeit erregen zu können. Selbst wenn sich vor ihnen ein Abgrund geöffnet hätte, sie hätten ihm keinen Blick geschenkt, sondern wären weiter und ins Bodenlose gegangen.“

Sieburg besucht eine Kirche in Archangelsk. Sie ist in ein antireligiöses Museum umgewandelt. Er dokumentiert die Umweltverschmutzung, Müllhaufen am Meer, Petroleumtonnen, leere Flaschen und Kisten, Konservenbüchsen. Unter den jungen Menschen bemerkt er eine Atmosphäre von Marschbereitschaft und Kriegslust. Ein prometheisches Streben im Dauerzustand der totalen Mobilmachung. Ein jugendlicher Typ in einer Atmosphäre von Machtbereitschaft und Kriegslust wachse heran. Er kennt weder Zögern noch Zweifel, denn er glaubt sich im Besitz der absoluten Wahrheit und er weiß sich von der Geschichte erwählt. Er ist die Avantgarde der Menschheit. „Dies Gefühl, als einziger auf dem richtigen Weg zu sein, berauscht ihn. Es erfüllt seine Seele mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der in einer Welt von Kranken der einzig Gesunde zu sein glaubt. Für ihn ist alles Zukunft. Wir sind für ihn Vergangenheit.“

Die Moskauer Prozesse werden zeigen, wie rasch vergessen auch die Verdienste alter Genossen sind. Zu ihrer Verurteilung bedarf es keiner Begründungen. Diese werden von den zu Unrecht verurteilten Menschen in den unglaublichsten Selbstbezichtigungen geliefert. Zu den Opfern der stalinistischen Säuberungen gehörte auch Rudolf L. Samoilowitsch. Der mit dem „Roten Banner der Arbeit“ ausgezeichnete Arktisexperte wurde 1938 ohne Grund verhaftet und ein Jahr später erschossen. In seinem berühmten Roman „Sonnenfinsternis“ („Darkness at noon“ 1940) schildert Arthur Koestler den Ablauf eines schleichenden Prozesses der Selbstzermürbung. Zu Beginn der Gefangenschaft erhebt Nicolas S. Rubaschow noch eine umfassende Anklage:

„Der Lebensstandard der Massen ist niedriger, als er vor der Revolution war; die Arbeitsbedingungen sind härter, die Disziplin unmenschlicher; die Akkordschinderei schlimmer als die von Kulis in kapitalistischen Kolonien; wir haben die Altersgrenze für die Todesstrafe auf 12 Jahre herabgesetzt, unsere Sexualgesetzgebung ist spießiger als die Englands, unser Führerkult byzantinischer als unter konterrevolutionären Diktaturen. Unsere Presse und unsere Schulen züchten Chauvinismus, Militarismus, Dogmatismus, Konformismus und Ignoranz. Die willkürliche Macht in den Händen unserer Regierung ist unbeschränkt und beispiellos in der Geschichte; Presse-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit sind so gründlich abgeschafft, als ob es niemals eine Erklärung der Menschenrechte gegeben hätte. Wir haben den gigantischsten Polizeiapparat der Geschichte aufgebaut, die gegenseitige Bespitzelung zu einer nationalen Institution erhoben und physische und geistige Folter zu einem wissenschaftlichen System aufgebaut.“

Diese Anklagepunkte müssen nicht widerlegt werden. Im Verlauf der Gefangenschaft und der Verhöre verflüchtigen sie sich in einem Amoklauf der Vernunft, die sich vor der Unfehlbarkeit der Partei schuldig spricht und sich in einem letzten Dienst als Sündenbock zur Opferung darbietet.

Arthur Koestler hat in dem Rechenschaftsbericht „Das rote Jahrzehnt“ („The God that failed“ 1949) seine Moskauer Jahre beschrieben. Ein neuer Stern von Bethlehem sei für ihn aufgegangen und habe ihn in den Zustand der Gnade versetzt. Die Menschheit teilte sich für ihn in Erwählte und Verworfene. Mit diesen verlorenen Seelen war ein Gespräch weder nötig noch möglich. „Mit ihnen zu diskutieren oder auch nur ihnen zuzuhören, hieß mit dem Teufel paktieren.“ Koestler diente der Partei für einige Jahre als Agent in Paris und übernahm die Vorgaben einer genderneutralen und vereinfachten Sprache, die sich an der Idee des „Proletariers“ orientierte. „Der Proletarier nahm in der KPD gewissermaßen die Stellung der ‚Arier‘ ein“. Der neue Stil sollte jedem Müllkutscher verständlich sein. „Wir warfen wie Passagiere auf einem sinkenden Schiff alles geistige Gepäck fort, bis es auf das unbedingt erforderliche Minimum an gängigen Phrasen, dialektischen Klischees und marxistischen Zitaten zusammengeschrumpft war, aus dem das internationale Djugaschwili-Rotwelsch besteht.“

 

 

 


Maxim Gorki

 

Maxim Gorki hatte im Sommer 1929 eine sechswöchige Reise Durch die Union der Sowjets unternommen und Gegenden besucht, wo ihm bereits beim Zuschauen der Trinkgelage übel wurde. Vor diesem Hintergrund hebt er die erzieherische Leistung der Lager hervor. Er besucht verschiedene „Verwahrlostenkolonien“, in denen Waisen und Kinder von Alkoholikern aus dem Bürgerkriegs- und Hungerjahren zu neuen Menschen erzogen werden. Verlorene Söhne und Töchter werde es in Zukunft nicht mehr geben und auch keine Vater-Sohn-Konflikte dank Aufhebung der traditionellen Familienstrukturen in dieser „Republik der Strolche“. Auch Gorki sieht in den Zöglingen ein Spiegelbild seiner eigenen schweren Kindheit. Und irgendwie sind diese häßlichen Entchen alle hochbegabt. Ihr bisheriges asoziales Verhalten, ihre Verhaltensauffälligkeiten, ihre Disziplinlosigkeit war nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit und die Bitte um Förderung ihrer verborgenen Talente. Gerade ihre Begabung war die Ursache für ihr Scheitern. Das wird nun anders. Im Nikolo-Ugreschskij-Kloster besucht Gorki eine Kolonie von 1300 „Verwahrlosten“. In Charkow bewundert er die paramilitärische Erziehung Anton Makarenkos. Aus kleinen Dieben, Vagabunden, Anarchisten und jungen Prostituierten werden hier werktätige Menschen: Schweinezüchter, Traktoristen, Sanitärer, Schuster, Wächter, Hirten, Schlosser oder Feld- und Gartenarbeiter. Die junge Tischler fertigen 12000 Kisten für eine Sprengstofffabrik. Gorki beschreibt Makarenko als strengen und wortkargen Menschen, der seine Kolonie nach dem Vorbild von Kriegsschulen führe. Um sechs Uhr wird zum Wecken geblasen. Nach dem Frühstück versammeln sich die junge Pioniere auf dem Hof zum Fahnenappell.

In den Lagern Makarenkos wurden sogenannte Gottlosenzirkel gegründet. Ihre Aufgabe war die Ausbildung von Missionaren des wissenschaftlichen Materialismus. Edzard Schaper beschreibt ihr Selbstverständnis in seinem Roman Die sterbende Kirche (1936). Religion galt als Illusion. Das behauptete auch Sigmund Freund mit seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion“ (1927). Mit ihr trug er zur Destabiliierung und Demontage der verfolgten Kirche nicht unwesentlich bei. Auch das Judentum verschonte er nicht mit einem Wahrheitsfanatismus, als er mit seiner Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) den Propheten vom Sinai zum Ägypter erklärte.

In den Lagern saßen auch viele Kinder von Geistlichen. Aufgeklärt durch die neue Erziehung sollten sie ihre Väter beeinflussen. Wer sich vom Glauben lossagt, kann nach einiger Zeit die bürgerlichen Rechte wiedergewinnen. Am 20./21. Juni 1929 besucht Gorki das Lager Solowki. Für ihn ist das ehemalige Kloster ein Ort des konservativen Obskurantismus. Gorki berichtet von angetrunkenen Mönchen, „schwarze Schmarotzer“, mit Schweinsäuglein und wolllüstigem Blick. Die Sklavenarbeit sieht er nicht. Eigentlich sind diese letzten Vertreter ihrer Art keiner Erwähnung wert. „Nun, was sind schon Mönche? Auch Mücken leben!“ Den anderen Deportierten aber gilt das Angebot, durch Teilhabe an der Umerziehung ein neuer Mensch zu werden. „Fast sämtliche Inselbewohner sind Kriminelle, die ‚Politischen‘ sind Konterrevolutionäre emotionalen Typs, ‚Monarchisten‘ - die Leute, die man vor der Revolution ‚Schwarzhunderter‘ nannte. Unter ihnen gibt es auch Terroristen, ‚Wirtschaftsspione‘, ‚Schädlinge‘, überhaupt ‚übles Gewächs‘, das die gerechte Hand der Geschichte ‚vom Felde fegte‘.“ Verbrecher sind das Produkt der Klassengesellschaft. Ihr Fehlverhalten wird als soziale Krankheit gesehen. Gemeinsam mit der Arbeitskommune Bolschewo leistet das Sonderlager Solowki diese „grundlegende psychische Umformung von Menschen, die ihre Vergangenheit zu Anarchisten gemacht hat. Sozialgefährliche werden zu sozial Nützlichen, professionelle ‚Rechtsverletzer‘ zu qualifizierten Arbeitern und bewußten Revolutionären. Solowki ist „die Vorbereitung für die höhere Lehranstalt - die Arbeitskommune Bolschewo.“ Ziel dieser Formung des neuen Menschen ist letztlich die Abschaffung aller Gefängnisse.

In seinem Reisebericht erwähnt Gorki nicht die Begegnung mit einer ehemaligen Mitarbeiterin, der polyglotten Religionswissenschaftlerin, Historikerin und Schriftstellerin Julija N. Danzas (1879-1942). 1907 war sie Hofdame der Zarin geworden, leitete während des Krieges ein Feldlazarett des Roten Kreuzes, nahm als erfolgreiche Reiterin und Säbelfechterin an den Einsätzen eines Kosakenregiments teil. Nach der Revolution arbeitete sie als Bibliothekarin in Petrograd. Ihre Konversion zur Russischen Katholischen Kirche führte zu einer Verhaftung wegen konterrevolutionärer Tätigkeit. Nach einer Odyssee durch mehrere Gefängnisse und Lager kam sie 1928 nach Solowki, wo sie ein Jahr später Gorki in der Bibliothek traf. Ob er sich hinter den Kulissen für ihre Freilassung eingesetzt hat, ist unbekannt. 1932 arbeitet Danzas als Buchhalterin in einer Autowerkstatt und kann 1934 für einen erheblichen Betrag an Devisen freigekauft werden. In Frankreich tritt sie in ein Kloster der Dominikanerinnen ein. Ab 1939 lebt sie als Wissenschaftlerin in Rom. Ihre Bücher wie „Katholische Gotteserkenntnis und marxistische Gottlosigkeit“ finden keine Beachtung.

Am 20. Juni 1936 hält André Gide (1869-1951) neben dem Lenin-Mausoleum eine der vielen Gedenkreden auf Gorki. Anschließend unternimmt auch er die übliche Rundreise. Sein unkritischer Bericht Zurück aus Sowjetrussland löste Kopfschütteln unter westlichen Lesern aus. Daran ändere sich auch nicht viel, als Gide ein Jahr später seine Retuschen zu meinem Russlandbuch nachschob. Er besucht die entweihten Kirchen, das antireligiöse Museum in der Leningrader Isaak-Kathedrale, das archäologische Museum in der Kirche von Chersones/Krim. Unter einem Christusbild bemerkt er den Kommentar „Legendäre Gestalt, die niemals existiert hat.“ In einer Kirche von Sotschi sieht er Tangotänzer vor dem Hochaltar.

Getanzt wird auch im Moskauer Luna-Park. Gide besucht Arbeiterclubs, Kindergärten und Dorfschulen, Erholungsheime und einen Vergnügungspark für das Proletariat. Gide übersieht nicht die starke egalitäre Tendenz, die auch in der Kleidung Ausdruck findet. „Jeder gleicht jedem“, weil alle nach der sozialen Nivellierung in der klassenlosen Gesellschaft die gleichen Bedürfnisse haben. Das Warten in langen Schlangen werde zu einem puren Genuss. Nachdenklichkeit kommt nicht auf. Denn die Prawda erklärt jeden Morgen, was zu wissen, zu denken und zu glauben ist. „In diese Masse tauche ich ein; ich nehme ein Menschheitsbad.“ Im Luna-Park wird nicht nur getanzt. Es gibt Turn- und Klettergeräte, Schwimmbäder, ein Feld für Volleyballspieler, kleine Eisenbahnen und Schiffe, Schautafeln für alle Gebiete der Wissenschaft und einen Rezitator, der Verse aus dem Nationalepos Eugen Onegin vorträgt. Neben ihm erhebt sich ein Turm für Fallschirmspringer 40 Meter in die Höhe. Auf einer Freilichtbühne wird Theater gespielt. Gide stehen vor Ergriffenheit die Tränen in den Augen. Tränen der Liebe und der Zärtlichkeit: „Kann es anderswo auf der Welt eine so reizende Jugend geben?“

 

 

Halldór Laxness

 

Zu Stalins Verehrern gehörte auch der isländische Schriftsteller Halldór Laxness (1902-1998). Sein Leben und Werk sind ein Spiegel des Jahrhunderts der Extreme. „Laxness war groß in seinen Idealen, seinen Werken - und in seinen Fehlern“, schreibt sein Biograph Halldór Gudmundsson (*1956). Der spätere Nobelpreisträger des Jahres 1955 begrüsste die stalinistischen Prozesse und er lobte den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion. In seinem Reisebericht aus dem Jahr 1933 „Auf östlichen Pfaden“ („Í austurvegi“) lobt er die Zufriedenheit des russischen Volkes mit seiner Regierung, „es regiert sich ja auch selbst - es sind Arbeiterräte, die hier das Sagen haben; und die Armee - die auch aus Arbeitern besteht, Männern und Frauen, womit keine Gefahr besteht, dass sie auf sich selbst einprügelt oder schießt, wie die Armee auf die Arbeiter in Deutschland. Alle scheinen hier ihre Rote Armee zu lieben, und ich habe noch nie eine so nahe und lebendige Beziehung zwischen dem Volk und den Soldaten erlebt. Und das rege Treiben hier! Überall wird gesungen, Hurra gerufen, die Kinder, die Arbeiter, die Jugendvereine, die Soldaten, alle singen. Es ist ungeheuer erfrischend zu erleben, wie ein Volk so ganz im Glück seiner Aufbauträume aufgeht - besonders wenn man zusieht, wie die unglaublichsten Träume in ihren Händen Wirklichkeit werden.“

Selbst die Träume der Kinder sind schöner als im kapitalistischen Westen. Sie kennen keine Unruhe und keine Albträume, sondern schlafen einfach die Nacht durch. In Briefen berichtet Laxness ausführlich von dieser Pilgerreise ins gelobte Land. Sie zeigen, schreibt sein Biograph, „dass er das sah, was er zu sehen erhofft hatte.“ Das gilt besonders für die zweite Reise im Winter 1937/38, wo er begleitet von einer Dolmetscherin am Prozess gegen Nikolai Bucharin teilnehmen wird. „Es ist wie das Märchen von Aladin und der Wunderlampe in Tausendundeine Nacht. Ich habe noch nie im Leben etwas so Märchenhaftes erlebt,“ schreibt er in seiner Reportage „Russisches Abenteuer“.

Halldór Laxness erreichte ein hohes Alter. Er hat sich später von seinen sowjetischen Abenteuern distanziert: „Der Bucharin-Prozess war eines der seltsamsten Schauspiele, denen ich beigewohnt habe. Über der Szene lag eine gespenstische Irrealität, als ob die Teilnehmer nur Luftgebilde seien. In allem, was geredet wurde, war ein hoher Ton. Die marxistischen Floskeln und Wendungen, von Richtern und Angeklagten ähnlich dem religiös-dogmatischen Geschwätz bei der Inquisition des Mittelalters gehandhabt, ließen das Ganze als maschinellen Automatismus erscheinen - bar jeder Menschlichkeit, so dass ich beinahe das Gefühl hatte, unter Menschen aus Luft zu sein.“

 

 

Что делать? - Tschto delat?

 

Es ist ein Leichtes, den Berichterstattern ideologische Verblendung vorzuwerfen und dabei den Balken im Auge unserer Zeit zu übersehen. Die Tyrannei der Phrase feiert noch immer Triumphe. Deshalb erzählen die Reisen in die sowjetische Vergangenheit von der Gegenwart einer Illusion. Was kann der Einzelne tun? Boris Pasternak erprobte mit der Figur des Doktor Schiwago letzte Haltungen gegenüber dem Unabwendbaren. Er schließt sich keiner der Parteien an und dient als Arzt, wo Menschen Hilfe benötigen. Auf der „Suche nach Ruhe“ erprobt er vergeblich im verborgenen Winkel von Warykino die Flucht aus der Zeit. Am Ende wird auch er sein Leben verlieren. Doch in seinem Leidensweg hat er die Liebe erfahren und ihr in seinen Gedichten Gestalt verliehen. Diese Erfahrung „der erhabenen Reinheit des Lebens“ unter grausamen Bedingungen war keine Illusion.