Märzenbecher im Heber/Ambergau am 28. März 2021
Hans Blumenberg (1920-1996) entstammte einem alten Hildesheimer Geschlecht, das seit vielen Generationen Priester hervorgebracht hatte. Sein Vater hatte in der Lübecker Diaspora einen Handel mit religiöser Gebrauchskunst aufgebaut. Der junge Blumenberg wuchs unter Marien- und Engelbildern auf. Er war durch das strenge Exerzitium einer katholischen Grundschule mit allmorgendlicher Messe gegangen. Er diente am Altar und engagierte sich während des Kirchenkampfes in seiner Heimatgemeinde Herz Jesu durch Vortragstätigkeit.
Die Reifeprüfung 1939 hatte er als bester Schüler in Schleswig-Holstein bestanden. Das Datum fiel auf den Tag der Erwählung Pius XII., eines Papstes, den Blumenberg schätzte. Blumenbergs Mutter war eine jüdische Konvertitin. So weigerte sich der Schulleiter, dem Primus das Reifezeugnis öffentlich auszuhändigen. Diesen Affront konnte Blumenberg der Schule und der Stadt nicht vergeben. Er blieb unversöhnt auch mit seiner eigenen Leidensgeschichte, von der er zwischen den Zeilen in seiner „Matthäuspassion“ (1988) erzählt.
Der junge Blumenberg spürte die Berufung als Priester. Schon als Student besaß eine theologische Bibliothek mit 1200 Bänden. An der Jesuitenhochschule St. Georgen nahm er das lateinische Studium der katholischen Theologie auf. Von dieser Prägung zeugen seine frühen Hauptwerke „Die Legitimität der Neuzeit“ (1966) und „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975). Ein theologisches Examen durfte er aus rassistischen Gründen nicht ablegen. So wählte er die Philosophie und wurde er nach dem Krieg einer ihrer berühmtesten Lehrer.
Ich lernte den großen Mann in meiner Heimatstatt Münster kennen. Curriculare Vorgaben haben Hans Blumenberg in der Auswahl seiner Themen nie irritiert. Das Lehrdeputat von sechs Semesterwochenstunden erfüllte er durch drei Vorlesungen, deren Themen sich bis zur Emeritierung nicht wiederholen. In der ersten Reihe des Hörsaales 8 saß die akademische Jugend der späten Siebziger Jahre mit ihren Cassettenrekordern, allen voran Thomas Sternberg, der später das Zentralkomitee der deutschen Katholiken leiten sollte.
Blumenberg zelebrierte eine Philosophie der Nachdenklichkeit. Er hatte Esprit und schöpfte aus dem Vollen der Überlieferung. Deshalb waren seine Vorlesungen bei allen bildungsfähigen Hörern sehr beliebt. „hip“ oder „kultig“ würde man sie heute nennen. Einerseits war Blumenberg Sprachpurist und ein Exorzist des Druckfehlerteufels, andererseits demonstrierte er gerne seine Kenntnis des neusten Sprachwandels. Die Wissenschaftsprosa seiner Bücher war frei von jedem Jargon wider den Zeitgeist, mit dem er in seiner Vorlesung die Lacher auf seiner Seite hatte. „Ich bin nicht Jesus!“, konnte er sagen. Mit spitzbübischem Lächeln kommentierte er die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Yehudi Menuhin (1979) „für besonders sanftes Geigespielen“. Als ein Zuhörer die Vorlesung vorzeitig verließ, rief ihm Blumenberg tröstend hinterher: „Gehen Sie nur. Mich langweilt die Vorlesung heute auch.“ An gendergerechter Sprache und Diversität, an Kinderunis mit Mütterbetreuung und Rechtschreibkursen für Erstsemester hätten er und seine Zuhörer boshafte Freude gehabt. Denn das Ziel aller Nachdenklichkeit ist die Konsensstörung. Hier erreichte Hans Blumenberg Meisterschaft. Das Heimsen von Wissenschaftspreisen und Ehrendoktortiteln überließ er andere Philosophen.
Zwei Jahre vor seinem Tod erlitt der Philosoph einen schweren Schlaganfall. Koma und Pneumonie folgten. Die Ärzte machten den Angehörigen keine Hoffnung. Blumenberg aber kehrte noch einmal an seinen Schreibtisch zurück. Lebenslang geübt in höchster Selbstdisziplin schrieb er Aufsätze über Lebensthemen und Wegbegleiter: Ernst Jünger, Fridtjof Nansen, Rainer Maria Rilke. Lebenskreise schlossen sich. Pfarrer Walter Kropp (1919-2019), ein Freund aus gemeinsamen Tagen im Priesterseminar der Jesuiten, trat wieder in sein Leben. Erfüllt von Todesahnungen schrieb Blumenberg zu Beginn des Jahres 1996 vier Abschiedsbriefe. In seinem letzten Brief an mich spricht er ausführlich von Maria, bekennt seine Liebe zur Kirche und gesteht zugleich, dass er den Glauben verloren habe. Ein Paradox wie das Symbol des Kreuzes. Dann berichtet er von Kardinal von Galen, zu dessen Bischofsweihe (28. Oktober 1933) er mit seinem Vater von Lübeck nach Münster gereist war. „Gott schütze Deutschland“, hatte Papst Pius XII. dem neuen Kardinal ins Ohr geflüstert. Dieses Segenswort setzte Blumenberg ans Ende seines Briefes.
Neben dem Verstorbenen fand man eine Ausgabe des Neuen Testaments. Zu den letzten Lektüren gehörte der dritte Band der Konzilsgeschichte des Vaticanum I. von Klaus Schatz SJ. Das Konzil hatte das Unfehlbarkeitsdogma verkündet. Blumenbergs geistliche Prägungen fanden weit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil statt, das er gelegentlich als Konzil der Besserwisser bezeichnete. Blumenberg war ein fröhlicher Denker und ein entschiedener Gegner all jener Reformer, die über Jahrhunderte Geglaubtes und Erinnertes dem Zeitgeist opferten. Er war eine Persönlichkeit von Rang mit dem Mut, sich unbeliebt zu machen. Wie sein Namenspatron Johannes Baptist redete er Klartext in den geistigen Wüsten seiner Zeit und beugte seine Knie nicht vor den Götzen. Mit ihm ging eine Epoche zu Ende.
Am 7. März 1996, knapp zwei Wochen vor seinem Tod, brachte die Deutsche Bundespost eine Gedenkmarke zum 50. Todestag Kardinal von Galens, des Löwen von Münster, heraus. Auf der Briefmarke stand der bischöfliche Wahlspruch. Er lautete: „Nec laudibus, nec timore“. Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht sollen Glauben, Denken und Handeln eines Bischofs beeinflussen. Ein Motto wie geschaffen zur Orientierung nicht nur für die Deutsche Bischofskonferenz. Hans Blumenberg wählte die Sondermarke zur Frankierung seiner Todesanzeige. Sie wurde sein letztes Wort. Ein Mann Gottes darf dem Volk wohl aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden. So hatte es Johannes Paul II. gehalten. Blumenberg schätzte diesen polnischen Papst und seine Marienverehrung. In der Philosophie gäbe es keinen Fortschritt, prägte er seinen Hörern ein. Plato oder Aristoteles können so wenig optimiert werden wie die Gestalt der Maria. Das anvertraute Erbe braucht kein Update, sondern die immer neue Aneignung in der Generation. Das können wir in dieser Zeit von Hans Blumenberg lernen.
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Dieser kleine Beitrag erschien in "Die Tagespost" (25. März 2020).
Mein Urfreund Heimo Schwilk reagierte mit dieser Stellungnahme:
Lieber Uwe, vielen Dank für den Blumenberg-Artikel,
der alles noch einmal konzentriert, was Du zu ihm zu sagen hast.
Der Schlusssatz ist dann Dein aktuelles katholisches Bekenntnis,
das dem deutschjüdischen Philosophen verwehrt blieb:
das Bewahrenmüssen der Wahrheiten des Glaubens.
Diese waren erschüttert nach Blumenbergs Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland.
Er suchte nach einem persönlichen Update und entwickelte eine skeptische Methode,
alle Gewissheiten zu hinterfragen.
Das ist allerdings eine Methode, die an der Essenz des Glaubens vorbeiführt.
Blumenbergs Skeptizismus verband ihn mit dem Solipsismus von Jünger.
Beide wollten glauben, konnten es aber nicht (mehr).
Ernst Jünger an seinem 95. Geburtstag
mit seinem Biographen Heimo Schwilk