Dlf: Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg (13. Juli 2020)

 

Der ganz andere Philosoph

Hans Blumenberg gilt als der „bekannteste Unbekannte“ der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Er sei schwer zu lesen, weil er „gründlich nachgedacht“ habe, sagt der Schriftsteller Uwe Wolff. Dennoch könne Blumenberg „Geburtshelfer für das eigene Philosophieren“ sein, so Wolff im Dlf.

 

 

Andreas Main: Uwe Wolff bezeichnet sich selbst als Engelforscher. Er ist Kulturwissenschaftler und Schriftsteller. Und er ist Privatdozent am Institut für Literaturwissenschaft und literarisches Schreiben der Universität Hildesheim. Und dann ist er auch noch Theologe, evangelischer Theologe, allerdings mit einer starken Neigung auch zur katholischen Theologie. Oder sagen wir, sein interkonfessionelles Interesse ist ausgeprägt. Und so hat es ihn auch nicht gestört, dass der Philosoph Hans Blumenberg sein Lehrer wurde, ein sehr katholischer Lehrer. Hans Blumenberg, der bekannteste Unbekannte der jüngeren Philosophiegeschichte.

Auch mir fällt es schwer, gut einzuordnen, wie wichtig das Werk von Hans Blumenberg ist, wen es bis heute beeinflusst, was wir verpasst haben, die wir seine legendären Vorlesungen in Münster nicht gehört haben. Einordnen kann das aber Uwe Wolff. Blumenberg war für ihn ein väterlicher Freund und so hat er nun ein kleines Buch vorgelegt mit dem Titel „Der Schreibtisch des Philosophen: Erinnerungen an Hans Blumenberg“. Wir haben dieses Gespräch mit Uwe Wolff, der im niedersächsischen Bad Salzdetfurth lebt, in der vergangenen Woche aufgezeichnet und strahlen es aus am heutigen 100. Geburtstag von Hans Blumenberg. Guten Morgen, Uwe Wolff.

Uwe Wolff: Ja, guten Morgen.

Main: Herr Wolff, was schätzen Sie, Hans Blumenberg, wie viel Prozent unserer Hörerinnen und Hörer kennen ihn?

Wolff: Ich glaube, dass ganz wenige ihn kennen und noch weniger ihn gelesen haben. Dennoch geht der Name durch die Medien wie kein anderer Name eines zeitgenössischen Philosophen oder eines Philosophen der unmittelbaren Vergangenheit. Hans Blumenberg, ja, da hat es so einen regelrechten Hype, wie man neudeutsch sagt, gegeben. Das ist die große Frage für mich auch: Warum ist das so? Ein Philosoph, der doch sehr schwer zu lesen ist, weil er sehr gründlich nachdachte, der eine sehr ausgewählte Sprache hatte, die sich nicht jedem Leser sofort erschließt.


Warum ist gerade der heute in aller Munde? Vom Namen her, wie gesagt, nicht von der Erkenntnis des Werkes. Er ist jemand, der sich allen entzogen hat. Keine Kongresse von Philosophie. Er ist nicht ins Fernsehen gegangen. Er hat keine Radiointerviews gegeben. Er hat sich allein auf seine Berufung, sein Werk konzentriert. Und ich glaube, dieses so ganz andere Leben als unser Leben, wir führen ja alle ein öffentliches Leben, auch hier in diesem Moment, wo wir miteinander sprechen, wir haben auch Freude daran, in die Öffentlichkeit zu gehen. Hans Blumenberg war der ganz andere. Und ich glaube, das fasziniert uns.

Main: Sollten wir ihn lesen? Warum sollten wir mehr von ihm wissen?

Wolff: Weil in ihm sozusagen zum letzten Mal vielleicht in der Philosophie des Abendlandes das Ganze anklingt. Das Ganze, das heißt also die Geschichte unseres Menschseins, unseres Denkens, von Platon und Aristoteles, über das Mittelalter, bis in die Gegenwart. Wir leben ja in einer sehr schnelllebigen Zeit. Wir fragen immer: Was bringt mir das und was muss ich wissen? Was ist wichtig, unwichtig? Wir werden ja bestimmt durch das Internet. Wir werden bestimmt durch die Taktung der SMS. Hans Blumenberg war jemand mit einem ganz langen Atem, der gesagt hat: „Setz dich mal hin. Komm mal zur Ruhe. Lies mal. Lies nicht nur die Bestseller, die du heute überall angezeigt findest, sondern lies die großen Bücher, in denen der Mensch seinem eigenen Wesen, dem Geheimnis seiner Existenz nachgegangen ist.“ Deshalb muss man und darf man Hans Blumenberg mit sehr großem Gewinn lesen, weil er das Ganze, also unsere Geschichte, die Geschichte des Menschen im Blick hat.

Main: Die, die ihn erlebt haben in Münster oder andernorts, haben ihn, so wie Sie, geradezu verehrt, kann man wohl sagen. Was musste oder muss jemand mitbringen, um Blumenberg zu verstehen?

Wolff: Ja, das ist eine Frage, die Blumenberg selbst immer thematisiert hat in seiner berühmten Freitagsvorlesung im Saal 8 des Münsteraner Schlosses. Da waren sehr viele Zuhörende, vor allen Dingen Nicht-Studenten, also andere Professoren, Münsteraner Bürger, Kunststudentinnen. Und alle wollten Blumenberg hören, wenn er dann sprach über die großen Themen des Menschen und der abendländischen Geschichte. Und oftmals war das gar nicht so leicht, ihn zu verstehen. Und dann hob jemand, wie das in Vorlesungen ja üblich war und heute noch ist, den Finger und wollte eine Frage stellen. Und Blumenberg lenkte dann immer ab und sagte: „Bitte, wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sie mir schriftlich. Also, ich möchte jetzt im Fluss meines Erzählens bleiben. Und seien Sie nicht traurig, wenn Sie etwas nicht verstehen, sondern das Verstehen, das ereignet sich im Zuhören.“

 

Das heißt also, was muss jemand mitbringen, um Hans Blumenberg zu verstehen, damals als Zuhörender und heute als Lesender? Einfach Geduld. Und das ist etwas, was uns in der Gegenwart ja ganz fehlt. Wir wollen sofort konsumieren. Wir wollen kleine Häppchen präsentiert bekommen. Blumenberg war genau das Gegenteil. Er hat gesagt: „Hab doch die Geduld zuzuhören und erlebe doch, wie sich in dir das Wissen entwickelt und auch das Verstehen.“ Jetzt der Philosophie der großen Lebensfragen. Also: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist die Liebe? Was ist der Schmerz? Was ist der Tod? Diese großen philosophischen Lebensfragen, sie lösen sich im Zuhören. Das war seine Botschaft und das war sozusagen auch die Voraussetzung, die die Zuhörenden mitbringen mussten, wenn sie Blumenberg verstehen wollten. Sitzen, warten, wie sich Verstehen ereignet. Und das war in der Tat etwas Unglaubliches, was wir in Münster erlebt haben ab 1975 bis 1985 – das sind die großen Münsteraner Jahre von Hans Blumenberg gewesen –, dass da wirklich Zuhörende waren. Und – jetzt kommt das Entscheidende – die nicht nur zuhörten, weil Blumenberg Tolles zu sagen hatte, sondern weil er, indem er erzählte, in den Menschen selbst, also uns Zuhörenden, sozusagen die eigene Fantasie, die eigene Lust auf Wissen, auf Schreiben, auf Gespräch freisetzte. Also, er war sozusagen ein Geburtshelfer für das eigene Philosophieren. Das war, glaube ich, das Besondere an ihm.


Main: Herr Wolff, Sie sind – ich habe es eben schon gesagt – Sie sind evangelischer Theologe. Blumenberg hatte als Philosoph, sagen wir mal flapsig, eine katholische Schlagseite. Was war das Katholische an ihm?

Wolff: Na ja, Hans Blumenberg war Katholik durch und durch. Er entstammte ja einem alten Hildesheimer Priestergeschlecht. Das waren Bauern und Priester. So war es ja früher üblich – heute noch im Münsterland –, dass also die großen Bauernfamilien nicht nur Landwirte hervorbrachten, sondern auch Gelehrte. Und aus so einem Geschlechte stammte Hans Blumenberg. Er wollte Priester werden. 1939, als er Abitur machte, stand auf seinem Abiturzeugnis: Hans Blumenberg möchte katholische Theologie studieren. Und das hat er auch gemacht. Er ist dann zu den Jesuiten, also dem strengsten akademischen Orden, nach Sankt Georgen gegangen und hat dort einige Semester Theologie studiert, um Priester zu werden. Und wurde dann, weil er eine jüdische Mutter hatte, vom Studium ausgeschlossen. Sonst wäre er ganz gewiss also Jesuit vielleicht, aber in jedem Falle Priester und Professor geworden.
Sein Schicksal führte dann dazu, dass er eben untertauchen musste im Dritten Reich. Er wurde geschützt durch einen berühmten Unternehmer in Lübeck. Das war Heinrich Dräger. Und als er dann die Zeit nach 1945 durchgestanden hatte, da verliebte er sich in eine Frau, die er dann heiratete, mit der er vier Kinder hatte. Und damit war sozusagen diese Priesterlaufbahn nicht mehr drin. Aber dieses Katholische, das blieb in ihm, also in seinen ganzen Fragen. Das merkte man sofort, wenn man die Vorlesungen hörte. Ich studierte ja – Sie haben es gesagt – evangelische Theologie. Und viele Theologen waren da. Und man hatte sofort das Gefühl, selbst, wenn man von Blumenberg noch nie was gehört hatte und den Mann noch gar nicht kannte, aber man spürte als junger Theologe sofort: Das ist einer, der ist in einer Wolle gewaschener Theologe. Zum Beispiel: Er sprach von der Schöpfung des Menschen. Er sprach von Fragen der Erlösung. Er sprach von Fragen der Vollendung der Welt. Er sprach von den Metaphern, den Symbolen, den Mythen, die wir brauchen, also, um das Geheimnis der Welt und das Geheimnis Gottes zu verstehen. Also, er war durch und durch ein christlicher, ein katholischer Denker.


Main: Uwe Wolff, evangelischer Theologe, Kulturwissenschaftler, Schriftsteller, Dozent an der Uni Hildesheim, in der Sendung „Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft.“ Herr Wolff, jetzt stelle ich Ihnen eine blöde Frage, eine „Hätte-hätte-Frage“. Was hätte uns Blumenberg in Pandemie-Zeiten zu sagen? Was wäre sein Impuls in der Corona-Krise?

Wolff: Hans Blumenberg hat ja ein letztes Wort hinterlassen, und zwar in Form einer Briefmarke des Kardinals von Galen. Und der Spruch des Kardinals von Galen – Blumenberg war 1930 dabei, als Kardinal von Galen in Münster Bischof wurde – der Spruch des Kardinals von Galen lautet ja auf Latein: Nec laudbus nec timore. Weder durch Lob noch durch Angst, durch Furcht lasse ich mich irritieren. Und das wäre die Botschaft von Hans Blumenberg für diese Corona-Zeit: Seid vorsichtig. Seid nicht leichtsinnig, aber seid nicht zu optimistisch, seid auch nicht zu ängstlich. Lasst euch nicht irritieren, sondern geht euren Weg. Versteckt euch nicht. Versteckt euch nicht hinter eurer Angst, sondern geht euren Weg.
Das ist, glaube ich, das Zentrale für Blumenberg überhaupt, dieses Den-eigenen-Weg-gehen, die eigene Berufung spüren, das machen, was in uns angelegt ist. Und zwar nicht von uns aus oder durch Erziehung und Pädagogik, sondern von Gott her. Also, die anvertrauten Talente, denen nachzuspüren und die zu verwirklichen und dann keine Angst zu haben, aber auch durch Lob und Lobhudelei sich nicht irritieren zu lassen, sondern den eigenen Weg gehen, auch gerade in der Corona-Zeit.

Main: Der Schreibtisch des Philosophen, der steht ja bei Ihnen zu Hause. In der Form des Schreibtischs lebt Blumenberg für Sie weiter – und im Geiste auch. Was ist für Sie der zentrale Gedanke, wie er für Sie weiterlebt?

Wolff: Der zentrale Gedanke, den ich mit Hans Blumenberg verbinde, ist der der Freude und der Dankbarkeit. Und ich glaube, das ist das, was über Hans Blumenberg auch dann hinausweist. Wir alle haben Menschen gehabt, die uns begleitet haben. Und ich glaube, gerade dann, wir reden ja heute an einem Gedenktag, am 100. Geburtstag, den er nicht mal hat feiern dürfen, über Hans Blumenberg. Dieses Gedenken, was Menschen für uns geleistet haben – ich denke, das beginnt erst dann, wenn sie gestorben sind.
Natürlich sind wir auch zu Lebzeiten dankbar. Wir werden ja auch erzogen. Noch unsere Kinder und Enkelkinder werden erzogen, zu Muttertag oder zum Geburtstag des Vaters oder der Oma Geschenke zu bereiten. Aber das meine ich nicht. Ich meine diese tiefe Dankbarkeit, dass ein Mensch da war, der nicht nur an sich gedacht hat, sondern an uns auch. Und das andere auch – wir erleben das ja immer wieder, gerade, wenn wir Alte, Kranke, Sterbende begleiten oder dann eben auch über die Gestorbenen nachdenken. Wir merken plötzlich: Die sind eigentlich gar nicht tot. Die leben weiter. Ihr Bild vollendet sich in uns. Das ist ein ganz großes Geheimnis, dass das Bild eines Menschen sozusagen hinausstrahlt über den Tod.




Und das verbinde ich mit diesem Schreibtisch. Der ist für mich nicht nur natürlich eine wunderbare Erinnerung an einen Lehrer, den ich geliebt habe, sondern er ist für mich auch ein Symbol. Ein Symbol dafür, dass das Leben weitergeht, und dass das Bild eines Menschen sich sozusagen vollendet erst nach dem Tod.

Main: Ein dankbarer Uwe Wolff, evangelischer Theologe, Kulturwissenschaftler und Schriftsteller in Bad Salzdetfurth. Auch ich bin dankbar – für dieses Gespräch. Als kleines Dankeschön hier noch die bibliografischen Angaben. Uwe Wolff „Der Schreibtisch des Philosophen: Erinnerungen an Hans Blumenberg“. 136 Seiten, erschienen im Verlag Claudius, kosten 16 Euro. Uwe Wolff, danke, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben.
Wolff: Ja, ich habe zu danken.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Uwe Wolff: „Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg“
Claudius Verlag, München 2020, 136 Seiten, 16 Euro.