„Vergeßt uns nicht! Auch wir sind Europa!“
Eine Erfahrung an der Grenze zwischen
Estland und der Sowjetunion

 

 

 


In der „singenden Revolution“ (1991) befreite sich Estland von der russischen Okkupation. 2004 trat es der EU und der Nato bei. Der Schriftsteller Edzard Schaper hat unermüdlich an das Schicksal der Menschen im Baltikum erinnert. „Vergeßt uns nicht! Auch wir sind Europa!“, lautete sein Appell (1956), als das Baltikum vergessen war. „Wo immer ein Glied Europas leidet, da leidet auch das ganze Europa. Und kein Volk kann und darf sich wahrhaft frei fühlen, solange es noch ein einziges unterdrücktes gibt. Hier sind drei Völker, in deren Ausrottung Europa mit ausgerottet wird!“ Schaper hatte vor der russischen Besatzung in Estland gelebt. Hier schrieb er die Erzählung „Stern über der Grenze“ (1936).

 

Die Zeit war damals wie heute aus den Fugen. Hinter der nahen Grenze zur Sowjetunion wütete der rote Terror. Konzentrationslager am Eismeer und in den Wäldern Kareliens wurden errichtet. Hunderttausende kamen in den Lagern um. Die Moskauer Schauprozesse zeigten, dass niemand vor den absurdesten Beschuldigungen sicher war. Wie das Baltikum so waren auch die Weiten Russlands seit Jahrhunderten ein Siedlungsraum für deutsche Bauern gewesen. Sie wurden von lutherischen Pfarrern betreut. Viele von ihnen hatten in Tartu (Dorpat) Theologie studiert. Der rote Terror machte auch vor der Verfolgung der lutherischen Kirche nicht halt. Edzard Schaper engagierte sich für die Baltische Russlandhilfe. Sie versorgte in geheimer Mission von Estland aus die Gemeinden in der Sowjetunion.

 

Schaper erlebte eine Kirche in der Verfolgung. Sie durfte ihre Gottesdienste nur im Verborgenen feiern. Viele Christen beugten die Knie vor dem Zeitgeist und schworen ihrem Glauben ab. Gemeindestrukturen brachen zusammen. Übrig blieb eine kleine Schar, die oftmals ohne geistliche Begleitung am Glauben festhielt. In dieser Grenzsituation gab es aber auch eine neue Erfahrung von Gemeinde und Gemeinschaft. Die verfolgte Kirche machte eine neue Geisterfahrung. In der Verfolgung spielten die konfessionellen Differenzen keine Rolle mehr. Priester und Bischöfe lebten im Untergrund. Und hier im Verborgenen war eine Abendmahlsgemeinschaft der glaubenden Herzen möglich. In seinem Roman mit dem hoch aktuellen Titel „Die sterbende Kirche“ (1935) schildert Schaper das Verschwinden der christlichen Gemeinde in der Bedeutungslosigkeit. Doch gerade hier am Abgrund wird der Grund wiederentdeckt. Kirche lebt nicht aus sich selbst. Sie ist der Leib Christi. Mit ihm teilt sie die Erfahrung von Kreuz und Auferstehung.

 

„Stern über der Grenze“ bezeugt dieses christliche Paradox. Schaper ist der Autor der Grenzerfahrungen. Die kleine Erzählung ist im äußersten Osten Estlands angesiedelt. Semjon siedelt im Grenzland des Flusses Narva als letzter Bewohner dieses Niemandslandes. Wenn Schaper von einer Gegend für Spione spricht, so ist dies nicht ohne Hintersinn. Denn er selbst diente in den Reihen der estnischen und später finnischen Kontraspionage.

 

„Man sah das einsame Haus am Grenzfluss nicht gern, man wünschte keine Herberge für Spione; nur der Ruf, in dem Semjon stand, soweit es bei der Menschenleere weit und breit einen Ruf für ihn gab, hatte ihn bis jetzt vor der Zwangsumsiedlung bewahrt; er war unter den Verlockungen vom jenseitigen Ufer nicht schwankend geworden und war gottesfürchtig und fromm. So, wusste man, würde er kaum Böses tun gegen seine eigene Heimat und nicht denen anhangen, die Gott verleugnen.“

 

Schaper war ein großer Geheimniskrämer. In der für ihn typischen Weise der indirekten Mitteilung deutet er Semjons geheimdienstliche Tätigkeit an. Er kennt die Wälder und Moore auf beiden Seiten der Narva. In der Mitte dieses Flusses verläuft jetzt die Grenze. Trotz schwerer Bewachung ist sie jedoch durchlässig für Nachrichten aus dem roten Reich. Semjon ist Witwer. Die Umstände des Todes seiner Frau bleiben ebenso geheim wie die Meldegänge des Grenzgängers. Bis in den Herbst sticht er Torf. Im Winter vertreibt er dieses Heizmaterial in den fernen Dörfern. Seine vier Kinder bleiben dann viele Tage lang allein zu Hause. Was Semjon vielleicht neben dem Torfverkauf treibt, wird nicht ausgeführt. Die estnischen Grenzer kennen jedenfalls seine Hütte und wissen von den Kindern. Um den Weihnachtstag herum hatte ein Grenzer die Hütte besucht und Feuer für seine Pfeife erbeten. Aus einem Versehen nahm er die ganze Schachtel mit. Als Semjon nach längerer Abreise wieder die Hütte betritt, ist der Ofen erkaltet. Neues Feuer kann nicht entfacht werden. So macht er sich mit einem Stummel aus Bienenwachs auf den Weg, um irgendwo im Niemandsland ein Licht zu finden. Typisch für Schapers Stil ist die kommende symbolische Überhöhung des Weges durch Nacht und Eis. Ein Tannenbaum ist angeschafft worden. Der Ofen muss geheizt werden. Dafür wird Feuer benötigt. Doch dieses Feuer wird nie die Hütte erreichen. Semjon bricht zu seinem letzten Grenzgang auf. Hier wird er den Tod finden und in einer Christusvision das ewige Licht.

 

Semjon ist die russische Form von „Simon“. Russisch sind auch die Namen seiner Kinder Marfa, Kyrill, Polja und Natascha. Ein Lichterbaum gehört nicht zur russischen orthodoxen Weihnachtsfeier. „Es war der erste ihres Lebens, früher hatten sie ihn nicht gekannt, denn einen Baum zu haben, war bei ihnen nicht Sitte.“ Zur orthodoxen Tradition gehört die Ikone des heiligen Nikolaus mit dem Ewigen Licht. Vor ihr bekreuzigt sich Semjon beim Betreten der Hütte. Russlands beliebtester Heiliger ist der „Wundertäter“. Das Ewige Licht vor seinem Bildnis ist ebenso erloschen wie das Feuer im Kamin. Aufbruch tut not! Semjon schärft seinen Kindern noch einmal die Gefahr ein, die von den wilden Wölfen außerhalb der Hütte ausgeht. Dann begibt er sich auf die Suche nach dem Licht. Dabei kommt es zu einer unerlaubten Grenzverletzung. Die Scheinwerfer auf den Beobachtungstürmen der sowjetischen Grenzsoldaten haben Semjon geortet.

 

Das folgende Geschehen spielt auf zwei Ebenen. Semjon wird entdeckt. Er versucht zu flüchten und wird von einem sowjetischen Soldaten erschossen. In seinem Sterben aber öffnet sich für Semjon eine andere Dimension. Sie führt ihn und die Lesenden in das Mysterium von Tod und Auferstehung. Genau an dieser Durchdringung der Wirklichkeitsebenen werden sich die Geister scheiden: Jede Literatur hat bestimmte Voraussetzungen. Wer keine Transzendenz kennt, wer niemals einen Kairos erlebt hat, wem ein sakramentales Verständnis der Wirklichkeit fremd ist, wird keinen Zugang zu Schapers Welt der Wunder finden. Schaper richtet den Blick auf letzte Fragen. Was ihn als Schriftsteller an den Schreibtisch treibt, sind die Grenzerfahrungen des Menschen. Was geschieht, wenn kein Ratschlag mehr hilft? Wenn kein Gebet das Unheil mehr abwenden kann? Wenn alle Verhandlungen gescheitert sind? Wenn es buchstäblich nichts mehr zu sagen gilt? Kurz, wenn die Grenze erreicht ist? Schapers Autorschaft beschreitet nicht nur die Grenze. Sie blickt über sie hinaus. Eschatologie - Lehre von den letzten Dingen, von Sterben, Tod, Gericht, Schuld, Sünde, Vergebung, Ewigkeit und ewiges Leben sind Schapers Themen. Davon ist heute in den Kirchen kaum die Rede. Die Krise der Kirche ist ihr Substanzverlust. Doch in dieser Erfahrung des Verlustes wird der Stern über der Grenze wieder aufleuchten. Sein Erscheinen ist kein Menschenwerk. Kein Religionsunterricht, keine Katechese, keine Reform kann diesen Kairos vom Himmel zwingen. Er wird geschenkt, wenn die Zeit erfüllt ist und Weihnachten sich wieder ereignet.

 

Edzard Schaper ist ein Meister des magischen Realismus. Unter seinem stereoskopischen Blick wird die Wirklichkeit zur Überwirklichkeit. Ewiges leuchtet im Zeitlichen auf. Semjon sieht Christus im Licht der Scheinwerfer. Er ist das Licht, das er gesucht hatte. „Semjon, Kyrills Sohn, suchtest du mich?“, fragt der Heiland, und noch einmal: „Semjon, Kyrills Sohn, suchtest du wirklich mich?“ Semjon erhält das gesuchte Licht. Doch ist der Preis hoch. In seinem Sterben erlischt die Flamme. „Ich will es dir wieder anzünden, aber nicht hier, hier brennt es nicht mehr“, verheißt der Heiland. Es gibt kein Leben ohne Opfer. Davon will die Welt heute nichts mehr hören, und deshalb sind den heutigen Lesern Schapers Bücher mit ihrer christlichen Tiefendimension fremd geworden. Mit Semjons Sterben zwischen den Linien zeigt sie die Wunde der Schöpfung.

 

„Die Grenze, diese Wunde: im Schnee verharscht und verwachsen mit Eis, brach in dieser Nacht wieder auf und blutete, wie sie niemals verheilen wird und nie sich ganz schließen.“

 

Mit der Geschichte von Semjon hat Edzard Schaper sein eigenes Schicksal geschaut. Das weiß der Leser nicht, wie Schaper es im Jahr 1936 nicht wusste. Was aber ist aus den vier Kindern geworden? Trotz der Gefahr durch die Wölfe brechen sie im Dunkel der Nacht auf, um ihren Vater zu suchen. Auch dieser Grenzgang wird von Schaper symbolisch überhöht. Die Kinder sehen zwei Lichtgestalten: ihren Vater und einen Fremden. Vielleicht ist es Christus, vielleicht der Schutzengel. Die beiden führen die halb verhungerten und durchfrorenen Kinder zu den estnischen Grenzwächtern. Hinter ihnen lauert ein Rudel Wölfe. Vor ihnen steht ein Weihnachtsbaum.

 

„Nichts von allem, was sie stammelnd erzählten: vom Vater, der ausgegangen war, Licht zu holen, seinem strahlenden Begleiter, und wie die beiden in den Tannen - wohl dieser Weihnachtstanne - verschwunden waren, konnten die Soldaten verstehen.“

 

Schapers Erzählungen und Romane führen in diese inneren Welten. Was hier geschaut wird, steht oftmals in paradoxem Gegensatz zu den äußeren Umständen. Diese Glaubenserfahrungen bezeugen: Wo Gefahr ist, da wächst manchmal auch das Rettende.