„sueños hay, que verdad son -
Träume gibt’s, die Wahrheit sind“

Don Petro Calderon de la Barca

 

 
 

 

 

Verzeiht auch mir“
Zur historisch-kritischen Edition von Ernst Jünger „Strahlungen“

 


„Strahlungen“ nannte Ernst Jünger (1895-1998) ein Sextett von Tagebüchern, in denen er Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit verdichte. Die Lichtmetapher des Titels führt ins Zentrum seiner Autorschaft. Für den Naturwissenschaftler Jünger war die Welt wunderbar im Ganzen - Kosmos nicht Chaos. Die „Strahlungen“ beschreiben einen Labyrinthweg. Die Jahre des Schreckens erlebt Jünger als eine Einweihung in das Mysterium des Schmerzes. Seine Begleiter auf dem Initiationsweg sind die Luther-Bibel und das Evangelisch-Lutherische Gesangbuch der Hannoverschen Landeskirche“ (1938). Vom 3. September 1941 bis 28. Mai 1944 erfolgt die erste Lesung der Bibel. Das Tagebuch kommentiert ausgewählte Perikopen wie Jakobs Kampf mit dem Engel: „Wir müssen uns in unserer Eigenschaft als Rationalisten überwinden lassen, und dieser Ringkampf findet heute statt. Gott tritt den Gegenbeweis gegen uns an.“ Vom 14. Dezember 1944 bis zum 3. Oktober 1945 schließt sich die zweite vollständige Lesung der Bibel an.

Die „Strahlungen“ sind das Protokoll einer Annäherung an den christlichen Glauben, der Ernst Jünger nicht in die Wiege gelegt war. Erst in den Dreißiger Jahren vollzieht sich in ihm eine religiöse Wende, die im Rückblick sinnvolle Muster einer Hinwendung zum Katholizismus aufleuchten lässt. Sie verdichten sich mit der Konversion des Hundertjährigen zu einem Bild und Bekenntnis, das von der Forschung hartnäckig ignoriert wird. Dahinter steckt wie im Fall des katholisch geprägten Denkers Hans Blumenberg keine Strategie und erst recht kein Antiklerikalismus, sondern pure Unwissenheit und eine Sprachlosigkeit, die auch weite Teile der akademischen Theologie lähmt.

Im März 1934 erwirbt Ernst Jünger die vielbändige Köselsche Ausgabe der „Bibliothek der Kirchenväter“. 1939 veröffentlicht er die Parabel „Auf den Marmorklippen“, die mit der Gestalt des Märtyrers Pater Lampros auch als Heiligenlegende gelesen werden kann. Als Dokument der zweimaligen Bibelmeditation schließen sich die Tagebücher der „Strahlungen“ an. Jünger hat seine Notate auch als Einladung zum Gebet verstanden, „beruhend auf dem Bedürfnis nach geistiger Dankbarkeit, das indessen auch für den Leser fruchtbar werden kann.“ Die Bibel ist für ihn „das Handbuch alles Wissens, das wiederum Unzählige durch die Schreckenswelt begleitete. Bei der Vertiefung wird manchem deutlich geworden sein, daß, wie die neue Theologie an sich, so auch die Exegese im Sinne des 20. Jahrhunderts nötig geworden ist. Notizen zu einer solchen ziehen sich durch die Aufzeichnungen hindurch.“

Bei Klett-Cotta ist nun eine historisch-kritische Ausgabe der „Strahlungen“ erschienen. Viele der vorschnell in der Tagespresse veröffentlichten teilweise toxischen Schnellschüsse sind allzu oberflächlich mit diesem Meisterwerk der Editionstechnik umgegangen. Olle Kammellen der Jünger-Kritik wurden hervorgeholt. Wenn die Rezensenten überhaupt in den drei dicken Bänden mit ihren über 2000 Seiten geblättert haben, suchten sie die bekannten Stellen, die seit jeher aus Unkenntnis von Jüngers Sendung als anstössig stigmatisiert wurden. Dazu gehört die „Burgunderszene“ vom 27. Mai 1944. Sie berichtet von Fliegerangriffen der Alliierten auf die Brücken über der Seine. Mit dieser Bombardierung werden die Nachschubwege der Besatzer zerstört. Jünger beobachtet Explosionen vom Dach des Hotels mit dem Namen des Schutzengels „Raphael“. Im Sonnenuntergang ein zweites Mal - in der Hand ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwimmen. Er blickt, den Schmerz bejahend, seinem eigenen Tod ins Auge.

Aus welchen Schichten des Bewusstseins diese Initiation entstanden ist, zeigt der Text der historisch-kritischen Ausgabe. Er wurde von Joana van de Löcht, Helmuth Kiesel und Friedricke Mayer-Lindenberg aus den Manuskripten der Tagebücher erstellt und kommentiert. Die Fritz-Thyssen-Stiftung förderte die Arbeit der jungen Germanistin Joana van de Löcht durch ein zweijähriges Stipendium. Wer von der deutschen Germanistik außer genderkonformen Studien und einem Kotau vor dem Zeitgeist nichts mehr erwartete, nimmt die neuen „Strahlungen“ beglückt und bereichert in die Hand: Dies alles gibt es also! Durch die Quellenkritik von Joana van de Löcht wird zum ersten Mal die Genese von Jüngers Tagebüchern greifbar. Erste Notizen sind von ihm immer wieder aufgegriffen und überarbeitet worden. Dazu gehören stilistische Veränderungen, aber aber auch Ergänzungen und Streichungen. Die „Strahlungen“ sind ein „work in progress“, dass in der letzten Gesamtausgabe keinen endgültigen Abschluss, aber wohl ein Ende gefunden hat. Die Fassung der „Sämtlichen Werke“ war die Krücke, die Jünger an der Wand der Kapelle seiner Konversion zurückließ. Jüngers Autorschaft versteht sich als Prozess der Annäherung an ein im letzten unsagbares Geheimnis. In seiner Danksagung für Geschenke und Wünsche zu seinem 95. Geburtstag verschickte er eine signierte Karte mit zwei Zitaten aus seiner religiösen Aphorismensammlung „Die Schere“:

 

 

 

 

Die historisch-kritische Ausgabe legt durch dreifarbigen Druck und Siglen die Schichten dieser Annäherung frei. Besonders in den Nachkriegstagebüchern, die auf Wunsch des Verlegers Ernst Klett zuerst unter dem Titel „Jahre der Okkupation“, später unter dem Zitat „Die Hütte im Weinberg“ (Jesaja 1.8) erschienen, sind zahlreiche und recht ausführliche Notate zu finden, die Jünger nicht in die letzte Fassung der „Sämtlichen Werke“ aufgenommen hat. Die nun geschaffene Möglichkeit des Vergleichs der Fassungen führt nicht immer zu einer Zustimmung zu Jüngers Entscheidungen. Viele bewegende Beschreibungen sind nicht in die letzte Fassung aufgenommen worden. Die Entscheidung führt gelegentlich zu einem Verlust an Anschaulichkeit. „Die Zeit absaugen“ nennt Bruder Otho in den „Marmorklippen“ diesen Prozess der Abstraktion. In ihm kommt es Jünger nicht auf die Mitteilung eines Erlebnisses an, sondern auf die geistige oder geistliche Erfahrung, die gewonnen wurde.

Die historisch-kritische Ausgabe führt in die Mergelgrube eines gelebten Lebens. Mit der Beschreibung der getrockneten Blüten und Gräser, die Jünger in seine Tagebücher einklebte, zeigt sie einen Dreiklang im Sinne Hamanns. Jüngers philosophischer Meister lehrte die Einheit von Natur (Buch der Schöpfung), Bibel (Buch der Offenbarung) und Autorschaft. Seine Werke stehen noch heute neben der Bibliothek der Kirchenväter im Wilflinger Jünger-Haus direkt neben dem Schreibtisch.

 

 

 

 

Der Kommentar beschränkt sich auf Wesentliches. Tobias Wimbauers Deutung der „Burgunderszene“ als stilisierter Orgasmus von Jüngers Pariser Geliebten Sophie Ravoux gehört mit Sicherheit nicht dazu. Wichtiger ist der Blick auf eine Schilderung aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Auf sie verweist Ingo Langner. Hier ist die Rede von einem Zeppelin-Angriff auf Paris. Die Beobachter stehen auf einem Balkon und sprechen „von der Schönheit der im Dunkel aufsteigenden Flugzeuge.“ Viel spricht dafür, dass diese Szene unter Jüngers französischen Freunden in jenen Tagen der Flugangriffe zitiert wurde: „Man versteht noch, daß an der Front eine gewisse Koketterie darin besteht, in einer Situation, in der man jeden Augenblick getötet werden kann, etwa festzustellen: ‚Wie wundervoll, dieses Rosa und dieses zarte Grün!‘“ Eine erstaunliche Parallele!

Wer bisher vergeblich um einen Jünger von Innen bat, wird ihn in den nun zugänglichen Schichten des Tagebuches finden. Dazu gehören Notizen über den Besuch des Abendmahles: „Gefühl, eigentlich zum ersten Male, daß Hunger danach besteht.“ (25. 12. 1942) Jünger war Melancholiker und doch getragen von einer Sehnsucht nach sinnhafter Erfahrung des Lebens. Gerade die große Passion, Hunger, Schmerz und Gefahr, können ein Inneres aufschließen. Diese Erfahrung machte er als Besucher der Gottesdienste in der Nikolai-Kirche von Kirchhorst/Hannover mit den Kirchenliedern von Johann Timotheus Hermes, Johann Jakob Rambach, Kaspar Neumann oder Johann Franck. Jünger spricht von einer Seelenverwandtschaft und einer „Begegnung höchsten Ranges“. Ein „überirdischer Beiklang“ gehe von den Liedern aus. Sie verweisen auf die Ewigkeit als Ziel des Pilgerweges. Noch der uralte Jünger wird in seinen letzten Interviews jene Verse zitieren, die ihm in Kriegszeiten Trost gespendet haben: „Wird die Welt zerstöret werden,/ So geht an mein Ehrenstand.“

Jüngers eschatologische Ausrichtung des Glaubens hat im Tod des Sohnes Ernstel einen schmerzhaften biographischen Hintergrund. „Ich fühle, wie er immer stärker, heiliger wird.“ (1. Mai 1945) Jünger erfährt sie Welt der Lebenden und der Toten als Einheit. Die „Strahlungen“ bezeugen noch im größten Leid die Gegenwart des Lichtes der Ewigkeit. An ihm, so glaubte der Katzenfreund Jünger, werden auch die Tiere Anteil haben. Hitler erscheint in den Tagebüchern als Antichrist, als Mensch ohne Transzendenz, der über den Horizont seiner Lebenszeit hinaus keine Welt duldet: „Hitler und die Seinen waren Menschen, die ganz in der Zeit lebten, also dem metaphysischen Sein am entferntesten. Daher auch ihre Zeitangst, das Gejagte, willensmäßige Beunruhigte ihrer Natur.“ (15. Juli 1945) Das ist die Kongruenz von Lebenszeit und Weltzeit als Wahn, von der Hans Blumenberg sprechen wird.

 

 

 

 

Ausführlich beschreibt Jünger seine Begegnung mit Menschen aus dem befreiten Lager Bergen-Belsen, die bei ihm in Kirchhorst eine erste Unterkunft finden. „Es handelt sich hier um eins der furchtbarsten Infernos, das jemals Menschengeist ersann.“ Und an anderer Stelle: „Es handelt sich hier um eine der größten Annäherungen an die Hölle, die je dem Menschen gelungen ist.“ Flüchtlinge aus Ostpreußen berichten von Massakern und bestialischem Missbrauch. Die Kriegsverbrechen sowjetischer Soldaten an der Bevölkerung Königsbergs, die Schändung von Leichen und die Massenvergewaltigungen erschüttern Jünger zutiefst. Er hatte in den „Marmorklippen“ die Schinderhütten beschrieben. Bei seinem Besuch der Ostfront bekam er Einblick in die Welt der sowjetischen Lager. „Ich ahnte bereits in Rußland, daß es Stufen und Grade der Ausmordung gibt, zu denen Kniébolo (=Hitler) nicht vorgedrungen war.“ Die nie geahndeten Kriegsverbrechen sowjetischer Soldaten an deutschen Kindern, Frauen und Männern lassen Jünger verstummen: „Flüchtlinge erzählen Einzelheiten, die alles unterbieten, was ich in unserer an solchen Schrecken doch überreichen Zeit seit 1917 vernommen habe, und die ich dem Papier nicht anvertrauen will, ja ausradieren möchte aus meinem Gedächtnis.“ (12. Juni 1945) Sie sollen auch hier nicht zitiert werden.

Gerade diese bislang unbekannten Aufzeichnungen bekommen für den heutigen Leser eine erschreckende Aktualität. Margarete Susmann hat unmittelbar nach Befreiung der Lager jene ungeheure Frage nach dem Sinn des jüdischen Leidens zu stellen gewagt, die auch Jünger beschäftigt: „Die Rolle der Juden zählt zu den größten Geheimnissen, wohl am verborgensten den Folterknechten, die sich an dieses Volk hefteten. Wer das ergründen könnte, würde einen Teil des Weltplanes sehen. Das Leiden der Juden scheint das eigene Schicksal zu überschreiten und muß stellvertretenden Sinn haben.“ (5. Mai 1945) In der Nachfolge dieser Passion verortet Jünger das Schicksal der Deutschen: „Es scheint, daß der Deutsche jetzt die jüdische Situation kennen lernen soll - das heißt, daß jede Gewalttat ihm gegenüber nicht nur erlaubt ist, sondern auch als Verdienst erscheint. Das wird seinen Sinn haben.“ (5. Mai 1945)

Die „Strahlungen“ dürfen auch als ein Gebet des Bibellesers gelesen werden. Darauf verweist das immer wieder zitierte Goethe-Wort (aus „Wilhelm Tischbeins Idyllen“)„Denn im Innern ist’s getan“, mit dem Ernst Jünger die letzte Fassung seiner Tagebücher schließt. Ihr geht eine Bitte um Vergebung voran: „Ein jeder hat die Tiefe seiner Höhe, es gibt keine Ausnahme. Daher der Andrang der Dämonen bei den Heiligen, daher die Schlange am Kreuzesfuß. Erst mit der Ausdehnung erlischt auch diese Gültigkeit. Höhe und Tiefe werden eins. Verzeiht auch mir.“ (19. Juni 1948) Die veröffentlichte Fassung in den „Sämtlichen Werken“ verändert den letzten Satz: „Uns wird verziehen.“ Aus der Bitte um Vergebung ist eine Zusage geworden. Darin liegt ein Schlüssel zum Wesen seiner Berufung. Er harrt noch der Entdeckung.