Erhebe Dich,
auch wenn es ein Finn-Juhl-Stuhl ist!
Am Leuchtturm hoch über der Nordsee lässt sich gut grasen.
Hier entstand mein Buch über das Hygge-Lebensgefühl
oder
die dänische Methode mehr Resilienz zu erwerben.
Inhaltsverzeichnis
Café Hygge:
Endlich wieder durchatmen!
Tante Marthas Wundermuschel:
Geborgenheit
Oma Stomberg:
Sich sammeln
Harte Schale, weicher Kern:
Die nackte Wahrheit
Innigkeit:
Vom verborgenen Reichtum
Zur kleinen Meerjungfrau:
Vom Staunen
Die Ohrmuschel
Vom inneren Hören
Kleine weiße Muschel:
Von der Schlichtheit
Im Wechsel der Gezeiten:
Von der Standhaftigkeit
Innerer Reichtum wächst im Verborgenen:
Von der Perle
Sandkörner:
Schmerzen in Perlen verwandeln
Tränen Gottes:
Verwandlung braucht Schutzräume
Im Meer der Seele:
Ein mystischer Grenzgang
Auf dem Flohmarkt:
Von der Entscheidung
Meerjungfrauen:
Von der Liebe
Das Lied von der Seele:
Erinnerung
Beflügelt:
Vom Wunder der Begegnung
Schiffbruch mit Zuschauern:
Möwen über dem Meer
Möwenpredigt:
Über den Schmerz
Flüchtlingskinder:
Lager Oksbøl
Vater und Mutter:
Vom Geheimnis
Meister der Versenkung:
Kontemplation
Muschel in meiner Hand:
Vom Symbol
Beseeltes Leben:
Von den Tieren
Geburtstag am Meer:
Wer ist diese Schwimmerin?
Café Hygge:
Endlich wieder durchatmen!
„Weit draußen im Meere
ist das Wasser so blau
wie die Blütenblätter
der schönsten Kornblume“
Hans Christian Andersen.
Die kleine Meerjungfrau
Endlich wieder am Meer! Muscheln, Möwen, Meerjungfrauen: Es ist einfach herrlich, unter offenem Himmel im Garten des kleinen Cafés zu sitzen. In der Vase stehen Blumen und Gräser der Feldraine. Meine Kleidung ist leicht. Arme, Beine und Gesicht haben schon die frische Farbe der See bekommen. Ich schaue auf das Meer. Frei ist der Horizont. Ein Schwarm Möwen verliert sich in der Weite. Ich atme durch.
Undine kommt und schreibt mit blauer Kreide das aktuelle Angebot auf eine alte Schultafel. Hier an der Steilküste mit dem roten Leuchtturm gibt es einfache Kost. Ich mag Muscheln in Basilikumsoße, garniert mit Kirschtomaten und als Beilage Knoblauchbrot, dazu ein Glas gekühlten Muscadet. Doch köstlicher ist Undines marinierter Hering mit Naturjoghurt und Pellkartoffeln.
Nach dem Mahl döse ich gemütlich in einem Liegestuhl. Jetzt den salzigen Duft des Meeres einatmen und mit den Augen über die Wellen gleiten: La Mer, die große Mutter des Lebens. In der Ferne zieht ein weißes Schiff vorbei. Am Strand tummeln sich kleine Mädchen in den Wellen. Sie spielen mit einer Meerjungfrau und einem Seepferdchen. Die Jungen bauen Sandburgen und verzieren sie mit Muscheln.
Entspannung. Später eine Wanderung am Meer. Sanft umspielen die letzten Ausläufer der Brandung meine Füße. Endlich wieder am Meer! Mit der Armbanduhr habe ich alles abgelegt, was mir den Blick auf das Wesentliche verstellt. Ich habe keine Termine und Verpflichtungen mehr. Niemand treibt mich. Niemand erwartet etwas von mir. Vor lauter Ruhe werde ich unruhig.
Langsam erlerne die Kunst des Müßigganges. Ich möchte offen werden für das einfache Leben und das Glück der kleinen Dinge: Geschenke des Meeres, Muscheln am Strand. Ich hebe sie auf. Ich betrachte sie und staune: Wie wunderbar und vielfältig sind ihre Formen. Keine gleicht der anderen! Während ich mich nach weiteren Muscheln bücke, öffnet sich das Meer meiner Seele. Das Kind in mir erwacht. Erinnerungen an erste Ferien auf Wangerooge und Borkum steigen auf, Bilder von der Kurischen Nehrung, wo unsere Mutter die Sommer ihrer Kindheit verbrachte. Dann sehe ich den Vater. An vielen Stränden der Welt sammelte er Sand. Gelben Sand, roten Sand, schwarzen Sand - welch eine Fülle von Farben!
Sand ist das Symbol der verrinnenden Zeit. „Auch ich bin älter geworden“, durchfährt es mich. „Wieviel Zeit auf Erden ist mir geschenkt worden?“ Ich denke den Gedanken und gebe ihn wieder frei. Wie die Welle in den Ozean, so fließt er in das Meer der Seele zurück. Schon steigen andere Bilder in mir auf. Die Mutter besaß eine kleine Eieruhr, durch deren Glas ein weißer Silbersand rieselte und die Minuten anzeigte. Mit Sand wird auch der Zement angerührt, der Steine zu Mauern zusammenfügt. Die Muschel besteht aus Kalk. Sie kann als Baustoff genutzt werden.
Geheimnisvoll wie die Muschel ist die Seele. Was wissen wir schon über unsere Eltern? Wir kennen nicht einmal uns selbst.
Muscheln kreuzen plötzlich unseren Weg. Das Meer des Lebens schenkt sie uns. Wir können sie übersehen, bewusst über sie hinwegschreiten, sie unachtsam verletzen oder uns bücken und sie aufheben. Wie die Liebe, so ist auch die Muschel ein Geschenk. Muscheln und Menschen brauchen Zuwendung. So geht der Muschelsammler achtsam vor der Muschel in die Knie. Nicht er hat sie, sie hat ihn gefunden. Sie trat in sein Leben, doch er hob sie auf.
Beim Muschelsammeln stellen sich die wesentlichen Fragen des Lebens ein. Wie die Muschel aus der Tiefe des Meeres, so steigen sie aus der Seele empor. Ich will ihnen nachspüren, denn sie gehören zu meinem inneren Reichtum.
„Lehre mich die Kunst des Müßiggangs!“, bitte ich Undine. Sie überreicht mir ein Geschenk des Meeres. Geschenke des Meeres - so nennt sie ihre kleinen Gedichte:
Muscheln sammeln,
müßig gehen am Strand:
Nichts suchen,
nichts mehr im Sinn haben,
ruhig werden,
endlich Durchatmen und Auftanken,
den Alltag vergessen,
sich von einer frischen Brise
neue Inspirationen schenken lassen,
den Möwen zuschauen und
die Flügel der Seele ausbreiten,
eine Muschel in die Tasche stecken und
sie mit nach Hause nehmen,
das Geschenk des Meeres in den Alltag holen.
Sandkörner
Schmerzen in Perlen verwandeln
„Doch, wie die Muscheln, die Verletzung litten,
Im Schoße formen den verlornen Saft:
Aus Leiden ward der Perlen Glanz erstritten,
So wuchs dies Lied aus einer bittren Stunde.
Aus einer Träne ward dies Lied erschafft.
Und ich vergaß der kaum empfangenen Wunde.“
Franz Grillparzer
Das Vollkommene atmet Leichtigkeit. Wer denkt beim Anblick der Perle an das Sandkorn? Keine Spur verrät das Gedicht von der Suche nach dem treffenden Wort. Leicht wie ein Vogel schwebt die Tänzerin über die Bühne. Ihre Bewegungen erinnern nicht an den langen Weg der täglichen Übung. Das vollendete Gemälde lässt die zahlreichen Entwürfe vergessen. Wer dächte beim Anblick der Kathedrale an das mühsame Behauen der Steine und den Sand, der zwischen den Fugen als Mörtel gerann? Mühsal, Schmerz, Entbehrung sind in Schönheit verwandelt.
Vom Meer war ein Gewitter über das Land gezogen. Der Blitz hatte die Stromversorgung lahmgelegt. Nun kann ich mich wieder im Ozean des Internets bewegen. Ich informiere mich über die Entstehung der Perle: Zwischen die Schalen der Muschel ist ein Fremdkörper gedrungen. Ein Sandkorn zum Beispiel. Das Muschelfleisch ist weich und empfindsam wie unsere Haut, die leicht von einem Dorn oder einem Holzsplitter verletzt werden kann. Uns schmerzt der Fremdkörper. Bald rötet sich die Wunde. Sie pulsiert und wird eitern, wenn es nicht gelingt, den Splitter mit einer Nadel aus dem Fleisch zu ziehen. Die Muschel kann das Sandkorn nicht ausspeien. Deshalb umschließt sie den Fremdkörper und bildet so die Perle.
Ich spreche mit Undine über die Sandkörner in meinem Leben. Sie ist ganz Ohr und beobachtet mich genau. Später sagt sie:
Höre ein Geheimnis:
Was dich verletzte,
was dich verwundete,
hat dich auch befruchtet.
Alle Wunden,
die dir das Leben schlug
durch eigene oder fremde Schuld:
Ließen sie dich nicht
wachsen,
reifen
und
Perlen bilden?
Geheimnisse können nicht erklärt werden. Ich will dem Geheimnis der Wandlung nachspüren. Geheimnisse offenbaren sich nicht zu jeder Zeit. Ich darf Geduld mit ihnen und mit mir haben. Irgendwann werde ich spüren: Mein Schmerz wird in eine glänzende Perle verwandelt werden. Undine sagt:
Verdränge nicht den Schmerz,
sondern verwandle ihn in die Perle!
Du hast heilende Kräfte in dir!
Vertraue auf die Kraft der Wandlung in deiner Mitte!
Die große Medizin ruht in dir.
Sie gehört zu deinem inneren Reichtum.
Perlen sind verwandelter Schmerz. Welch ein Mysterium! Um das Sandkorn in eine Perle zu verwandeln, bedarf es der Geduld. Patientia, habe ich einst in der Schule gelernt, bedeutet Geduld. Der Patient muss Geduld haben. Geduld ist nicht meine Tugend. Im Vertrauen auf die geheimnisvolle Kraft der Verwandlung zeigt die Muschel Beharrlichkeit. Sie gibt die Hoffnung nicht auf.
Perlen wachsen nicht in wenigen Tagen, und der Schmerz ist nicht im nächsten Augenblick überwunden. Alles braucht seine Zeit. Schicht für Schicht umhüllt die Muschel das Sandkorn mit Perlmutt. So wächst die Perle in ihr. Noch lange spürt die Perle das Sandkorn in sich. Eines Tages wird der Schmerz eine ferne Gedächtnisspur sein, bis er sich schließlich ganz in der Erinnerung verliert. Doch noch ist der Weg weit.
Für die Nacht ist wieder ein Gewitter angekündigt. Als ich eine Taschenlampe unter mein Kopfkissen legen will, finde ich ein neues Geschenk des Meeres mit Undines schön geschwungener und in weiten Wellen fließender Handschrift:
Wandle
das Sandkorn der Mühsal
in die Perle der Leichtigkeit,
das Sandkorn des Schmerzes
in die Perle der Freude,
das Sandkorn der Entbehrung
in die Perle der Fülle,
das Sandkorn der Enttäuschung
in die Perle der Zuversicht,
das Sandkorn der Ungeduld
in die Perle der Geduld,
das Sandkorn der Eifersucht
in die Perle der Toleranz,
das Sandkorn der Ungerechtigkeit
in die Perle der Gerechtigkeit.
Eines Tages wirst du reine Perle sein!