Künstler in Skagen:
Der Abend des Heiligen Hans


 

 
 

Als Undine zwei Kombitickets im Skagener Kunstmuseum bezahlt, staune ich über den abenteuerlichen Preis. Mit Rollator wäre der Eintritt frei gewesen. Vielleicht ist das ein Grund, warum einige rüstige Rentner mit rollenden Gehhilfen anreisen und diese gleich im ersten Bildersaal parken. Vielleicht ist es aber auch die berühmte heilende Kraft der Kunst, die hier oben im nördlichsten Zipfel Dänemarks erfahrbar wird.

Immer wieder sehe ich mich mit Fragen konfrontiert, auf die ich keine Antwort habe. Das betrifft auch die eigene Familiengeschichte. So besaß Oma Selma einen Schwerbehindertenausweis, der ihr die kostenlose Benutzung der städtischen Busse von Münster erlaubte. Sie war damals so alt wie ich es heute bin. Oma Selma lief jedem davon, und noch in ihrem 103. Lebensjahr bewegte sie sich ohne Rollator zu Heiligen Messe. Allerdings recht langsam.

Vendsyssel heißt das Land zwischen Kattegat und Skagerrak. Nördlich von Skagen vereinigen sich Nordsee und Ostsee. Ein Kraftort für Künstler und Lebenskünstler. Im Jahr 1874 gründeten hier Michael Anker (1849-1927) und sein Malerfreund Karl Madsen (1855-1958) eine Künstlerkolonie, wie sie beinahe zeitgleich auch in Worpswede und Pont-Aven erprobt wurde. Seevögel leben in Kolonien. So ein Vogelfelsen im blauen Meer sieht recht malerisch aus. Doch trügt der romantische Eindruck. Unter Vögeln herrscht eine brutale Hackordnung wie in einer Künstlerkolonie.

 
 

Geblieben ist in Skagen die Erinnerung an eine spannungsvolle Zeit dänischer Malerei. Michael Anker logierte im Hotel von Erik Brøndum. Manche Rechnung konnte er durch ein Bild begleichen. Heute hängen diese Bilder neben vielen anderen im ehemaligen Speisesaal des Hotels. Er bildet die Keimzelle für das Skagener Kunsthaus. Während der Besatzungszeit waren die Bilder ausgelagert, denn das deutsche Militär nutzte den Bildersaal als Turnhalle.

Erik Brøndum hatte eine begabte Tochter. Er erkannte ihr Talent und förderte es durch privaten Kunstunterricht. Die Kopenhagener Akademie stand jungen Frauen nicht offen.. Anna Brøndum (1859-1935) galt seit frühster Kindheit als ein ganz besonderes Kind. Denn in der Nacht, als ihre Mutter mit ihr niederkam, wohnte Hans Christian Andersen in Brøndums Hotel und alle sahen darin ein Zeichen der Vorsehung, von deren gütigem Walten dieser Däne überzeugt war. Anna war fünfzehn Jahre jung, als sie sich in den zehn Jahre älteren Michael Anker verliebte. Mit 18 Jahren verlobte sie sich, mit 21 heiratete sie ihn. Michael und Anna Ancher führten eine Künstlerehe in gegenseitigem Respekt. Ein Familienidyll wie auf den Bildern von Carl Larsson.

 

 
Das berühmteste Bild der Skagener Maler zeigt Anna Ancher mit ihrer Freundin Marie Krøyer (1867-1940) bei einem Spaziergang an der Nordsee. Es trägt den Titel „Sommerabend am Skagener Südstrand“ (1883) und wurde von Peder Severin Krøyer (1851-1909) gemalt.
 
In bodenlangen weißen Sommerkleidern gehen Krøyers junge Ehefrau Marie und Anna Ancher in ein Gespräch vertieft am Saum des Meeres. Der Betrachter sieht sie vor dem verschwimmenden Horizont der drei Elemente: Meer, Luft und Dünen gehen am Ende des Weges ineinander über. Ein Grenzgang in der blauen Stunde. Ein romantisches Bild der Sehnsucht nach Unendlichkeit. Nichts trübt diesen Moment der Innigkeit und Einheit mit der Natur, kein fremdes Ohr lauscht dem Gespräch. Die Frauen haben ihre weiten, weißen Kleider mit gelbgoldenen Gürteln eng um den Leib geschnürt. Eine Frau trägt einen Sonnenhut auf dem Kopf. Die andere hat ihn abgelegt und hält ihn in der linken Hand. Hat P.S. Krøyer hier ein Zeichen der Entgrenzung gesetzt?
 
 
 
 
Ein frühes Doppelportrait zeigt ihn an der Seite seiner schönen Frau mit ihren ebenmässigen Gesichtszügen. Krøyer dagegen schaut angestrengt. Der Betrachter glaubt einen Schatten in seinem Gesicht zu sehen, eine in Zaum gehaltene negative Energie. Anders als Michael und Anna Ancher führten Marie und Peder Severin Krøyer keine Ehe auf Augenhöhe. Er besaß Genie. Sie Talent. Bille August hat Szenen dieser Ehe ins Bild gesetzt. Der Film heißt „Balladen om Marie Krøyer“ (2012), fiel bei der Kritik durch und kam nicht in die deutschen Kinos.

Krøyer konnte über viele Jahre mit geradezu manischer Kraft und Kreativität seine Bilder malen. Dann ließen seine schöpferischen Kräfte nach. Eine Arbeit, die früher in zwei oder drei Tagen erledigt war, brauchte nun lange Zeit. Er wurde schwermütig, kam 1900 in psychiatrische Behandlung. Marie Krøyer reiste während dieser Krise nach Sizilien und verliebte sich 1902 in den schwedischen Komponisten Hugo Alfvén (1872-1960). Krøyer versuchte, seine Ehe zu retten. Er lud Marie und ihren Liebhaber nach Skagen ein. Hugo Alfvén reiste mit seiner neuen Komposition „Midsommarvaka“ (op. 19) an.

 
 
 
 
 

„Schau’ mal der Hund!“, ruft Undine. Wir gehen wie immer getrennt durch die Bildersammlung des Skagener Museums. Denn jedes Auge sieht anders und will anderes sehen. Eine schöne Frau mit ihrem Hund am Strand. Eine noch schönere lesende Frau unter Apfelbäumen. Zu ihren Füßen ruht ein Hund: Ich bin froh, dass Tobit der Zutritt zum Museum verboten ist.

„Den Hund habe ich schon gesehen“, behaupte ich und ergänze: „Sehr schön getroffen.“

Mädchen müssen immer etwas mit sich herumschleppen, denke ich - Puppen, Einhörner, Nixen. Junge Frauen halten ihre Kinder im Arm oder an der Hand. Reife Frauen brauchen einen Hund an ihrer Seite und offensichtlich einen Künstler, der dieses Bild verewigt. Da ich nicht malen kann, sage ich zu Undine:

„Wenn wir wieder daheim sind, werde ich Edda Grossmann bitten, dich und Tobit zu malen. Vielleicht bei einer Besteigung des Brocken, denn Bilder von Wanderlust sind gerade wieder in Mode gekommen!“

Über die dänischen Maler und ihre Bilder wissen wir zunächst nichts. Unsere Eindrücke sind unmittelbar. Wir betrachten, wir tauschen uns aus. Ich höre zu und fühle mich bereichert. Ich höre weg, denn ich will mich in meinem eigenen Gedankenstrom nicht stören lassen. Wir lesen die spärlichen Informationsblätter. Ins Ferienhaus zurückgekehrt, beginnen wir unsere Studien. So bildet sich ein Mosaik. Erst im Rückblick entsteht ein erstes Bild von den Bildern.

Der Sommerabend in der blauen Meeresstunde ist kein Idyll, sondern eine Ahnung. Vor dem Horizont der Unendlichkeit werden die letzten, die wesentlichen Fragen gestellt. Als das Bild im Jahr 1978 auf einer Auktion angeboten wurde, versuchte es der Direktor des Skagener Museums für seine Sammlung zu erwerben. Axel Springer überbot ihn. Tief erschüttert durch den Freitod seines Sohnes suchte er Orientierung auch in letzten Fragen. Als er sah, welche Bedeutung der Gang in die Blaue Stunde für viele Dänen hatte, verfügte er die Übergabe des Bildes nach seinem Tod an das Skagener Museum. In der Widmung bezeichnete er sein Geschenk als Gabe der Dankbarkeit für das dänische Volk, das im Oktober 1943 vielen Juden die Flucht nach Schweden ermöglicht hatte. Diese Stiftung gibt dem Bild eine Tiefendimension, die weit über das Schicksal der Frauen hinausweist. Da hat jemand etwas gesehen, was wir nicht sahen, aber in Zukunft immer sehen werden.
 
 

 
 
 

War der Sommerabend ein Bild der Vorbereitung zur Flucht? Krøyer konnte seine Ehe nicht retten. Marie heiratete Hugo Alfvén und führte eine unglückliche Ehe, die schließlich geschieden wurde, denn der schwedische Musiker betrog sie von Anfang an. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Krøyer an einem Bild „Sankt Hansblus på Skagen strand“ - „Johannisfeuer am Strand von Skagen“ (1906). Es zeigt Dorfbewohner und Mitglieder der Künstlerkolonie am Vorabend des 24. Juni. Um das lodernde Feuer tanzen Kinder. Hinter ihnen lehnen sich Alfvén und Marie an ein Boot am Strand. Ein Bild der Versöhnung des Malers mit der Vergangenheit.
 
 

Unter den bekannten Künstlern auf der rechten Seite des Gemäldes steht der Dichter und Maler Holger Drachmann (1846-1908) mit seiner Frau. Noch heute wird am Sankt-Hans-Aften, wie die Dänen den Mittsommerabend nennen, Drachmanns Midsommervise „Vi elsker vort land“ - „Wir lieben unser Land“ (1885) gesungen. Eine Liebeserklärung an Dänemark und die Bekundung von Wehrbereitschaft gegenüber allen Feinden. Heimatliebe und Nationalismus verbinden sich in Drachmanns Hymne:

„Vi elsker vort land,
og med sværdet i hånd“

Wir finden die Mitsommer-Hymne „mit dem Schwert in der Hand“ nicht auf der CD mit Drachmann-Liedern, die Undine in dem Museumsshop kauft. Dafür schöne romantische Liebeslieder.
 

 
 
 

In Drachmanns Hus sind wir die einzigen Besucher. Hier treffen wir Lars. Er sitzt in der Sonne vor dem kleinen Museum und freut sich über die Abwechslung. Lars hat das fünfzigste Lebensjahr überschritten, ist aber noch sehr gut in Form. Wir glauben ihm sofort, dass er in Aarhus Karate unterrichtet hat. In dieser Universitätsstadt begann er Søren Kierkegaard zu lesen und ist ihm treu geblieben. Kierkegaard war schrullig, verwachsen, ein Kauz und Trollkind - also das glatte Gegenteil dieses wahrhaft nordischen Recken, der mühelos sein Ruderboot über den Atlantik nach Island gesteuert hätte.

Kein Tag vergehe ohne einen Blick in das Werk dieses dänischen Philosophen. Dass Denken traurig und einsam und die Lektüre Kierkegaards depressiv mache, kann Lars nicht bestätigen. Kierkegaard sei von untergründigem Witz wie Franz Kafka. Kierkegaard sei ein unabhängiger Geist gewesen. Er habe sich in seinem Schreiben nicht am Geschmack des Publikums orientiert. Durch das geerbte Vermögen seines Vaters war er versorgt. Als er starb, hatte er die letzte Krone ausgegeben. Ein Lebenskünstler.

Kierkegaard hat seine Verlobung mit Regine Olsen aufgelöst und ist nie wieder eine Beziehung eingegangen. Während Lars mit uns im großen Atelier von Holger Drachmann plaudert, hat draußen auf der Bank in der Sonne eine große blonde Dänin Platz genommen. Es ist 16.00 Uhr. Das Museum schließt. Wir verlassen das Drachmann-Haus. Ich frage Lars, welchen Beruf er ausübt, wenn er nicht als Museumswächter tätig ist. Die Frage führt offensichtlich auf ein zu weites Feld.

„Auf Kierkegaard wartete keine schöne Dänin, wenn er sein Haus verließ“, sagt Undine im Gehen. Das ist wohl wahr.

Holger Drachmann war dreimal verheiratet und hatte wie Hugo Alfvén zahlreiche Frauengeschichten. Ein Womenizer hatte Lars ihn genannt. Der Sohn eines Marinearztes machte eine Ausbildung zum Marinemaler, bereiste die Welt, wurde zum meist diskutierten dänischen Schriftsteller seiner Zeit. Sein schriftstellerisches Werk zählt über 50 Bände. Heute ist es nahezu vergessen.

Vergessen sind auch die Namen der meisten Künstler, die in Skagen lebten. Das Lager des Museums quillt von Bildern über, die niemand je gesehen hat. Im Sommer werden diese Staubfänger ihren Stiftern zurückgegeben oder auf Loppetmärkten verramscht. Doch vor diesem Ende werden sie einmal das Licht der Öffentlichkeit erblicken und im Museum aufgehängt werden. „So long - Adieu - Auf Wiedersehen. Vom Keller in ein neues Zuhause“ lautet der Titel der kommenden Ausstellung.

Nachdem Hans Christian Andersen Skagen besucht hatte, schrieb er die Erzählung „Eine Geschichte aus den Sanddünen“ (1860). Sie beginnt in Spanien. Hier sprechen zwei Liebende über die Vergänglichkeit, ein Thema, das Andersen bewegte.

„Mir aber genügt nur diese Welt!“, rief der Mann und umschlang sein schönes, liebliches Weib, rauchte eine Zigarre auf dem offenen Altan, wo die kühle Luft erfüllt war mit dem Duft der Orangen und Nelken. Musik und Kastagnetten erklangen von der Straße herauf, die Sterne flimmerten von oben herab, und zwei Augen voller Liebe, die Augen seines Weibes, schauten ihn mit dem ewigen Leben der Liebe an.
„Eine solche Minute“, sprach er, „ist es wohl wert, dass man geboren wird, empfindet und - verschwindet!“ Und er lächelte. Die junge Frau hob die Hand mit mildem Vorwurf - und der Schatten auf ihrer Welt war wieder verschwunden, sie waren gar zu glücklich.“

Vielleicht erleben die vergessenen Bilder jene Minute, für die es sich lohnt, gemalt worden zu sein. Drachmann starb zwei Jahre, nachdem Krøyer ihn auf seinem Mitsommernachtsbild portraitiert hatte, in Hornbæk. Seine Asche wurde in den Dünen vor Skagen beigesetzt. Holger Drachmanns Bilder zeigen immer wieder die dramatische Seite des Meeres. In einer Reisebeschreibung von Skagen schrieb Drachmann:

„Hier ist eine Wüstenlandschaft, die einen zermalmen kann. Entweder graues Gelb mit blaugrauer Luft darüber, oder glänzendes Weiß mit knallender blauer Luft darüber. Wenn man diese Landschaft malt, dann sollte man nicht einige Spuren von Menschenstiefeln oder Möwenknochen im Vordergrund vergessen. Weit draußen über der ungeheuren Fläche geht ein winziger Fischer. Hier draußen wird man ganz leicht zu einem Nichts.“

 
 

In diesen Tagen im wunderschönen Monat Mai erleben wir eine ganz andere Stimmung am Meer. Johannis, der Tag des Heiligen Hans, liegt noch in der Ferne, doch sind die Abende bereits vom Licht der hellen Nächte durchflutet. In Lønstrup bummeln wir durch die Gallerien und entdecken die Butik Hørnhuset mit Kleidern und Tischdecken aus schwedischen Leinen. Klässbols heißt der kleine Ort in Värmland, in dem Else Marie Overgaard den Tischläufer Lønstrup hat fertigen lassen. Die weißen und hellblauen Linien fangen jene Stimmung ein, die täglich vor unseren Augen liegt. Von Klässbols haben wir bisher noch nie etwas gehört. Jetzt wissen wir, dass die kleine Leinenweberei mit ihren handgefertigen Tischdecken nicht nur das Königliche Haus beliefert, sondern auch die Tische beim Bankett der Nobelpreisträger eindeckt.

Wir aber schauen über unseren kleinen Lønstrupläufer auf das stille Meer im Sonnenschein und lesen Verse von Holger Drachmann:


Lyse Nætter

Paa Stranden skælver ej det mindste Blad;
Her ruller Søen sølvblank ud sit Bad,
Og Solnedgangen lejrer sig derover.
I Himlen smeltes ind de bløde Vover,
Du skuer mod uendelige Sletter
Af Barndomsminder uden mørke Pletter,
Vemodig glad: –
De lyse- Nætter, ak de lyse Nætter!


Lichte Zeiten, dunkle Zeiten. Zeiten des Wachsens und Reifens in der Berufung. Zeiten des Aufbaus einer Familie. Zeiten des Abschieds und des Verlustes. Zeit der Entsagung. Zeit der Versöhnung. Zeit, dass etwas Neues kommt und andere das Ruder übernehmen.

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes 3.30) Das berühmte Wort Johannes des Täufers war nicht diätetisch gemeint. Es markiert den Abschluss seines prophetischen Auftrages. Die Zeit hatte sich erfüllt. Ein neuer Mann kam. Johannes ist der Heilige Hans. Mittsommer wurde sein Fest. Denn nun nehmen die lichten Tagen wieder ab. Die Nächte werden länger. Das Dunkel wird wachsen.