„Spasitel’ mira, spasi Rossiju!“
Die Russlandmission des Vatikan

In Dikson am Eismeer (1995)

 

„Die katholische Kirche blickt mit großer Achtung und Zuneigung auf das großartige geistliche Erbe der ostslawischen Völker“, hatte Johannes Paul II. in seinem Brief vom 7. Juni 1988 an den Generalsekretär der KPdSU geschrieben. Kardinal Casaroli überreichte ihn Michail Gorbatschow persönlich. Er war zur 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Russlands nach Moskau gekommen und sprach im Bolschoi-Theater über Menschenrechte und Religionsfreiheit. Wenige Monate zuvor war der Chor der Roten Armee im Vatikan aufgetreten und hatte dort ein Ave Maria angestimmt. Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse wuchsen in der Zeit des großen stalinistischen Terrors und der gnadenlosen Verfolgung der russischen orthodoxen Kirche auf. Beide gestanden Kardinal Casaroli, damals in den Dreißiger Jahren heimlich getauft worden zu sein. Um der sterbenden Kirche in der Sowjetunion zu Hilfe zu kommen, gründete Papst Pius XI. (1922-1939) im Jahr 1929 das Russicum. Dieses Institut verstand sich als Kaderschmiede einer zum Martyrium bereiten Elite von Priestern. Die vielsprachigen Gottesmänner waren wie die ersten christlichen Missionare Einzelkämpfer. Arm wie Kirchenmäuse, doch reich an Glauben an ihren göttlichen Auftrag, Christen im Untergrund, in der Verbannung, in den Gulags ein Zeichen des Lichtes und der Liebe zu senden. Ihr Heroismus des Glaubens und ihr hoher Mut ist von dem Schriftsteller Edzard Schaper beschrieben worden.

„Retter der Welt, rette Russland!“ („Spasitel’ mira, spasi Rossiju!“), steht auf dem Grundstein des Russicums. In seiner lateinischen Form war es das tägliche Gebet des Papstes („Salvator mundi, salva Russiam“). Viele der Priester waren russische Konvertiten. Nach der Revolution hatte Patriarch Tichon zuerst den Widerstand geprobt und die neuen Machthaber in den Kirchenbann gesetzt. Eine noch größere Verfolgung der Priester und eine Enteignung von Kirchen und Klöstern waren die Folge. Christen wurden grausam verfolgt. Um die Gemeinden vor noch größerer Bedrängnis zu schützen, schloss die Kirche einen Pakt mit der Staatsführung. Andere Christen gingen in den Untergrund.

Russlandberater des Papstes war der belgische Jesuit Michel Bourguignon d’Herbigny (1880-1957). Er hatte über Vladimir Soloviev promoviert und wollte in dem russischen Philosophen einen heimlichen Konvertiten erkannt haben. Konvertiten hatte es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Unter ihnen waren auch Frauen wie Julia N. Danzas (1879-1942), die aus einem sowjetischen Vernichtungslager gegen eine hohe Zahlung westlicher Devisen befreit werden konnte. In Frankreich trat sie in den Orden der Dominikanerinnen ein und wurde später Dozentin am Russicum. D’Herbigny reiste im Auftrag der Kommission Pro Russia 1925/6 mehrfach in die Sowjetunion, um die Möglichkeit eines Aufbaus einer katholischen Hierarchie zu erkunden. Eugenio Pacelli konsekrierte ihn 1926 in der Kapelle der Berliner Nuntiatur als Bischof von Troja (Ilium). Als trojanisches Pferd im Dienst Roms weihte d’ Herbigny später vier Bischöfe und sechs apostolische Administratoren in der Sowjetunion. Sie alle flogen auf und kamen in Lagerhaft.

d’Herbigny trug den Titel eines „relator perpetuus“. Dieser erlaubte dem  unermüdlich tätigen Visionär einen unbeschränkten Zugang zum Heiligen Vater. Viele dieser Besuche fanden nachts statt. Für d’ Herbigny kein Problem, da er den Schlaf auf ein Minimum reduziert hatte und oftmals ganz auf ihn verzichtete. Die Frage, ob eine Russlandmission erlaubt sei, stellte sich weder dem Papst noch seinem Berater. Sie schien vielmehr um der Rettung der Seelen willen geboten. Als Ziel der Ökumene galt die Rückkehr der verlorenen Schafe in den römischen Schafstall, damit nach vielen Spaltungen am Ende alle eins seien. Pius XI. hatte diese „Rückkehr-Ökumene“ in der Enzyklika „Mortalium animos“ (1928) beschrieben. D’Herbigny sah in der apokalyptischen Bedrängnis die einmalige Chance für eine Hinwendung Russlands zum Katholizismus. Später werde ganz Asien bekehrt werden. Das war seine Vision, für die er bereit war, sein Leben zu opfern. Sein Wahlspruch lautete: „Die Motte flattert solange um die Flamme, bis ihre Flügel verbrannt werden.“

D’Herbigny verstand sich als Nachkomme der kämpferischen Jeanne d’ Arc. Im Jahr ihrer Heiligsprechung (1920) arbeitete er als Dozent im belgischen Enghien. Dieses Institut gilt als Vorläufer des Russicums. Es war als „La Maison des Saint-Anges“ den Engeln geweiht. Der Bruder des Russlandexperten war Missionar in China, seine Schwester Karmeliterin. Zur spirituellen Elite gehörte der Karmel von Lisieux. Pius XI. hatte die kleine Therese heilig gesprochen. Das Russicum stellte er unter den Schutz dieser Heiligen, von deren hohem Erwählungsbewusstsein die zukünftigen Russlandmissionare lernen sollten. Der Karmel von Lisieux und allen voran Thereses leibliche Schwester, die Priorin Agnes de Jésus, finanzierten aus Spendengeldern zum großen Teil das Russicum. Es trägt daher den Namen der kühnen Heiligen im Titel: „Pontificium Collegium Russicum Sanctae Theresiae ab Infante Jesu“. 

Der polyglotte Vendelín Javorka (1882-1966) wurde der erste Rektor des Russicums. Zu seinem Dienstantritt reiste er nach Lisieux. Hier erhielt er eine Statue und ein Mosaikbild der Heiligen. In der Mandschurei und in China betreute er ab 1934 die zahlreichen russischen Emigranten. 120 Familien konvertieren zum Katholizismus. Der Papst hatte ihm bei seinem Aufbruch ins Unbekannte den Rat gegeben, stets gegen alle Hoffnung zu hoffen („Debes sperare contra spem!“). Dieser unerschütterliche Optimismus trug ihn auch bei der Russlandmission in Shanghai und in der Bukovina, wo er 1941 illegal die rumänisch-sowjetische Grenze überschritt. 1945 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst enttarnt und von einem Gericht zu zehn Jahren Arbeitslager im arktischen Vorkuta verurteilt. Er kam 1945 frei und verbrachte seinen Lebensabend in der Tschechoslowakei. 

Zu den Priestern, die das sowjetische Lager überlebten gehörte auch Armando Zavatta (1915-1976). In seinem Bericht mit dem ironischen Titel „Zwölf Jahre im Sowjetparadies“ (1958) warnt er eindringlich vor dem sowjetischen Imperialismus: „In Wahrheit rüstet Russland zum Krieg, wird aber erst in einigen Jahren dazu bereit sein. In der Zwischenzeit möchte man erreichen, dass die Westmächte abrüsten; das ist der Grund, warum man so laut verkündet, dass man nur den Frieden will.“ Damals sprach man vom Kalten Krieg und Kalten Kriegern. Die Erinnerung an die Annexion Königsbergs, Ost-Kareliens und des Baltikums wurde in den Sechziger Jahren tabuisiert. Litauen, Lettland und Estland konnten sich erst nach dem Mauerfall von den sowjetischen Besatzern befreien. Vielleicht sind auch Königsberg und der Osten Finnlands bald nicht mehr vergessen. 

Der von Hitler und Stalin in Abwesenheit zum Tode verurteilte Schriftsteller Edzard Schaper (1908-1984) hatte in Estland und Finnland Kontakt zu Priestern des Russicums. In seiner Chronik „Der Aufruhr des Gerechten“ (1963) erzählt er die Geschichte von zwei jungen Priestern, die nach Estland kommen, um von hier aus über die Grenze ins Rote Reich vorzudringen. Katholische Aufbauarbeit in Tallinn betrieb seit 1930 P. Eduard Profittlich SJ. Er war Priester und später Erzbischof. Als sowjetische Truppen Estland eroberten, blieb Profittlich im Land. Er wurde verhaftet und starb in einem Konzentrationslager. Die Geschichte dieser unter dem russischen Terror leidenden Kirche ist von Edzard Schaper in vielen Büchern erzählt worden. Sie wurden viel gelesen von einer Generation, die den Krieg erlebt hatte. Mit der neuen Ostpolitik kam zugleich das große Vergessen vergangener Gräueltaten. Erst der russische Angriffskrieg auf die Ukraine holt verdrängte oder politisch tabuisierte Erfahrungen wieder hervor. Sie werden unser Geschichtsbild wandeln. 

Edzard Schaper hat in seinen Romanen die Geschichte der sterbenden Kirche verdichtet. In der Figur des Missionars und Märtyrers sah er eine Ikone der Nachfolge Jesu. Unsere Zeit nähert sich wieder diesem Geheimnis des Kreuzes an. Zur Passion bereit waren auch die Vettern Armandus de Caluwé (1911-2002) und Robert de Caluwé (1913-2005). Diesen Absolventen des Russicums begegnete Edzard Schaper nach der Besetzung Estlands im finnischen Exil. Armandus gründete in Helsinki eine russisch-katholische Gemeinde und betreute russische Kriegsgefangene. Robert gründete nach dem Krieg das ökumenische Zentrum St. Peter und Paul am See Bodom bei Espoo (Ekumeeninen Keskus Myllyjärvi). Armanus zieht später nach Oulu, heiratet und wird Lehrer an einer Grundschule. Nach seiner Flucht aus einem sowjetischen Lager erhält d’Herbigny 1937 Predigtverbot. Er stirbt als Bischof unerkannt in Baume-Ste-Marie. P. Constantin Simon SJ war der letzte Vizedirektor des Russicums. Er veröffentlichte unter dem Titel „Pro Russia. The Russicum and the Catholic Work for Russia“ (2009) eine umfangreiche Geschichte des Instituts, bevor er zur russischen orthodoxen Kirche konvertierte und nach Moskau übersiedelte. Das Russicum wurde 2016 aufgelöst.