Rano Achunowa gründete die erste Waldorfschule in Tadschikistan.

Eine Deutschlehrerin in einem muslimischen Land russischer Prägung.

Engel kennen keine Grenzen. 

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Der Beruf führte mich ins östliche Niedersachsen, nicht weit entfernt von der Grenze zur DDR. Es war das Jahr 1987. Mit drei kleinen Kindern wohnte ich in dem Dorf Solschen zwischen Braunschweig und Hildesheim. In dieser Landschaft hatte Friedrich von Spee gewirkt, hier war er überfallen und schwer verwundet worden. Das Dorf besaß eine Kirche, in der 800 Gläubige bequem Platz gefunden hätten. Das Gotteshaus wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut und dem Heiligen Pancratius geweiht.  Aus dieser Zeit stammten auch die emaillierten Schilder mit den Namen der Stifter. Sie markierten nun die leeren Sitzplätze.

 

Dieser Ort sollte für mich zu einer Erfahrung werden. Jeden Sonntag versammelte sich hier eine Gemeinde von fünf, manchmal zehn Gläubigen. Keine Ermunterung vermochte sie zu motivieren, gemeinsam in der ersten Bank Platz zu nehmen. Ein junger Organist spielte selbstverliebt sein Instrument. Vom Gesang der Gemeinde war nichts zu hören. Die Gläubigen senkten ihr Haupt, als hätte sie eine große Scham ergriffen. Eine an Erstickung grenzende Sprachnot breitete sich auch in anderen Gemeinden aus.

 

1985 hatte ich erste Erfahrungen als Religionslehrer an der Ursulaschule in Osnabrück gesammelt. Schulleiter war damals Pater Werinhard Einhorn OFM. Er hatte über das Einhorn in der Kunst des Mittelalters promoviert. Jeden Morgen wurde ein Gottesdienst gefeiert. Methodische Anregungen für die Gestaltung von Schulgottesdiensten gab es zuhauf. Aber schnell merkte ich bei der Lektüre dieser Arbeitshilfen, dass sie oftmals nur ein Ausdruck des Mangels eigener Frömmigkeit und inwendigen Lebens waren und sich deshalb in Äußerlichkeiten verloren. Schüler aber haben einen untrüglichen Blick für das Authentische.

 

Wer Gottesdienst feiern will, darf den Weg nach Innen nicht scheuen. Pater Werinhard war auch hier ein Lehrmeister. Einmal erzählte er von einer Unruhe, die ihn ergriffen hatte. Zur Vorbereitung einer Andacht suchte er in den Geschäften der Bischofsstadt Osnabrück nach einem Geige spielenden Engel. Er wollte ihn der Schulgemeinde zeigen, um anschaulich über das Gotteslob und die Musik der Engel zu predigen. Eine Firma aus dem Erzgebirge stellt jene Engel her, die zur Weihnachtszeit die Wohnzimmer schmücken. Engel dienen vielerorts als Nachfolger der Laren und Penaten. Sie dekorieren Wohn- und Schlafzimmer, sie schmücken Gräber und Gartenteiche. Aber fördern sie auch unseren Lobgesang? Pater Werinhard hatte damals seine Suche nach dem Engel des Lobpreises ohne Ergebnis abgebrochen. „Was suchst Du eigentlich?“, hatte er sich gefragt. „Warum brauchst Du einen singenden Engel, wo Du und Deine Schüler doch selbst singen können!“ Die kleine Geschichte wurde für mich zum ersten Schritt der Begegnung mit einem großen Geheimnis: Der wahre Gottesdienst beginnt im Herzen. Denn wie das Einhorn, so liebt Gott die Verborgenheit und die große Stille.  Niemand vermag durch List und Gewalt das Einhorn zu fangen. Doch wer in seinem Herzen ganz stille wird und andächtig, zu dem kommt es und bettet zärtlich sein Haupt in den Schoß.

 

Gott ist ein stiller Gott. In meiner Dorfgemeinde aber war es beängstigend still. Deshalb sang ich besonders laut und dachte dabei an jene alten Männer in den Gottesdiensten meiner Kindheit. Einer genügte, der seine Stimme erhob, und ich fühlte mich sicher und geborgen.

 

An den Bänken der Solschener Kirche leuchteten die weißen Namensschilder jener Familien, die in diesem Gotteshaus einst das „Großer Gott, wir loben dich!“ aus 800 Kehlen vielstimmig gesungen hatten. Ich schaue auf die Schilder und las die Namen. Da war es mir, als riefen die Schilder ihre Namensträger herbei: Wo seid ihr? Wo sind eure Kinder und Kindeskinder? Eine Schwundstufe war erreicht.

 

Die Wüste ist der Ort der Anfechtungen und Versuchungen. Aber auch das Rettende ist nahe. Es führt wieder zur Mitte und ins Wesentliche. In meiner Wüste entdeckte ich die alten Lieder in neuer Weise. Die langen Predigten boten viel Zeit für die Lektüre. Und das Lesen wurde zu meinem Gebet und führte mich zu den Engeln, die ich seit je geliebt und auf dem Weg ins Leben fast verloren hatte. In den Liedern war zu allen Zeiten des Kirchenjahres die Rede von den himmlischen Chören der Engel.

 

„Alles, was dich preisen kann,

Cherubim und Seraphinen,

stimmen dir ein Loblied an,

alle Engel, die dir dienen,

rufen dir stets ohne Ruh:

‚Heilig, heilig, heilig!’ zu.“

 

Warum singen die Engel? Gewiss nicht zur Unterhaltung Gottes. Ihr Gesang ist Ausdruck eines Lebens im Wesentlichen: Sie sehen Gott von Angesicht zu Angesicht. Immer haben sie ihn vor Augen. Gott erfüllt sie. Sie können gar nicht anders. Denn Gott singt in ihnen. Diese gottseligen Geister sehen, was uns, solange wir auf Erden sind, verborgen bleibt: Gottes Gegenwart. Ihr Gesang ist die Antwort auf die große Herrlichkeit. Gott ist Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Mag die Gemeinde auf Erden verstummen oder im Eifer der Reformen das Wesentliche aus dem Blick verlieren, die Seraphim und Cherubim mit dem großen Heer der Engel werden unverdrossen den Lobpreis anstimmen.

 

Die eigene Stimme und den Chorgesang kann man trainieren. Lieder kann man lernen. Doch was die Seele singen macht, ist nicht von dieser Welt. Das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim und das „Ehre sei Gott in der Höhe!“ der himmlischen Heerscharen bei den Hirten zu Bethlehem ist die Antwort des Geschöpfes auf die Gotteserfahrung.

 

Die Kirche auf Erden stimmt ein in den Lobgesang der Kirche im Himmel. Mögen unsere Augen gehalten sein und unser Atem kurz werden, die Stimmen matt und verzagt, mag uns ein kalter Schauer ergreifen und die Angst vor einem unseligen Ende, das Gloria und Sanctus der Engel wird nicht verstummen.

 

Durch den Gesang hatte ich den Weg zu jenen Engeln wiedergefunden, die mich im Werden und Wachsen der Kindheit begleitet hatten: „Guten Abend, gute Nacht, von Englein bewacht“, „Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich stehn“. Als ich die Lieder an meine Kinder weitergab, wurde ich selbst für den Augenblick des Gesanges wieder Kind. Ist nicht alle wahre Frömmigkeit eine Wiederentdeckung der Kindheit?

 

1989 wurde ich mit der Ausbildung angehender Religionslehrer betraut. Wie in der religiösen Erziehung der eigenen Kinder stand ich vor der Aufgabe, nicht allein Wissen zu vermitteln, sondern Wege zur Begegnung mit der heimlichen Weisheit der Bibel und der Tradition zu beschreiten.

 

Gerhard Tersteegen hat dem gemeinsamen Lob von Engel und Mensch in einem Lied Ausdruck verliehen. Es ist wohl eine der besten Gebetsübungen.

 

„Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten

und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige

und sich innigst vor ihm beuge.

Wer ihn kennt,

wer ihn nennt,

schlagt die Augen nieder;

kommt, ergebt euch wieder.“

(GL 387.1)

 

Tersteegen bildet die Mitte jener biographisch und hymnologisch ausgerichteten Engelbücher wie „Breit aus die Flügel beide“ oder „Das große Buch der Engel“, die ich Anfang der Neunziger Jahre im Herder Verlag vorlegte. Ihnen folgten Einladungen zu Einkehrtagen mit den Novizenmeistern und –meisterinnen des Benediktiner- und Zisterzienserorden über das hymnologische Vorbild der Engel für den Lobpreis der Kirche. Die gemeinsame Zeit in den Klöstern Mariastein und Engelberg schenkte mir die Möglichkeit der Teilnahme an den Stundengebeten. Während sich die Mönche hinter der Chorschranke versammelten, saß ich mit den Schwestern im Kirchenschiff. Dann begannen unter Verbeugungen die Psalmengesänge, als folgten sie den Anweisungen von Tersteegen Loblied.

 

„Gott ist gegenwärtig,

dem die Cherubinen

Tag und Nacht gebücket dienen.

Heilig, heilig, heilig! singen ihm zur Ehre,

aller Engel hohe Chöre.

Herr, vernimm

unsre Stimm,

da auch wir Geringen

unsre Opfer bringen.“

(GL 387.2)

 

Die Nonnen und Mönche, so hatte es der Heilige Benedikt gewollt, sollen ein Engelleben führen. Doch Menschen sind keine Engel. Engel singen „ohne Ruh“. Wir aber ließen eine Sitzung ausfallen und wanderten bei strahlendem Sonnenschein hinter das Kloster Engelberg, zogen unsere Schuhe aus und badeten die Füße im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches. An einem anderen Tag besuchten wir vor der Vesper die Eissporthalle und spielten Stockschießen – die Patres und Schwestern natürlich im Habit. Aber in der Anbetung traten wir wieder an die Seite des niemals unterbrochenen Lobgesanges der Cherubim und Seraphim.

 

 

Engel in Älmhult/Sverige