Collage Adobe Stock. Tagespost von 15. Juli 2021

Der Artikel erschien zuerst in der Tagespost:

 

https://www.die-tagespost.de/autoren/uwe-wolff/

 

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"Zugleich wird ein heiliger Papst auftreten,

nicht von Kardinälen gewählt,

sondern von Gott gesandt..."

 

Friedrich Baethgen. Der Engelpapst. Max Niemeyer. Halle 1933. S. 90

 

 

Früher sah die Gemeinde im Priester den engelgleichen Mann. Heute wissen wir, dass Idealisierungen den Blick trüben können. Priester sind keine Engel. Sie haben nicht nur kleine menschliche Schwächen, sondern können abgrundtief fallen. Wie übrigens auch die „Gottessöhne“ (Gen 6.1-2), die sich an den „Menschentöchtern“ vergingen, oder jene Männer von Sodom, die den Engeln nachstellten (Gen 19.5). Die Bibel verschweigt das Abgründige nicht . Es markiert den Abstand vom Ideal, widerlegt jedoch nicht seine Gültigkeit. Benedikt von Nursia hatte vom engelgleichen Leben in dienender Liebe gesprochen.

 

Die Rede vom Engelpapst oder Pastor bonus nimmt dieses Ideal auf und beschreibt mit ihm eine ökumenische Hoffnung auf Heil und Heilung der zerspaltenen Christenheit, ihre Versöhnung mit den Geschwisterreligionen und darüber hinaus mit allen Menschen, die bisher Gott nicht kannten oder in ihrem Leben nicht vermissten. Die träumerische Sehnsucht vom Kommen des Pastor angelicus „gehört zu dem Heimlichsten und Zartesten katholischer Frömmigkeit, und so gut wie niemand redet von ihr; denn nur wenige katholische Fromme schauen das Papsttum in seinem erschreckenden Abstand von Jesu Ideal und bleiben ihm gleichwohl in Treue und Liebe ergeben.“

 

So schreibt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967) in seinem Werk „Der Katholizismus“ (1923) und entwirft ein Traumbild von dem engelgleichen Papst der Zukunft. Dieser Papa angelico werde ein Sohn des heiligen Franz sein, werde nicht im apostolischen Palast wohnen, die Huldigungen der Kardinäle und Prälaten verschmähen, werde Buße tun für die unzähligen Sünden seiner Vorgänger und vom Primat der dienenden Liebe in Demut sprechen. Den getrennten Brüdern der lutherischen und reformierten Kirchen, den Schwesterkirchen im Osten wird er die Hand zur Rückkehr reichen. Im Zeichen der Liebe sollen die verlorenen Söhne und Töchter wieder in den Schoß der una sancta ecclesia heimkehren. Dieser Engelpapst wird versöhnen statt spalten, er wird nicht ausgrenzen, sondern integrieren: Die unter dem Primat Roms stehende versöhnte Christenheit muss ihre eigenen Traditionen, ihre Überlieferungen und Sitten in dieser Einheit in der Vielfalt der Stimmen nicht preisgeben.

 

Wie aber werden sich die alten und neuen Ketzer und Kirchenkritiker verhalten? Friedrich Heiler engagierte sich in der Una-Sancta-Bewegung und war optimistisch, dass alle synodalen Wege letztlich wieder nach Rom führen werden. Er glaubte an eine Allversöhnung. Gerade die hartnäckigsten Kritiker werden die Knie beugen. Nicht vor der Macht, nicht vor der Gewalt, nicht aus Furcht und Zittern, sondern vor der Evidenz der Erscheinung des Engelpapstes. So ist Heiler zuversichtlich:

 

„Gerade jene, welche seit Jahrhunderten die Papstkirche leidenschaftlich befehdet hatten, werden nun ihre eifrigsten und treuesten Glieder. Die alten ‚Häresien‘ und ‚Schismen‘ verschwinden; Orientalen und Anglikaner, Lutheraner und Calvinisten, Sektierer und Spiritualisten - alle beugen sich diesem neuen Papst, der zu ihnen kommt, nicht um über sie zu herrschen, sondern um ihnen zu dienen. Sie bleiben, was sie sind; sie behalten ihre Kultformen und Einrichtungen und hüten das besondere Charisma, das ihnen zuteil geworden ist. Aber sie stehen fortan nicht mehr getrennt von der ecclesia universalis, sondern sind vereint mit ihr und schöpfen aus ihrem Lebensreichtum und ihrer Gnadenfülle. Eine una sancta ersteht, wie sie die Welt nicht mehr gesehen seit den Anfängen der Christenheit, ja, noch größer und reicher und wunderbarer als die una sancta der ersten christlichen Jahrzehnte.“

 

Der Papa angelico besiegelt die Liebeseinheit der Kirche. Er dient in den Kathedralen des Abendlandes, feiert die Eucharistie in den Ostkirchen, „er bricht das eucharistische Brot an den schmucklosen Tischen evangelischer Puritaner und reicht den eucharistischen Kelch an den Altären der evangelischen Hochkirchen.“

 

Visionen fallen nicht nur vom Himmel. Sie erzählen von den Sehnsüchten frommer Seelen in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Wenn das Amt versagt, ist die Stunde der Seher und Reformer gekommen. In der langen Sedisvakanz nach dem Tod Clemens IV. (1200-1268) zirkulierte unter den Kardinälen im Konklave die Weissagung: der neue Papst werde der Welt Frieden schenken, Jerusalem erobern und das Heilige Grab von den Ungläubigen befreien. Er werde die Kranken heilen und die Verlorenen suchen. Der Sittenverderbnis unter den Klerikern werde er ein Ende bereiten und die gespaltene Kirche wieder zur Einheit führen.

 

In der Zeit der Kreuzzüge entstand der Traum von einer weltweitenden Ökumene. Er übernahm Erzählmuster der Kaisersage von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa und steigerte sie zu einer ökologischen Utopie. Unter dem Engelpapst werde der Mensch wieder achtsam mit der Natur umgehen, dem Wolf die Hand zur Versöhnung reichen, den Vögeln predigen und mit den Muslimen einen interreligiösen Dialog führen. Roger Bacon (1220-1292), als Franziskaner und „Doctor mirabilis“ hoch verehrt, verschwieg aber nicht die Grenzen der Integration:

 

„Und um der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Papstes willen wird es geschehen, dass die Griechen zum Gehorsam der römischen Kirche zurückkehren, die Tataren in ihrer Mehrzahl zum Glauben bekehrt und die Sarazenen vernichtet werden. Und es wird sein ein Hirt und eine Herde.“

 

Vier Jahre dauerte es, bis ein neuer Papst gewählt werden konnte. Er kam von weit her, war nicht einmal Priester und herrschte als Gregor X. (1210-1276) unter einem großen Namen. Aber er war nicht der Engelpapst. Der lebte von der Spiritualität der Franziskaner genährt weiter im Verborgenen eines kommenden dritten Reiches.

 

Als der Historiker Friedrich Baethgen (1890-1972) auf Einladung der Königsberger gelehrten Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag über die Utopie des Engelpapstes hielt, hatte das Geschichtsbild des Joachim von Fiore eine unheilvolle Aktualität bekommen. Der Königsberger Ordinarius glaubte nicht wie Lessing in „Erziehung des Menschengeschlechtes“ an ein kommendes drittes Zeitalter. Im Gegensatz zu Friedrich Heiler vertraute er auch nicht auf die Allmacht der Liebe.

 

„Der Gedanke, ein Papsttum ausschließlich auf die moralischen Fundamente reiner und geläuterter Menschlichkeit zu gründen, stand nicht nur in unversöhnbarem Gegensatz zu den Grundtendenzen der Entwicklung, die diese Institution in einer jahrhundertelangen Geschichte durchlaufen hatte, sondern widersprach auch den allgemeinen Bedingungen und Notwendigkeiten, von denen keine religiöse Organisation sich auf die Länge zu emanzipieren vermag.“

 

Zum Marburger Kreis um Friedrich Heiler gehörte auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003). Sie teilte mit ihm das Ideal einer „Evangelischen Katholizität“ und den ökumenischen Blick einer Liebesmystik, der weit über die Grenzen des Christentums hinausführte. Der Katholik Heiler hatte unter Nathan Söderblom am lutherischen Abendmahl teilgenommen und später die Bischofsweihe in der gallikanischen Sukzession empfangen, weshalb er mit Griechen und Russen in Marburg die orthodoxe Osternacht feiern konnte. Jeden Sonntag zelebrierte er in seiner Hauskapelle die Evangelische Messe, über deren Atmosphäre Annemarie Schimmel in ihrer Autobiographie berichtet:

 

„Treue Freunde nahmen daran teil, und später saß auch das Hündchen Mitra und dessen Nachfolger, der schwarze Laqit, ‚Findelkind‘, still in der Kapelle. Ich stenographierte oft die Predigten mit und wußte, wenn der Satz ‚Gott ist Liebe‘ kam war die Predigt bald zu Ende. Es waren schöne Stunden, in denen die für Heiler typische Verbindung von Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit deutlich wurde.“

 

Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit hat religiöse Seelen zu jeder Zeit tief bewegt. Er wühlte auch Søren Kierkegaard auf und trieb ihn zu seinen scharfen Angriffen gegen die dänische Volkskirche. Dänemark kennt ebenfalls die Gestalt des verborgenen Retters. Der keltische König Artus ruht im Feenreich von Avalon, bis seine Zeit gekommen ist. Holger Danske schläft sitzend und mit dem Schwert in der Hand in den Kasematten von Hamlets Schloss Kronborg. Niemand kennt den Tag seines Erwachens. Aber die Sage weiß, dass es eine Stunde höchster Not und Bedrohung des dänischen Volkes sein wird. Dann wird sich Holger Danske erheben. Solche nationalen Träume kann sich Deutschland nicht mehr leisten, wohl aber die russische orthodoxe Kirche. Sie versteht sich als drittes Rom. Doch in den Augen ihrer Kritiker ist sie nicht das „heilige Russland“ und „heilige russische Imperium“ („Svjatoruskaja zemlja“), das Philotheos von Pskov schaute. Die russisch orthodoxe Kirche war seit Peter I. bis zur Revolution eine Staatskirche. Heute ist sie es wohl wieder, wenngleich es keinen Zaren mehr gibt. Doch ist die Figur eines endzeitlichen „weißen Zaren“ nie aus dem Bewusstsein der Frommen verschwunden.

 

Im Westen erwacht der Traum vom Engelpapst mit der ökumenischen Bewegung und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie Friedrich Heiler wollten viele Menschen in Johannes XXIII. den Engelpapst sehen. Heute wissen wir, er war es nicht. Die Idee des Engelpapstes integriert auch Motive des Messianismus’. Die Ankunft des Messias wird wie die Parusie Christi nicht durch Konzilsbeschlüsse eingeläutet. Sie kommt wie der Dieb in der Nacht.

 

Ob Papst Franziskus mit seiner Namenswahl und seiner Schwerpunktsetzung von der Idee eines Engelpapstes inspiriert worden ist, werden künftige Historiker herausfinden. Unsere Zeit fühlt sich von Endzeitängsten in apokalyptischer Dimension bedroht. Aber sie reagiert nicht mehr wie die franziskanische Bewegung mit Buße und Umkehr zu Gott. Ihre Utopien reichen nicht über den Horizont der Wirklichkeit hinaus. Deshalb kann sie nicht mehr vergeben und duldet in anderen die Schwäche nicht, die sie insgeheim in sich selbstverabscheut. Daher die Angst und die Gier. Von Mystik keine Spur und auch keine Erwartung kommenden Heils. Der Engelpapst bleibt im Verborgenen. Hier aber ist er vielleicht gegenwärtiger als in der sichtbaren Welt. Einen Engel erkennt man erst, wenn er vorübergegangen ist. So wird es auch mit dem Erscheinen des Engelpapstes sein.

 

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"Ja, husk kun på mig I danske folk!
behold mig i tanke! jeg kommer i nødens time!“

 

Holger Danske
Et eventyr af Hans Christian Andersen

 

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Gesehen im Ikea-Museum Älmhult (2017)

 

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