ROLF SCHILLING - Dichter der Inneren Emigration
(Neue Zürcher Zeitung vom 31. Dezember 1990)

 

 


Wer sagt, daß die besten Dichter und Denker die DDR verliessen, nur Angepaßte im real existierenden Sozialismus blieben und reüssierten, der kennt die Schubladenliteratur der Inneren Emigranten nicht, die nun nach der Öffnung der Mauer bekannt wird. Mit ihr hat niemand gerechnet und schon gar nicht mit einer siebenbändigen Werkausgabe eines Dichters, von dessen Existenz nur ein kleiner Freundeskreis wußte. Der 1950 in Nordhausen geborene Rolf Schilling legt mit den Bänden „Das Holde Reich“ und „Schwarzer Apollon“ Essays zur Symbolik vor, einen Band mit Huldigungen an seine literarischen Wegbegleiter, zu denen George, Wagner, Jünger und Borges gehören, Übersetzungen von Swinburne und drei Bände mit eigenen Gedichten und Dramen unter den Titeln „Scharlach und Schwan“, „Stunde des Widders“ und „Questen-Gesang“.

Sänger und Seher

Rolf Schilling ist ein unzeitgemäßer Kämpfer gegen seine Zeit, sein Werk eine totale Verweigerung. Die moderne Wirklichkeit, die Welt der Technik, die Sprache des Alltags sind darin vollständig ausgeblendet. Seit George wurde in deutscher Sprache nicht mehr so gedichtet.


„O sage mir, Späher
Im südlichen Hain,
Sind Sänger, sind Seher
Längst Sage und Stein?
Sprich, Hüter im Heilen,
Du Zierde des Rings:
Wo werden wir weilen,
Wenn Windzeit verging?“


Windzeit, das sind für Rolf Schilling nicht nur die Jahre der SED-Diktatur, sondern die gesamte deutsche Unheilsgeschichte seit 1914, das ist die Urbanisierung, die innere Aushöhlung des Menschen, der „Werteverlust ohnegleichen“, die „Erstarrung und Mechanisierung des geistigen Lebens“, die Zerstörung der Natur und der Verlust der Tradition deutschsprachiger Dichtkunst, der Lesekultur. Gegen die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts setzt Schilling sein nicht unproblematisches Verständnis deutscher Dichtung, nach dem der Dichter Seher und Prophet ist. Nicht seine Zivilisationskritik, sondern seine archaisierende Sprache wird Mißverständnissen ausgesetzt sein und kontrovers diskutiert werden. Im hohen Ton apodiktischer Urteile, getragen durch ein von Nietzsche beeinflußtes Sendungsbewußtsein, beschwört Schilling die Götter Griechenlands, die vorchristlichen Mythen der Skalden, den Kult der Androgynität. Als Sprachrohr der Götter ist er Zeichenempfänger und -Stifter, vom Schicksal geleiteter Runen-Schnitzer, der sich in einer Privatmythologie zum letzten Sänger des „Holden Reiches“, zum Gralsritter und in seinem Amt als Dichter als „echter Gottesbeweis“ stilisiert:

„Setz deine Runen ins Rechte,
Sei, der du bist,
Ob dich der Himmel befechte,
Ob dich die Erde vergisst,
Gott sich mit Schattengebärde
Jenseits der Zeiten verlier,
Weisst du: Gott, Himmel und Erde
Dauern gewaltig in dir.“

 

Partizipialstil, Inversionen, Steigerungsformen der Adjektive und Substantive erzeugen das hohe Pathos in Schillings Lyrik; der Blick in End- und Verfallszeiten, verbunden mit heroischen Anredeformen, ermöglicht das hohe Lebensgefühl des letzten Sängers in einer Zeit, wo die Stimmen „verloht“ sind. Aare fliegen durch die Luft, Greife, Sphinxe und Einhörner werden beschworen, doch auf einsamem Posten mit blutender Stirn harrt der Sänger, während „Die Nornen, tagblind, spinnen – Das große Ausgeträumt“. Rolf Schillings Lyrik ist ausschließlich im Selbstgespräch mit der Literatur der Vergangenheit entstanden. Ihn bewegte dabei nicht nur der Versuch, seine „Identität als Mensch und Künstler im Raum deutscher Sprache und Tradition“ zu bewahren, sondern auch die Sehnsucht nach einer Erneuerung großer Dichtung aus dem Geist der Mythologie, wie es in anderem Sprach- und Kulturkreis Borges, Paz und Aitmatow gelungen sei. Daß durch die deutsche Geschichte sämtliche Träume vom „Holden Reich“ belastet sind, weiß Schilling. Er rechnet auch damit, daß man ihn als „elitär, pervers, faschistoid“ brandmarken wird. Das kann ihn in seinem Traum von den alten Göttern nicht beeinflussen. Schilling hat nicht wie Epimenides die Zeit verschlafen, er kennt auch die bundesrepublikanischen Diskussionen der Nachkriegszeit über die Möglichkeit von Dichtung nach Auschwitz. Trotz Thomas Manns Warnung im „Doktor Faustus“ über die Nähe des Ästhetizismus zur Barbarei, hält er dennoch an altgermanischer Sitte und Religion fest, wissend: 

„Auch diese Welt besitzt, wie jede andere, ihre rein historische Seite, ihr Unwiederbringliches in dem Sinne, daß es gar nicht gut wäre, wenn gewisse Bräuche wiederkehrten, die sich nur begründen lassen aus der Härte des Daseins im nordischen Winter, aus dem Kampf ums Überleben in einer kargen und oftmals feindlichen Natur.“

Heroische Gegenwelt

Rolf Schillings Germanen sind reine Gestalten der Phantasie, die mit unserer geschichtlichen Wirklichkeit kaum etwas zu tun haben. Das gerade könnte sie gefährlich machen. Ihnen kommt auch keine echte symbolische Qualität zu, sie dienen nur zur Evokation von Gefühlen und Stimmungen. Eine kleine Szene aus dem Essay „Questenberg. Fährten im Traum-Harz“ belegt dies. Unterwegs mit seiner kleinen Tochter Elisabeth besteigt Rolf Schilling die Burgruine auf dem Questenberg, sieht dort das alte heidnische Symbol des Sonnenrades und träumt in einem Anflug von heroischem Nihilismus: „Dort oben, aufrecht, vom Blitz erschlagen werden: das wäre ein schöner Tod.“ Wer hier von Sorge um das Schicksal des Waisenkindes und seiner zwei Geschwister ergriffen wird, darf wenig später aufatmen. Vater und Tochter suchen den Eingang zur Questenhöhle. „Aber nachdem ich auf einer morschen Planke ausgeglitten und gestürzt war, gaben wir die Suche auf.“
Im holden Reich der Träume und heroischen Tode ist besser weilen als in schnöder Wirklichkeit. Die Realität interessiert Schilling nicht, nur deren mythologische Überhöhung. Das unterscheidet ihn von Ernst Jünger, den er zu seinen Ahnen zählt. Die real gelebte Mythologie, die zu Pfingsten auf dem Questenfest der Bauern auflebt, wird ignoriert: 
„Ich war nie dabei und habe gar keine Lust, es zu sehen oder gar mitzutun. (…) Aber ich stelle mir vor, was hier sein könnte, was hier, vielleicht, einmal war und ahndungsweise noch immer ist: lodernde Reiser auf Bergeshöhen, Sonnenräder, die zu Tale schauern, Stirnen, in Widderblut getaucht, Arme, von Schwertern verletzt: ein deutscher Sacre du Printemps.“ 
Niemand würde mehr erschrecken als Rolf Schilling, wenn im wiedervereinigten Deutschland dergleichen tatsächlich geschähe. Diese Visionen sind wie bei Nietzsche Teil der Kompensation der eigenen schwachen Natur, sind heroische Gegenwelt zur Banalität und Erlebnisarmut des eigenen Lebens, und als solche sollten sie auch gelesen werden.

 

Selbststilisierung oder Selbstbehauptung?


Zur Selbst-Stilisierung gehört eine mythologische Landschaft, und die hat Rolf Schilling nicht erfunden. Er lebt in dem Dorf Bielen, zwischen Harz und Hörselberg, der Lutherstadt Eisleben, Klopstocks Geburtsort Quedlinburg und dem im Kyffhäuser schlafenden Barbarossa. Novalis wurde in dieser an mittelalterlichen Burgen reichen Landschaft geboren und Nietzsche, an dem Schilling die „Selbst-Apotheose des genialen Menschen“ bewundert, „daß einer bis zum Äußersten geht“. Der Leser des „Doktor Faustus“ weiß, daß Thomas Mann die urdeutscheste aller Städte, Kaisersaschern, hier angesiedelt hat. Wie der einsame Tonsetzer Adrian Leverkühn, so lud auch Rolf Schilling dreimal im Jahr seine Freunde zu einem Dichtertreffen unter freiem Himmel ein, um ihnen aus dem in der Einsamkeit anachronistischer Ausschweifung geborenen Werk auswendig vorzutragen. Denn die „Lyrik hat man im Gedächtnis zu haben“. Die Erfindung des Buchdrucks hielt Schilling damals noch für ein „Capital-Verbrechen“, denn „wenn man die Geschichte des Schrifttums überblickt, so gibt es vielleicht hundert Bücher, die man gelesen haben muß, und ein Dutzend Bücher, die man besitzen muß. Die kann man selber mit der Hand abschreiben.“


Wer zu Schillings Vorträgen „beschieden“ war, der mußte vor Beginn jeder Veranstaltung ein Sonett aus dem Stehgreif dichten können. Da trennte sich schnell die Spreu vom Weizen. Einer, der sich in Schillings Symbolwelt wiederfinden konnte, war Uwe Lammla. Er hat inzwischen selbst Gedichte unter dem Titel „Weckruf und Mohn“ vorgelegt, und er emigrierte noch vor Öffnung der Mauer in den Westen, wo er in München einen Verlag gründete, in dem jetzt das Werk des Meisters erscheint. Der Name „Edition Arnshaugk“ gehört ins Zentrum von Schillings Privatmythologie. „Arnshaugk“ ist wie das „Holde Reich“ Chiffre für die Landschaft zwischen Harz und Kyffhäuser, „wo der ganze Palimpsest von deutschem Mythos, Traum und Wahn zum Erbe gehört“, gleichzeitig  in platonisierender Romantik das Reich des Ewigen Deutschen, das es niemals gegeben hat und das es niemals geben darf. Für Schilling ist Dichtung „nicht Erfahrung, sondern Prophetie“, die sich aber nirgendwo als Innen erfüllt. Der Traum vom Reich, den nach der Sage Kaiser Barbarossa in seiner Kyffhäuserhöhle träumt, ist nicht von dieser Welt. 


Schillings Dichtung basiert auf einer Zwei-Reiche-Lehre. Jeder Ganzheitsideologie fern, trennt er Dichtung und Leben. „Es gibt keine Lösung, vor allem keine endgültige. Wir müssen die Spannung von Innen und Außen, zwischen Geist und Macht, zwischen Kunst und Leben aushalten, in ihr existieren auf Gedeih und Verderb.“ In diesen Sätzen werden sich viele Kritiker der Moderne wiederfinden können, und auch der Rückblick auf die Vergangenheit gehört zum Grundbestand einer humanistischen Kultur der Memoria, wenn er jeder Generation von Lesern vor Augen stellt, „was menschenmöglich ist und menschengemäß, allem Furchtbaren zum Trotz: Goethe und Hölderlin, Novalis, Kleist, Schopenhauer, Franz Schubert und Anton Bruckner, Wagner und Nietzsche und all die anderen – sie haben gelebt, unwiderruflich, haben ihr Werk vollbracht in Zeiten, die nicht besser waren als die unsere.“


Wer möchte leben ohne den Trost der Bücher? Daß Rolf Schilling durch sie seine Identität als Dichter bewahren konnte, ist offenkundig. Ob sein lyrisches Werk mit der Welt, gegen die er sich hermetisch abdichtete, untergehen wird oder ob es als Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber der Tyrannis die Macht der Sprache anschaulich dokumentiert, wird sich zeigen. Als Verächter des sekundären Diskurses wird Schilling davon ungerührt bleiben: „Der Dichter braucht keine Rezensenten, sondern Mäzene.“

 

 

 


Aus einem Gespräch mit Jonas Maron 
(Anbruch – Magazin für Kultur und Künftiges. 3. März 2020)

 

1.) Wie und durch wen wurden Sie zuerst aufmerksam auf Schillings Person und Werk, welche Verse oder Gedichte kamen Ihnen als erste unter und welchen Eindruck hinterließen sie?


Dr. Heimo Schwilk, der junge Literaturredakteur des Rheinischen Merkur, fuhr  in den Jahren vor der Wende regelmässig in die DDR, berichtete über junge Autoren und gab ihnen ein Forum in seiner Wochenzeitung. Zu ihnen gehörte Rolf Schilling, der mich durch seinen eigenen Ton und seine Unabhängigkeit vom Zeitgeist in Ost und West unmittelbar ansprach: Da war ein Dichter, ein Seher, ein Berufener. 1984 schrieb Schilling den „Questen-Gesang“. Die Eingangsworte führten mich in eine mythisch-zeitlose Welt. Sie sind meine Lieblingsverse geblieben und lauten:

„Geschieden du vom Questen-Kranz,
Geschieden du vom Licht:
Wo sind die Götter dieses Land?
Fahr hin und frage nicht.
Nur wenn dein Mund, gewahr des Banns,
Die Siegel Schweigens bricht,
Hellt noch ein Hauch vom alten Glanz
Dein sinkendes Gesicht.“

 


2.) Wann, wo und in welchem Kontext trafen Sie Schilling zuerst persönlich und welchen Eindruck hinterließ wiederum dieses Kennenlernen?


Heimo Schwilk wohnte damals mit seiner Familie in Bonn. Hier besuchte ihn Schilling mit seiner Muse Sylvia. Ich traf sie beim Schachspiel. Später kamen weitere Gäste und Schilling rezitierte aus dem Gedächtnis einige seiner Gesänge. Dabei saß Sylvia zu seinen Füßen. Sie war es, die uns durch ihre Hingabe diese Stunde des Wortes schenkte. Ein Jahr später traf ich Rolf Schilling in Hannover und besuchte ihn in seinem Heimatdorf. Gemeinsam bestiegen wir den Questenberg. 

 


3.) In seinen Tagebüchern erwähnt Schilling 1995 ein Streitgespräch während einer Gedicht-Lesung zwischen Ihnen und Ulrich Wanner - mit Heimo Schwilk als moderatem Dritten: Woran entzündete sich der Streit und wer vertrat welche Positionen zu Schillings Werk und/oder Vortragsweise?


Ulrich Wanner, ein guter Freund Rüdiger Safranskis, war damals Redakteur der „Lutherischen Monatshefte“ mit Sitz in Hannover. Ich schrieb regelmässig für sein Blatt. Meine Begeisterung für das hohe Pathos von Schillings Ton löste Wanners Widerspruch aus. Nicht dass er bei der Beschwörung der alten Götter Germaniens oder Griechenlands Völkisches witterte, aber Ulrich Wanner sah in Rolf Schilling einen Epigonen, ja, einen selbstverliebten und selbstherrlichen Schriftsteller, der sein Anderssein inszenierte. Heimo Schwilk, der in gewisser Weise Rolf Schilling für den Westen entdeckt hatte, versuchte den diskussionswütigen Wanner zu besänftigen. Vergeblich. Wanner wurde später sogar handgreiflich und forderte Heimo Schwilk zu einem Ringkampf heraus. Das war aberwitzig nicht nur als Stilbruch in der Streitkultur, sondern vor allen Dingen ein Akt der Selbstüberschätzung. Denn Schwilk hatte eine Einzelkämpferausbildung bei der Bundeswehr absolviert und war Besitzer mehrerer Auszeichnungen als Fallschirmjägeroffizier.

 


4.) Erhofften oder erwarteten Sie nach der Wende eine umfangreichere Würdigung Schillings oder ahnten Sie damals bereits, dass dieses Werk an den Kulturbetrieb der Bundesrepublik beinah ebenso schwer anschlussfähig sein würde wie an den der DDR? 


Wie ein Mensch sich und seiner Berufung treu bleibt - darauf kommt es letztlich an. In Rolf Schilling begegnete ich einem Menschen, der unangefochten von Zeit und Not seinen Weg in der DDR gegangen war. Ich dachte nach der Wende, dass Schillings Werk in Westdeutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz eine entsprechende Anerkennung finden würde. Meinen Beitrag leistete ich, indem ich Würdigungen in verschiedenen überregionalen Zeitungen veröffentlichte. Doch ich musste lernen, dass ich - wie auch Schillings Bewunderer Ernst Jünger - mit meiner Begeisterung weitgehend allein blieb.

 

5.) Von Ihnen stammt einer der weitaus besten Essays über Schilling als Schriftsteller der inneren Emigration, der unter anderem in der NZZ erschien (1990). Was glauben Sie: Könnte heute noch oder wieder ein Stück zu Schilling in der NZZ erscheinen? Und wenn nein, wem oder was ist das eher geschuldet, Schillings eigenem Weg oder der kulturellen Diskursverschiebung seither?

 

Nach 1989 herrschte eine Stimmung gespannter Erwartung auf die „Schubladenliteratur“ der DDR. Daher hatte die NZZ, für die ich ebenfalls schrieb, Interesse an Rolf Schilling. Damals war Martin Meyer Chef des Feuilletons. Die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt. Rolf Schilling ist sich treu geblieben. Der Diskurs aber hat sich verschoben. Wir erleben einen Verlust an Bildung, eine geistige Klimakatastrophe, ein Aussterben der Vielfalt und eine Monokultur der Ideologen.

 

6.) Ist Ihr Lob für Schilling ein ungeteiltes oder gibt es auch Kanten in seinem Werk, an denen Sie persönlich sich stoßen (seien es formale oder motivische bis hin zu weltanschaulichen)?


Rolf Schillings Werk findet meine ungeteilte Zustimmung. Aber ich habe gelernt, dass sich an Schilling die Geister scheiden - wie etwa an dem Werk der Agnes Miegel. Sie ist Ehrenbürgerin der Stadt Bad Nenndorf. Hier hat sich eine ANTIFA gebildet, die sich erfolgreich dafür engagierte, dass das Denkmal der Miegel aus dem Stadtpark entfernt wurde. Jürgen Uebel, der Führer dieser ANTIFA, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Vielleicht steht Rolf Schilling ein ähnliches Schicksal bevor, und die ANTIFA marschiert zu seiner Lesung auf. 


7.) Seit George, so schreiben Sie in Ihrem NZZ-Essay, sei in deutscher Sprache nicht mehr so gedichtet worden wie Schilling es tue. Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten und Gleichklänge zwischen Schilling und George, wo etwaige Unterschiede?


Stefan George ist gendertauglich. Rolf Schilling ist es nicht. Er lässt sich von niemandem vereinnahmen. Er ist im Sinne Ernst Jüngers der Anarch, der Einzelne. George wollte der Meister in der Mitte eines Kreises sein. Schillings Berührung mit George erlebe ich  unmittelbar, wenn ich „Komm’ in den totgesagten Park“ lese. Herrlich!


8.) Als zeitgenössische Referenz-Literaten, deren Schaffen und Zugang zumindest von fern dem Schillingschen verwandt sei, nannten Sie damals Jünger, Paz und Aitmatov. Da diese drei in der Zwischenzeit verstorben sind: Ist Schilling heute wirklich der allerletzte Überbliebene oder sehen Sie irgendwo neue Triebe in seinem Sinne sprießen?


Rolf Schilling ist der letzte Dichter seiner Art. Die große Nacht ist gekommen und das große Vergessen, eine an Erstickung grenzende Armut der Sprache. Wer Rolf Schilling liest, erfährt noch „einen Hauch vom alten Glanz“. 


9.) In Ihrem Essay heißt es gegen Ende: "Wer möchte leben ohne den Trost der Bücher? Daß Rolf Schilling durch sie seine Identität als Dichter bewahren konnte, ist offenkundig. Ob sein lyrisches Werk mit der Welt, gegen die er sich hermetisch abdichtete, untergehen wird oder ob es als Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber der Tyrannis die Macht der Sprache anschaulich dokumentiert, wird sich zeigen." Sehen Sie hierzu nun, 30 Jahre später, bereits eine Tendenz? Hat sich in dieser Frage bisher etwas gezeigt - und wenn ja, was?


Wir leben in einer Zeit der Atemlosigkeit. Wir wollen alles sofort, hier, heute, jetzt. Die Dichtung aber hat einen sehr langen Atem. Wir leben auch in einem Zeitalter der Meinungsdiktaturen: Viele große Dichter sind heute vergessen, verdrängt, verpönt aus unterschiedlichen ideologischen Gründen: Der christlicher Dichter Edzard Schaper zum Beispiel. Er wurde von Hitler und Stalin zum Tode verurteilt, 1944 von den Schweden als Doppelagent verhaftet, später in der Schweiz rehabilitiert. Sein Roman „Der vierte König“ ist ein Jahrhundertwerk. Doch wer kennt Edzard Schaper?  Aber, wer weiß, ob dieser Dichter der Passion und des Kreuzes nicht wiederentdeckt werden wird, wenn die Katastrophen zunehmen werden?

Von Rolf Schilling kann unsere Zeit die Unbekümmertheit um den Ruhm und die Zukunft lernen. Wahre Dichtung kann niemals endgültig verlorenen gehen. Wenn meine Enkelkinder im Jahr 2080 auf die Literatur des 20. Jahrhunderts zurückblicken, dann wird vielleicht aus dem Bereich der ehemaligen DDR allein Rolf Schillings Werk noch bekannt sein.  „Fahr hin und frage nicht“, rät der Meister. Recht hat er!