Carl Theodor Dreyer:
„Das Wort“ (1955)
Gleich zwei seiner Werke stehen auf der Filmliste des Vatikan: Der Stummfilm „Passion der Jungfrau von Orleans“ (1928) und „Das Wort“ (1955). Carl Theodor Dreyer (1889-1968) ist der Vater des skandinavischen Kinos. Jeder seiner Filme hat Geschichte geschrieben, aber keiner war ein finanzieller Erfolg. Dreyers Glaubensfilme beugen sich nicht dem Geschmack des Publikums. Das spricht für ihre Qualität, aber auch das Niveau der Zuschauer.
Die Idee für den Film „Das Wort“ („Ordet“) stammt aus den frühen Dreißiger Jahren, doch erst zwanzig Jahre später fand Dreyer die nötigen finanziellen Mittel zur Verwirklichung seines Projektes. Dreyer zeigt den modernen Menschen im Spannungsfeld von Glaube und Unglaube, zwischen Gott und dem Teufel. Der frühe Stummfilm „Blätter aus dem Buche Satans“ („Blade af Satans bog“, 1921) ist eine filmische Dämonologie in vier Bildern. Das letzte führt ganz aktuell in den Angriffskrieg der Roten Armee gegen ein fremdes Volk. Damals war es Finnland unter militärischen Führung von Marschall Gustav Mannerheim.
Die Außenaufnahmen des Films „Das Wort“ wurden auf einem typisch dänischen Bauernhof an der rauen Küste (Vesterhavet) Westjütlands gedreht. Diese urwüchsige Dünenlandschaft gehört zu den beliebtesten Reisezielen vieler deutscher Familien und jener jungen und alten Liebespaare, die eine traute Zweisamket in der Einsamkeit der Meeresweite suchen. Wer den Rummel braucht, fährt nach Fanø oder Rømø, nach Blåvand oder Hvide Sande. Weiter nördlich hinter Sønderburg beginnt die erhabene Stille einer sumpfigen Landschaft, die seit jeher den Wandervögeln im Wechsel der Jahreszeiten Aufenthalt bietet. Hier liegt das kleine Kirchspiel Vedersø Klit und der Pfarrhof von Kaj Munk (1898-1944), dem Pastor und Autor des Dramas „Das Wort“ (1925). Es wurde 1932 im Privattheater Betty Nansen in Kopenhagen uraufgeführt und erlebte in der laufenden Saison fast 600 Aufführungen in Skandinavien.
„Das Wort“ bildet die Vorlage für Dreyers Drehbuch und beschreibt eine evangelische Frömmigkeit im Untergang ihrer einstigen Gewissheiten. Der Großbauer und Witwer Morten Borgen hält äußerlich noch an den Gebräuchen der lutherischen Kirche fest, aber er glaubt nicht mehr an die Macht des Wortes, mit der Jesus einst Kranke geheilt und Tote wieder ins Leben gerufen hat. Das dänische Wort „Borgen“ bedeutet „die Burg“. Aber eine Festung des Glaubens ist das Dänemark der Dreißiger Jahre aus Sicht des Dramatikers Kaj Munk nicht mehr. Wie alle skandinavischen Länder hat Dänemark eine lutherische Staatskirche, deren Angestellter Pastor Munk war. Aber er wollte mehr sein als ein Beamter Gottes.
Dreyer beschreibt die radikale Glaubenskrise der Moderne in Bildern der Ohnmacht gegenüber den Schicksalsschlägen des Lebens. Die Zeit vergeht. Das symbolisiert das Ticken einer alten Standuhr während des gesamten Films. Auf dem Hof leben die beiden Söhne Anders und Mikkel mit ihren Frauen und als Außenseiter der dritte Bruder Johannes. Er gilt als geistig unzurechnungsfähig und wird sich doch im Verlauf dieses Filmes über den Unglauben als einzig Glaubender erweisen. Johannes Borgen wollte Pastor der lutherischen Kirche werden. In Kopenhagen studierte er Theologie und las die kirchenkritischen Werke Søren Kierkegaards. Darüber habe er den Verstand verloren, glaubt der Vater. Tatsächlich läuft Johannes wie ein Narr in Christo über den Hof, kommentiert ungefragt, belehrt die Familie mit Bibelzitaten und stürmt bei Nacht aus dem Hof über die Dünen ans Meer. Aber Johannes ist nicht von Sinnen, sondern erfüllt von der Klarheit des Geistes. Søren Kierkegaard hat ihn erweckt zum Glauben an die Wunder Jesu. Als seine Schwägerin stirbt, kommt Johannes’ große Stunde. Er stellt sich in die Nachfolge Jesu und spricht über ihr jene Worte, die vom Tod ins Leben rufen.
Mit dieser Totenauferstehung endet der Film „Das Wort“. Der Zuschauer wird Zeuge eines Wunders. Dreyer baut ihm keine Brücke des Verstehens. Was unter der Vollmacht des Wortes Jesu geschieht, entzieht sich jeder Erklärung. Ein Wunder ist geschehen. Geschehen Wunder wirklich? Wie steht es um den Glauben der Kirche an das heilende Wort, die verwandelnde Kraft der Sakramente, die Erlösung vom Bösen? Dreyers Film ist eine zeitlose Anfrage nicht nur an die Priester, sondern gerade an die Gemeinde. Alles ist möglich, dem der glaubt, hatte Jesus gesagt.
Kaj Munk war als Vollwaise bei Pflegeeltern aufgewachsen. Als er in Vedersø Klit seine erste Pfarrstelle antrat, fand er genügend Zeit, seiner dichterischen Begabung und seiner Streitlust im politischen Journalismus nachzugehen. Er war für Machtworte in der Politik empfänglich und sympathisierte eine zeitlang mit den autoritären Bewegungen in Europa. In der Zeit der Okkupation Dänemarks entwickelte er sich zu einem Gegner des Nationalsozialismus und starb wie Dietrich Bonhoeffer den Märtyrertod. Carl Theodor Dreyers Film wurde so zu einem Nachruf auf Kaj Munk. Zwei Mal passieren die Protagonisten den Gedenkstein, der an die Stelle von Munks Ermordung erinnert. Doch hat Dreyer keinen politischen Film drehen wollen. Auch er wuchs als Vollwaise auf. Seine Mutter war ein schwedisches Dienstmädchen, das in Kopenhagen schwanger wurde. Der Vater war unbekannt. Nach einer zweiten Schwangerschaft starb sie bei dem Versuch einer selbst durchgeführten Abtreibung. Carl Theodor Dreyer wuchs in einem Waisenhaus auf. Der Zuschauer mag in der aufgebahrten Schwägerin ein Bild der Mutter sehen und in Johannes den konzentrierten Widerspruch gegen den Tod.
Für Kaj Munk war die kleine blaue Anemone ein Symbol der Auferstehung. Sein im Angesicht der Bedrohung geschriebenes Gedicht „Den blå anemone“ gehört zum Repertoire aller dänischen Chöre. Zu Ostern schmücken blaue Anemonen die Heime. Sowohl Kaj Munk als auch Dreyer sind in Deutschland noch wenig bekannt. Als Übersetzer aus dem Dänischen hat sich Pfarrer Paul Gerhard Schoenborn sehr verdient gemacht. Im Nordpark Verlag/Wuppertal ist neben anderen Werken „Das Wort“ zu finden und zu entdecken.