Spiegel der Siebziger Jahre:

Zu meiner Biographie der Anneliese Michel (1952-1976)

 

 

Worum es geht:

Der „Fall Michel“ ist der bekannteste und am besten dokumentierte Fall von Exorzismus im 20. Jahrhundert. Er geschah nicht im Untergrund, sondern mit Genehmigung des zuständigen Bischofs und wurde von einem Mitglied des Ordens der Jesuiten begleitet. Im Internet gibt es zahlreiche erschütternde Photographien, Filmdokumente und Tonbandmitschnitte der exorzistischen Sitzungen. Die Kirche hat den „Fall Michel“ bis auf den heutigen Tag nicht aufgearbeitet.

 

1.

Anneliese Michel war ein typisches Kind der Fünfziger Jahre in Deutschland. Sie war fröhlich und selbstbewusst. Ihre Kindheit in der kleinen Stadt Klingenberg am Main war unbeschwert. Ihr Vater besass ein kleines Sägewerk. Ein Familienbetrieb. Hier arbeitete auch Annelieses Mutter in der Verwaltung (Buchhaltung) mit. Anfang der Sechziger Jahre waren alle Bewohner von Klingenberg selbstverständlich Mitglieder der katholischen Kirche. Sie waren fromm, besuchten jeden Sonntag die Messe. Aber sie wussten auch zu feiern. In Klingenberg wird ein guter Wein angebaut.

Die Familie Michel hatte vier Kinder. Von diesen vier Mädchen war Anneliese die älteste. Sie war sehr fürsorglich und fleißig. Sie war gut in der Schule und half ihrer Mutter im Haushalt. Dann kamen die wilden Sechziger Jahre und Mick Jagger sang „Sympathy for the devil“. Die Studentenunruhen und politischen Proteste erschütterten Deutschland. Jeden Abend liefen im Fernsehen Bilder aus dem Vietnam-Krieg. Das heile Weltbild ihrer Kindheit brach zusammen.

Die Katholische Kirche machte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen Reformprozess durch. Auf der einen Seite herrschte Aufbruchsstimmung, auf der anderen Seite Angst vor der Zukunft. Die Familie Michel und auch Anneliese erlebte diese Umgestaltung der Gesellschaft und der Kirche als einen Traditionsverlust. Sie hatten Angst vor der modernen Welt. Sie hatten das Gefühl, dass die traditionellen Werte der Familie und des Glaubens verloren gehen.


2.

Nach dem Abitur studierte Anneliese Michel Theologie in Würzburg. Sie wollte Lehrerin werden. Jetzt erlebte sie einen grossen Konflikt zwischen den modernen, aufgeklärten Professoren und ihrer traditionellen religiösen Erziehung in ihrem Elternhaus. Sie spürte einen Riss zwischen Tradition und Moderne, und sie wollte diesen Riss zwischen Denken und Glauben, Rationalität und Spiritualität heilen. So schrieb sie eine wissenschaftliche Arbeit über die Angst. Sie zitierte darin Martin Heidegger, Søren Kierkegaard und andere Philosophen. Die Anfälle begannen in dieser Zeit. Sie traten zuerst episodisch und in leichter Form auf. Dann wurden sie intensiver und konnten nicht mehr verheimlicht werden.

 

3.

Anneliese Michel verweigerte die Nahrungsaufnahme. Sie ass wenig oder gar nichts. Dadurch hatte sie einen grossen Gewichtsverlust. Sehr wichtig war für Anneliese Michels Selbstverständnis ihre Identifikation mit den gesellschaftlichen Umbrüchen Anfang der Siebziger Jahre. Sie war hochsensibel und hatte das Gefühl, dass sie die Wunden ihrer Zeit heilen müsse. Sie glaubte durch eine gesteigerte Frömmigkeit das Böse in der Welt besiegen zu können.

Nach den Studentenunruhen im Jahr 1967/68 begann die Zeit des Terrorismus der Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof (Baader-Meinhof-Gruppe). Sie nannte sich die RAF (Rote Armee Fraktion). Jeder Deutsche hörte damals bei dem Namen RAF natürlich auch die Anspielung auf die Royal Air Force heraus. In Anneliese Michels Kindheit herrschte in Deutschland ein sehr positives Bild von den USA: Amerika hatte Deutschland von den Nazis befreit und dem Holocaust ein Ende bereitet. So hatte es Anneliese Michel gelernt. Die USA waren ein Vorbild für die Jugend. Das ändere sich nun. Die deutschen Terroristen waren antibritisch und antiamerikanisch eingestellt. Die USA galt als Symbol der Unterdrückung durch Kapitalismus und Militarismus.

4.

Anneliese Michel erlebte den Riss in der Politik und der Kirche ihrer Zeit. Sie entwickelte die Vorstellung, sie müsse die zerrissene Gesellschaft durch ein religiöses Opfer heilen. Sie müsse büßen für alle Verbrechen der Nazis und der Terroristen und für eine Katholische Kirche, die nicht mehr an den traditionellen Werten festhielt. Sie hatte die Vorstellung, sie sei besessen, um Sühne zu leisten. Diese Form der Besessenheit nannte sie Sühnebesessenheit. Nach traditioneller Vorstellung wird nur ein sündiger Mensch von Dämonen besessen. Es gibt auch aber reine Seelen, die wie Christus die Schuld anderer Menschen auf sich laden und dafür büssen. Anneliese Michel hatte diese Vorstellung, wie Christus für die Sünden der Welt büssen zu müssen.

Die Eltern hatten eine traditionelle katholische Frömmigkeit. Sie waren konservativ, aber gesund. Als Anneliese sagte, sie sei besessen, wurde sie zu einem Psychologen geschickt. Ich habe bei meinen Recherchen nicht nur sämtliche Familienmitglieder befragt, sondern auch diesen Psychologen. Er hieß Siegfried Lüthy und war Freudianer. Er meinte, Anneliese solle sich von ihrer Familie emanzipieren, dann werde sie auch seelisch wieder gesund.


5.

Anneliese Michels entwickelte ohne Einfluss von außen die Idee der Besessenheit. Dies tat sie zuerst gegen den Widerstand der Familie. Ihre epileptischen Anfälle nahmen zu. Sie verlor immer mehr an Gewicht. Der Psychologe konnte ihr nicht helfen. So suchte die Familie bei Seelsorgern Hilfe. Schließlich wurde ein Exorzismus durch den Bischof Josef Stangl von Würzburg genehmigt. Durchgeführt wurde er von zwei Geistlichen (Pater Renz und Pfarrer Ernst Alt) im Elternhaus von Anneliese Michel. Die Sitzungen fanden in den Jahren 1974-1976 ein Mal in der Woche statt. Die Aufsicht über die Exorizismen hatte der Bischof in die Hand der Jesuiten gelegt. In der Hochschule St. Georgen lebte der alte Exorzist Adolf Rodewyk. Er wurde der „Chefexorzist“. Da der Exorzismus durch den Bischof genehmigt worden war, hatten alle Beteiligten ein gutes Gewissen und glaubten, Anneliese Michel auf diese Weise helfen zu können. Daher wurden die 53 Sitzungen auch auf Tonbändern dokumentiert. Ich habe diese Tonbänder alle wissenschaftlich auswerten können.

6.

Die Eltern hatten immer wieder Zweifel, ob ihrer Tochter durch die Exorzismen geholfen werden könne. Denn sie sahen ja, dass die Anfälle nicht aufhörten und Anneliese immer weiter an Gewicht verlor. Am Ende ihres Lebens (sie starb am 1. Juli 1976) wog sie nur noch 31 Kilogramm. Aber die Eltern vertrauten als Katholiken dem Bischof und seinen Exorzisten.

7.

Die Priester Renz und Alt beteten so lange, bis sich die Dämonen in Anneliese Michel regten und Antwort gaben. Auf den Tonbändern spricht Anneliese dann in fremden Stimmen. Zu den Dämonen, von denen sie sich besessen glaubte, gehörte ein ehemaliger katholischer Pfarrer, der den Zölibat gebrochen hatte und Adolf Hitler. Es ging also im Kern dieses Exorzismus um sexuellen Missbrauch durch Priester und um die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Anneliese meinte, sie müsse mit ihrem Leiden auch ein Sühnopfer für die unkeuschen Priester bringen. Sie sprach daher von einer Sühnebesessenheit. Am Ende ihres Lebens glich der Körper von Anneliese Michel den Menschen in den deutschen Todeslagern der Nazi-Zeit.

 


8.

Anneliese Michel verhungerte. Ihr seelischer und körperlicher Zustand war schrecklich. Die Eltern suchten beim Bischof Stangl Hilfe. Aber Bischof Stangl kam nicht nach Klingenberg. Anneliese Michel hätte in die Psychiatrie eingeliefert werden müssen. Und ein Team aus Ärzten und Seelsorgern hätte ihr vielleicht helfen können. Aber diese Kooperation von Psychologie und Theologie gab es nicht.

9.

Die Eltern von Anneliese Michel und die Exorzisten wurden von einem deutschen Gericht in Aschaffenburg wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Ihre Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Niemand kam ins Gefängnis. Ein Jahr nach Anneliese Michels Tod endete der sogenannte „Deutsche Herbst“ 1977 im Suizid von Andreas Baader und Ulrike Meinhof.

 

 

Der Teufel ist in mir. Der Fall Anneliese Michel, die letzte Teufelsaustreibung in Deutschland. Heyne Verlag. München 2006. 317 Seiten.