Das Meer der Seele
Ulrich Schacht (1951-2018) im Spiegel seiner arktischen Gedichte


„Dieses Ruhig-Werden-Können am Meer kann man nicht erlernen;
man kann es nur finden: in sich selbst.
Deshalb ist jede Reise ans Meer Ausdruck der Sehnsucht,
sich selbst zu begegnen - in einer Stille,
die selbst noch im Brandungslärm unüberhörbar herrscht.“

Ulrich Schacht. Über Schnee und Geschichte

 

 

Undine Wolff und Ulrich Schacht in Viarpshult /Sverige (2017): In memoriam!

 

 

Ulrich Schacht erblickte am 9. März 1951 im Frauengefängnis Hoheneck das Licht der Welt. Der Hinweis auf diesen Geburtsort hinter Gittern galt ihm als eine Verpflichtung zur Erinnerung an das Leben in der DDR. Dieser Auftrag wurde 1973 noch verstärkt durch eine fast vierjährige Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ in der U-Haftanstalt der MfS-Bezirksverwaltung Schwerin sowie in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden. Als jugendlicher Mitarbeiter kirchlicher Kreise hatte er die Herausgabe einer kleinen Zeitschrift geplant.  Am 17. November 1976 wurde Schacht durch Vermittlung der Berliner Kanzelei von Jürgen Stange von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Er arbeitete für die Welt am Sonntag und andere Organe, veröffentlichte mit Heimo Schwilk die Debattenbücher „Die Selbstbewusste Nation“ (1994) und „Für eine Berliner Republik“ (1997), quittierte den Dienst in Springers Imperium und zog sich 1998 mit seiner zweiten Frau Stefanie nach Förslöv in die ländliche Idylle von Südschweden zurück. 

Schachts Mutter Wendelgard Schacht hatte sich 1950 in einen russischen Besatzungsoffizier verliebt und wollte mit ihm in den Westen fliehen. Das galt in der frühen DDR als „Verleitung zum Landeshochverrat“. Schacht hat auf das Unrecht schreibend reagiert. In den „Hohenecker Protokollen“ (1984) dokumentiert er Aussagen zur Geschichte der politischen Verfolgung von Frauen. Unter den Portraitierten findet sich auch Schachts erste Frau Carola Gilek. Die Tochter einer Balletttänzerin und eines Kapellmeisters wurde wegen des Verdachtes der Vorbereitung zur Republikflucht verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert. 1976 kam sie nach Hoheneck und wurde im gleichen Jahr vom Westen freigekauft. In Hamburg heiratete sie Ulrich Schacht. 

Seinen Vater Wladimir Jegorowitsch Fedotow wird Ulrich Schacht erst ein gutes halbes Jahrhundert später im russischen Schalikowo 100 Kilometer westlich von Moskau kennenlernen. Die erste Begegnung ist zugleich eine mediale Inszenierung. Der Sohn reist mit einem holländischen Filmteam an und interviewt den Vater am Gartenzaun seiner Datscha. Darüber wird er Jahrzehnte später auch in seinem Buch „Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater“ (2011) berichten.

Ulrich Schacht kultivierte seine Knasterfahrungen und zog aus ihnen die Legitimation zum Widerspruch. Auch war er ein Meister der dramatischen Gesten. Als Schriftsteller und Journalist wusste er die Medien zu bedienen. Das spricht nicht gegen die Wahrhaftigkeit seiner Empfindungen. Seinem Temperament gemäß gestaltete er sie in Pathosformeln. Bilder aus den hohen Breitengraden der Arktis verdichten Erfahrungen innerer Bewegtheit. Sie haben Form gewonnen in einem lyrischen Werk, das er selbst für nobelpreisverdächtig hielt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Schacht unmittelbar nach der Begegnung mit dem Vater seine erste Fahrt in die russische Arktis unternimmt. Der Archipel von Franz-Josef-Land wird zu seiner Seelenlandschaft.

Die schönsten seiner Gedichte beschreiben epiphane Momente im menschenleeren Raum der nordischen Landschaften aus Licht und Eis. In diesen Eiswüsten finden Selbst- und Gottesbegegnungen statt:


„LICHT, gespeichert im
Kristall: Schnee hellt die

Nacht - aus dunkler Quelle
lodert der Feuerkern des Eises.“


Schacht reagiert auf die Erfahrung des Heiligen in der Natur. Er sieht die Spuren des Schöpfers auch im winterlichen Garten seines Hauses im südschwedischen Skåne. Sie werden ihm zur Ikone. Die Natur als sakraler Raum. Der Dichter verbeugt sich in tiefer Demut vor Gottes Gegenwart:


„Schnee in der Luft die
Sonne sinkt ins Meer, von Osten
her ertrinkt die Welt im

Weiß. In Pfützen glänzt das
Eis vorm Haus die weißen Tische
Stühle - längst verschwunden. Schnee

in der Luft er deckt die
Schnitte Wunden wenn er
fällt, von Osten her ertrinkt die

Welt in Schweigen: Aufsteigen bis 
ins All. Lautloser Fall. Tiefstes
Verneigen.“


Ulrich Schacht wuchs in der Hansestadt Wismar auf. Hier machte er eine Bäckerlehre und fand eine geistige Heimat in der evangelischen Gemeindearbeit. Aus diesen frühen Jahren rührten Freundschaften wie die zu Joachim Gauck, der später nach Schachts zweiter Eheschließung in der Marienkirche von Båstad eine Rede hielt. Schacht studierte nach verschiedenen Tätigkeiten Evangelische Theologie in Rostock und Erfurt. Ohne Abitur wurde er als Seiteneinsteiger zugelassen. Das Studium war keine Flucht aus der Zeit in einen kirchlichen Freiraum. Doch merkte Schacht bald, dass er einen anderen Weg gehen musste. In dem Theologen Peter Heidrich (1929-2007) fand er einen überragenden Lehrer, der ihn fordernd förderte, indem er dem jungen Lyriker seine Grenzen aufzeigte. Schacht hat ihm in seiner Novelle Grimsey (2015) ein Denkmal gesetzt. Heidrich erhielt erst im Jahr 1990, in einem Alter, wo andere Professoren an den Ruhestand denken, einen ordentlichen Lehrstuhl. In der DDR unterrichtete er die alten Sprachen Latein und Griechisch. An dieser sprachlichen Hürde scheiterte Schacht. Die Prägungen durch Peter Heidrich waren anderer Art. Der Lehrer war Mitglied der evangelischen Michaelsbruderschaft, die das Luthertum mit der Feier der Messe in geistiger Nähe zum Katholizismus lebte. So wurde Schacht zu einem Prediger wider den Zeitgeist - auch in der Kirche. In seinem Buch Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011 rechnet er nicht nur mit der evangelischen Kirche ab:

„Übrig ist eine Art Kirchenruine, in der jeder Pastor Papst ist, Bischöfe machtlose Grüßauguste und synodale oder kirchenamtliche Verlautbarungen sich kaum noch von politischen unterscheiden, vor allem in ihren politisch-korrekten Absurditäten und linksseligen Verstiegenheiten. (…) Der nicht-häretische Teil des deutschen Protestantismus könnte, mit der entsprechenden „Melanchthon“-Formel und in eigener Gestalt, unter die Fittiche Roms zurückkehren, wie Teile der Anglikanischen Kirche es gerade zu vollziehen beginnen, und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nomen est omen, sowie die Riege der zeitgeistrunkenen Priester, Bischöfe und Theologieprofessoren bleiben Rom zukünftig erspart. So könnten die einen dann weiterhin konzentriert Gott dienen und dadurch der Welt ein normatives Beispiel geben, die anderen aber unentwegt die Welt retten und dabei Gott links liegen lassen oder überholen, bis sie ein weiteres mal des Teufels ist.“

Ulrich Schacht war ein Kind des Ostseeraumes. Hier befindet sich der Katholizismus in der äußersten Diaspora. Doch schärft das Leben an der Grenze zuweilen den Blick auf das Wesentliche. Schacht hatte eine katholische Seele. In seiner Naturlyrik beschreibt er die Erfahrung des Schöpfers. Um Erlösung von Schuld und Sünde geht es in seinem autobiographischen Wenderoman Notre Dame (2017). Er beschreibt eine verhängnisvolle Leidenschaft im Kontext des Mauerfalls. Sie führt zur Zerstörung der Ehe des Protagonisten und zu einem Selbstmordversuch der Geliebten. Schacht verehrte die Muttergottes, und so ist es kein Zufall, dass sein alter ego in einer Frühmesse der Pariser Kathedrale Notre Dame Vergebung sucht und finden. Es weiss, dass allein „ein Priester, ein geweihter Mensch, dem die Gabe gegeben war, etwas zu verbinden, was immer wieder riss, aufriss“ seine Schuld in Christi Namen vergeben konnte.

„Alles, was er hörte, auch wenn es in einer fremden Sprache ertönte, verstand er; alles, was er sah an Zeichen, Gesten, Ritualen, auch ihre Fülle, der Glanz, den sie verbreiteten, den Erfahrungen seiner eigenen Kirche nicht entsprach, war ihm vertraut. Die heiligen Worte, die verlesen wurden, der Weihrauch, der aufstieg, die Musik, die Gebete, sie erfüllten den riesigen Raum, in dem auch er seinen Platz gefunden hatte, nicht nur abstrakt mit Sinn, sie erfüllten ihn auf überwältigende Weise mit sinnlichem Sinn: zu hören, zu riechen, zu schmecken von der einzigen Wahrheit, die trösten konnte, vergeben, bedurfte es des Trostes, der Vergebung.“

Ulrich Schacht hat in den letzten vier Jahren seines Lebens an diesem Roman gearbeitet. Der Gedanke einer Konversion hat ihn nie ernsthaft bewegt. Doch erkannte und verteidigte er den Primat des Papstes. Das falsche Papsttum sitze nicht mehr in Rom, sondern in der DNA einer von Luther abgekehrten protestantischen Kirche, „die aus dem zeitbedingt von Luther proklamierten Priestertum aller Gläubigen leider ein Papsttum aller Priester hat werden lassen“. Es werde Zeit, „nach einem halben Jahrtausend Kirchentrennung mit der eigenen ekklesiologischen Unfehlbarkeitsversuchung und ihren desaströsen Folgen konsequent ins Gericht zu gehen“, schreibt Schacht in  Über Schnee und Geschichte (24. August 2007).   

Er tat dies auch durch die Gründnung des Ivenack-Orden, einer evangelischen Bruderschaft mit katholisierender Ausrichtung, im dänischen Marielyst/Falster (1987). Ihm stand er als selbst ernannter Großkomtur „Bruder Wismar“ vor. Schacht orientierte sich gerne an den Büchern von Friedrich Heiler. Der katholische Marburger Religionswissenschaftler hatte in den Zwanziger Jahre am lutherischen Abendmahl der schwedischen Kirche teilgenommen und damit eine Exkommunikation riskiert. In seinem Werk „Der Katholizismus“ hatte er das Konzept einer „evangelischen Katholizität“ entworfen. Doch in der evangelischen Kirche kann man nicht katholisch sein. Das wusste Ulrich. Aber es störte ihn nicht im geringsten. Auf verlorenem Posten fühlte sich der ökumenische Grenzgänger pudelwohl.

Der ursprüngliche Ordensname nahm Bezug auf die Ivenacker Eichen, Deutschlands älteste Bäume. Als Schacht eine landeskirchliche Anerkennung seines Ordens suchte, musste er diesen allzu deutschnational klingenden Namen aufgeben. Aus dem Ivenack-Orden wurde die Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden mit Sitz im Erfurter Augustinerkloster. Die Wahl von Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer als Ordensheilige schuf die notwendige Akzeptanz und Finanzierung durch die Landeskirche.

 

 

Im Jahr des Mauerfalls hatte Ulrich Spitzbergen besucht. Franz-Joseph-Land lag damals noch im militärischen Sperrgebiet. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich für wenige Jahre ein Zeitfenster, das er für seine Künstlerexpeditionen (1991, 1992, 1993, 1995) nach Novaja Semlja, Severnaja Semlja und Franz-Joseph-Land nutzte. An der letzten Reise in das Land hinter Lethe durften Heimo Schwilk und ich als Gäste teilnehmen. Dann wurde das Inselreich, auch wegen der atomaren Verstrahlung weiter Regionen der Kara-See, wieder zum militärischen Sperrgebiet erklärt.

Am 16. Juli 1995 trafen sich in Hamburg die schwarz gekleideten Ordensbrüder. Am Vorabend des Fluges hielten sie eine letzte Abendmahlzeit. In schwarzer Schrift waren auch die Aufkleber mit dem Zeichen des Ivenack-Ordens gehalten. Jeder hatte sie auf seine Gepäckstücke zu kleben. Von Hamburg flogen wir über Kopenhagen nach St. Petersburg. Dort startete eine Antonov-26 zum Flug nach Sibirien. Die Reisezeit wurde mit acht bis zehn Stunden angegeben. Am Ende waren es zwölf. Beim Flug in den Osten werden die Uhren um sechs Stunden vorgestellt, besser noch, der Reisende legt sie ab. Denn was bedeutet Zeit in diesen gewaltigen Räumen?  Alles ist hier ohne Maß.

 

 

Wie das Wetter des Nordlandes in Minutenschnelle wechseln kann, so der Kurs der russischen Währung. Zwei Zwischenlandungen sind auf dem Flug nach Dickson nötig, doch selbst der Pilot weiß beim Start nicht, wo sie stattfinden werden. Während der Reise über menschenleere Landschaften wird er bei verschiedenen Flughäfen den besten Benzinpreis erfragen. Wir fliegen in Richtung Archangelsk über die ehemaligen Vernichtungslager aus stalinistischer Zeit. Weit unten liegen die Solowki-Inseln, auf denen Pawel Florenski verbannt worden war. Edzard Schaper hat das Schicksal der verfolgten Christen in der Sowjetunion in seinen karelischen Erzählungen und seinem Roman Die sterbende Kirche (1936) beschrieben. 

Im Juli 1931 flog Arthur Koestler als Korrespondent des Ullstein Verlages mit dem „Graf Zeppelin“ über die Welt der Lager in Richtung Franz-Joseph-Land. Ziel der Reise war die Stille Bucht der Hooker-Insel, wo das deutsche Luftschiff auf den sowjetischen Eisbrecher Malygin treffen sollte. Ulrich Schacht hatte eine kleine Reisebibliothek zusammengestellt, darunter Friedrich Sieburgs Bericht Die rote Arktis (1932) über die Fahrt mit der Malygin. Das Verwaltungszentrum der roten Arktis und ihrer Straflager war Archangelsk. Wir dürfen die Stadt nicht betreten. Sieburg hatte über Archangelsk berichtet: „Die Kirche ist in ein antireligiöses Museum umgewandelt, ihr weißgekalkter Bau liegt in einer kleinen Anlage, die der Aufenthaltsort der Säufer, Bettler, Tagediebe und Obdachlosen von Archangelsk ist.“

 

 

Wieder in der Luft feierten wir die Überquerung des nördlichen Polarkreises mit zuckersüßem Schaumwein aus rosafarbenen Hartplastikschalen und einem Apfelstückchen. Amderma meldet 8 Grad. Wir betreten das Reich des Permafrostes. Im Sommer taut der Boden nur bis zu einer Tiefe von zwanzig Zentimetern auf. Aus Schutz vor der Bodenkälte steht das Flughafengebäude auf Pfeilern. Die Stufen sind vom Frost zersprengt worden,  das Rollfeld zeigt tiefe Risse. Aus unerfindlichen Gründen verweigert unser Zielflughafen Dickson die Landeerlaubnis. So verzögert sich der Weiterflug um zwei Stunden. Gelegenheit, zwischen schrottreifen Maschinen und Öllachen zu gehen. Am Flughafengebäude die alte Parole: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird immer leben.“ Das Portrait des Diktators ist vom Frost zerfressen worden. Wir erleben den Untergang der roten Arktis.

Das Militärlager Dickson erreichen wir nach Mitternacht. Unter Stalin war Dickson ein Gulag. Während des Kalten Krieges lebten hier 1500 Soldaten, jetzt sind es nur noch zehn. Wieder grüßt ein verwitterter Lenin. Um zwei Uhr nachts steht die Sonne leuchtend am Himmel. Wir steigen durch eine Trümmerwüste. Eine apokalyptische Landschaft wie die Zone in Andrej Tarkowskijs Film Stalker. Aufgeplatzte Leitungsrohre, verlassene Häuser, verrostete Kettenfahrzeuge, tonnenweise Schrott, dazwischen Hinweisschilder auf radioaktive Strahlung. Draußen auf dem Grund der Karasee liegen nukleare U-Boote. Neue, noch verpackte  Gerätschaften verwittern bereits am Straßenrand,  eine Lieferung von Heizkörpern liegt vor den Häusern und dient als Fußabtreter.

Am Kap Tscheljuskin ist nur eine Zwischenlandung geplant. Ein eisiger, naßkalter Wind fährt durch das nebelverhangene Lager. In gefütterten Gummistiefeln waten wir durch den Schlamm, während der Hubschrauber aufgetankt wird. Auf einem Schild der Hinweis auf das Rauchverbot. Bei Zuwiderhandlung werden zwei Monate Entzug der Zuckerration angedroht.  Der Tankwart raucht dennoch, denn Zucker gibt es hier auf verlorenem Posten schon lange nicht mehr. Russland hat für die Heimkehr seiner arktischen Arbeiter kein Geld. Aus der Nebelwand taucht ein blutverschmierter Samojede mit einem Knochen in der Schnauze auf. Sofort verbeißen sich sieben Bestien ineinander. Mit groben Fußtritten versucht sie der Tankwart auseinander zu treiben. 

 

 

Fünf Eisbären seien im Gelände gesichtet worden, heißt es plötzlich. Da sie unter Naturschutz stehen, dürfen sie nicht geschossen werden. Eisbären kennen keine natürlichen Feinde. Sie gelten als unberechenbar und extrem schnell. „When you have seen them, you are dead!“, sagt Martin Harris, Meteorologe aus Oxford, der hier oben Wettersatelliten aussetzen will. „Wenn Du einen Eisbären siehst, fängst das Leben erst richtig an!“, meint Ko de Korte, ein holländischer Ornithologe und Zyniker. Er lebt von den wenigen Reisegruppen, die er in die Arktis führt, und verachtet zugleich den Menschen, der seinen Fuß in das Vogelparadies setzt.

Unerwartet bietet sich die Möglichkeit, die Polarstation Fedorov und das Denkmal am Kap zu besuchen. Viktor schultert die Kalaschnikov und beordert einen Lastwagen. Wir legen uns auf die hölzerne Ladefläche und klammern uns während der holprigen Fahrt aneinander, um nicht abgeworfen zu werden. Durch die Risse in den Balken spritzt der Eisschlamm. Am Kap Tscheljuskin sind viele Entdeckungsreisende der Arktis gescheitert oder durch das Eis an der Weiterfahrt gehindert worden. Direkt am Ufer haben Soldaten auf hohen Wachtürmen Position bezogen. Vor ihren Augen gleiten Eisblöcke vorbei. Die breite Urinspur eines Eisbären zieht sich über eine Schneewehe. Grüne Steine mit langer gleichmäßiger Maserung liegen auf dem Boden. Einige Stellen sind mit leeren Patronenhülsen übersät. Zwei mannshohe Steintürme und ein aufgerichteter Baumstamm mit roten Farbstreifen markieren den Ort:  77° 42’ 07’’ nördlicher Breite, 104° 8’ Länge. Musik und Dialogfetzen der Radiostation durchdringen lautstark die Eiswüste. Wir frieren trotz der Spezialkleidung. Viktors Hals und Hände sind ungeschützt. Wärmende Kleidung wird den Soldaten nicht zugeteilt. Vielleicht geht deshalb die Zigarette im Mund niemals aus. Sechzig Kilometer von Kap Tscheljuskin entfernt befand sich ein Lager für politische Gefangene. Eine Ahnung von den Zuständen im GULAG läßt uns erschaudern. 

Zehn Stunden dauert der Flug mit dem Hubschrauber MI-8 von Dickson über Kap Tscheljuskin ins Nordland. Ein gefährliches Unternehmen. Denn zwei MI-8 Hubschrauber sollten in diesem Sommer 1995 über dem Eis abstürzen. Aus zweihundert Metern Flughöhe gleitet der Blick über endlos scheinende Tundraweiten. Kilometerweit haben sich die Spuren der Kettenfahrzeuge in den Boden gefressen. Dreißig Jahre lang werden sie sichtbar sein. Das Leben ist empfindlich, und die kurzen Sommer schenken ihm nur wenig Blütezeit. Fünf Sommer dauert es, bis sich ein knospendes Blümchen entfaltet hat. 

Niemand kann hier oben allein überleben. Alles Lebendige braucht Schutz. Die rotfarbene Flechte den Stein, das winzige Vergißmeinnicht die Grasnabe, der Eisbär die Schneehöhle, der Mensch den Hund und das Gespräch. Auch wir hocken dichtgedrängt zwischen den großen Benzintanks im Innenraum des Helikopters. Der Lärm der Rotorblätter ist ohrenbetäubend, die technische Ausrüstung wirkt überaltert. 

Mir ist nicht zum ersten Mal auf dieser Fahrt ins Land hinter Lethe unwohl. Ein Ordensbruder kommentiert: „Man merkt auf Schritt und Tritt, dass du noch nie im Knast gewesen bist!“ Das stimmt. Jeder Ordensbruder hat „Knasterfahrung“. Offenbar schöpft er daraus eine innere Stärke und Gelassenheit. Sebastian Kleinschmidt bringt diese Erfahrung auf den Punkt: 

„Wer im Gefängnis ist, erfährt Licht und Dunkelheit elementar. Schacht gehörte zu denen, die Energie daraus gezogen haben, auch als späterer Dichter. So wurde er Zeuge der Dunkelheit und zugleich Bote des Lichtes. Beides ist in sein Schreiben eingegangen. In fast allen seinen Gedichten, besonders denen über den Norden, ist das zu spüren.“

Auf alles waren wir nach den bisherigen Erfahrungen gefaßt, nur nicht auf den angenehmen Komfort der Radio- und Wetterstation  „Prima“. Sie liegt auf Bolschewik, der südlichsten Insel des Nordlandes Severnaja Semlja. Ihre Entdecker nannten sie Swjataja Olga - Sankt Olga. Die Revolution löschte auch diesen Namen aus.

Vier Russen wohnen das ganze Jahr über auf Prima. Die Station über dem 79. Breitengrad kann nur im Monat August von Eisbrechern aus Murmansk oder Archangelsk versorgt werden. Prima beherbergt in diesem Jahr nur drei Reisegruppen.  Das sei zum Überleben zu wenig, erklärt Vladimir Baranov in morgendlicher  Runde.  Unser Begleiter war Angestellter des berühmten Forschungsinstituts für Arktis und Antarktis in St. Petersburg und versucht nun einen sanften Tourismus aufzubauen. Auf den Tischen  steht der köstliche Fisch, den wir am Nachmittag geangelt hatten. Oberhalb der Station befindet sich der See Osero Twerdoje. Er dient zur Trinkwasserversorgung und ist ganzjährig zugefroren. Im Sommer beträgt die Eisdichte 150 Zentimeter. Wir hatten Löcher gebohrt und Lachsforellen gefangen. Unsere russischen Begleiter ließen die Tiere auf dem Eis liegen, wo sie  lange Maul und Kiemen bewegten. Einige von uns befremdete der Brauch, und sie baten, die Fische zu köpfen. Entsetzt wiesen die Russen das Anliegen zurück. Wie könne man nur einem so edlen Tier den Kopf abschneiden!  

 

 

Severnaja Semljas Inselwelt erstreckt sich 360 km von Nord nach Süd und 324 km von West nach Ost.  Gut die Hälfte der Fläche ist vergletschert. Rentiere, Eisbären, Schneehasen, Lemminge und Polarfüchse sind auf Severnaja Semlja zu Hause. An den steilen Felswänden der Fjorde brüten Seevögel. Einige Kolonien bestehen aus zehntausend Brutpaaren. Severnaja Semlja bietet ein abwechslungsreiches Landschaftspanorama. Sanftwellige eisfreie Hochebenen sind mit grünen Schiefertafeln bedeckt. Weder Grashalme noch Moose wachsen hier. Schwarze Flechten mit grauen Rändern bilden die ersten Spuren des Lebens zwischen den gewaltigen Brocken einer Geröllhalde. Der Frost hat die Steine aufgesprengt und steinerne Blütenornamente gebildet. Im Anorganischen prägen sie die Grundmuster des Lebens vor. Orangerot leuchtende Flechten ernähren sich von den Mineralien. Die Reise führt in den Anfang der Schöpfung zurück, als Wasser und Land gerade getrennt worden waren. 

Himmel, Erde und Wasser fließen ineinander über. Farben und Formen wechseln in Minutenschnelle. Türkisblau und grauschwarz bricht der Gletscher auf. Jahrtausendelang wurde das Land von seinen Eismassen geknetet. Jetzt hat das Eis den fruchtbaren Lehm der Schöpfung freigegeben, einen Erdenkloß, dem zum Lebendigwerden nur noch der Anhauch Gottes fehlt. Keine Kamera kann das Farbenspiel des Urschlamms einfangen. In braunroten, ockergelben und lindgrünen Linien stürzen Berge den Canyon hinab. An ihren Rücken sind die Spuren des Walkens und Knetens deutlich sichtbar. Unten in den Schluchten murmelt rostfarbenes Wasser  über  rosige Gipsplatten. Nur laufend können wir uns in dieser Landschaft bewegen. Wer stehenbleibt, versinkt bis zu den Knien im Boden.  Vor Jahrmillionen war die Arktis eisfrei. Käme heute tatsächlich ein dauerhafter weltweiter Umschwung des Klimas, hier oben wäre bereits der fruchtbare Boden für eine neue Entfaltung des Lebens gegeben. Die Arktis geht mit jedem Klimawandel kreativ um. 

 

 

Auf Novaja Semlja haben russische Wissenschaftler Atomversuche durchgeführt und große Teile der Insel verstrahlt zurückgelassen. Während wir die Überreste des  Winterlagers Het Behouden Huys von Willem Barents an der Nordspitze dieser Insel besuchen, wird weltweit gegen die geplanten französischen Atomversuche im Pazifik protestiert. Seltsame Gedanken überfallen den Reisenden. Es ist, als werde hier im Nordland bereits eine neue Schöpfung vorbereitet.  Die arktische Landschaft ist weder schön, gewaltig noch erhaben, ihre Größe übersteigt alles Begreifen. Sie ist ein heiliger Raum, vor dem der Eindringling zurückschreckt. Es kommt auf den Menschen nicht an, selbst die von ihm geschaffenen Katastrophen und Zerstörungen wirken bedeutungslos vor der Erfahrung einer unergründlichen Schöpferkraft. Ulrich Schacht schreibt:

„Woher wir kommen bleibt unerschlossen:
Die Daten sind reine Zahl auf Papier.
Am Anfang des Lebens wird Blut vergossen;
am Ende erschrickt ein verwundetes Tier.

Auftauchen Verlöschen: Kometengewitter -
im Raum aller Spiele besiegt uns der Kreis.
Es gibt kein Gestade für jenen Ritter,
von dem unser Herz mit Gewißheit weiß.

Schweigen herrscht zwischen verlorenen Welten:
ihr Kreisen ist grundlose Trunkenheit.
Wann immer wir in unser Leben schnellten,
gewannen wir nichts und verloren die Zeit.“


Vor dem fünfstündigen Flug von Severnaja Semlja über das Eismeer nach Franz-Josef-Land werden die vier großen Tanks des Hubschraubers in Sredni aufgefüllt. Sredni gehört zu den Sedow-Inseln. Die Haut des Tankwartes auf der Militärstation ist vom Frost gezeichnet. Ein erfrorenes Lächeln legt die Zahnhälse und das rotbläuliche Zahnfleisch frei. Drei junge Frauen sind gekommen und blinzeln gegen die Sonne.  In Sichtweite von Sredni liegt die Insel Domaschni.  Hier stand in den dreißiger Jahren das Haus des russischen Arktisforschers Georgi A. Uschakov (1901-1963). Bären- und Walroßknochen liegen verstreut. Zwischen den letzten Balken des Hauses brüten die Elfenbeinmöwen. Sie gelten als Schutzengel der Arktis und Symbole der Unsterblichkeit. Sergej, der Funker, verweist auf die Schwingen der Elfenbeinmöwe, die er als Tätowierung auf dem Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger trägt. Wenn der Helikopter ins Wasser stürze, sagt er, kämen die Möwen und trügen unsere Seelen in den Himmel. 

 

Nach zwei Stunden Flug besuchen wir den einsamsten Ort der Arktis, die verlassene Station Uschakova. Zwei Holzhäuser inmitten des Eismeeres auf einem Gletscher. Ziegelsteine sind vor einem Haus gestapelt, ein moosiger Eisbärenschädel liegt zwischen alten Zeitungen und leeren Flaschen.

Lebensmittelreste in der Vorratskammer. Wäsche hängt noch an der Leine und ein Feuerlöscher an der Wand. Mit weißem Pinselstrich sind die Umrisse eines nackten weiblichen Körpers an die Eingangstür gemalt. Doch schon beginnt eine dicke Eisschicht den Fußboden der Häuser zu überziehen. Über dem Hauptgebäude sind noch die Funkdrähte gespannt. Doch kein Mensch sendet aus diesem Eiland Botschaften, und auch die große Antenne empfängt keine Signale mehr. Auf ihren Drähten spielt der Polarwind das Lied von Nacht und Eis. In seinem Reisebericht Von weißen Nächten und roten Tagen (1934) spricht Arthur Koestler vom „Wahnsinn der Einsamkeit“ und dem „Eiskoller“. Als er die Fahrt des Zeppelins L 127 begleitete, war er soeben Mitglied der kommunistischen Partei geworden. Seinen Reisebericht wird er in der Sowjetunion veröffentlichen. Die Arktis beweise, dass der Mensch nur in der sozialistischen Gemeinschaft leben könne: „Wenn man alle Propheten des Individualismus und alle Poeten, die die Einsamkeit verherrlichen, von Nietzsche bis Rilke, zwänge, nur ein Jahr oben zu verbringen - der Individualismus würde bald ausgestorben sein.“  Ulrich Schacht hatte einen anderen Blick auf Schnee und Eis:


„SCHNEE FIEL in meinen Schlaf das weiße
Schweigen ließ mich erwachen und das
Haus verlassen: Auf keinem Weg kam ich

voran nur weiter wurde meine Welt durch
die ich lief kein Schatten den die Bäume
warfen sie waren weiß und wurzelten in

Licht, das ohne Quelle schien ein Vogelpaar
schrie sanft über die Ebene im scharfen Schnabel
kein verröchelndes Getier kein Rauschen schwerer

Flügel über aussichtslosen Fluchen, und langsam
ahnte ich: Das Paradies ist weiß, und nichts als
Schnee bettet die irrenden Geschöpfe.“


Franz-Joseph-Land wurde von dem böhmischen Offizier Julius Payer und dem Schiffsleutnant Karl Weyprecht aus Hessen entdeckt. Ihre Fahrt mit der „Admiral Tegethoff“ inspirierte Christoph Ransmayr zu einem Roman, den Ulrich Schacht auf seiner ersten Fahrt nach Spitzbergen (1989) las und verwarf. Unser Quartier auf der Station Krenkel (Hayes-Insel) befindet sich in einem desolaten Zustand, der alles in den Schatten stellt, was wir bisher gesehen hatten. Der Namensgeber, Ernst Krenkel (1903-1971), gehörte mit Pavel Molchanov und Rudolf L. Samoilowitsch (1881-1940) zu den wissenschaftlichen Leitern des ersten Zeppelin-Fluges nach Franz-Joseph-Land. Der LZ 127 Graf Zeppelin traf in der Buchta Tichaja - Stille Bucht der Hooker-Insel - auf den Eisbrecher Malygin. Die Forschungsstation an der Stillen Bucht wurde 1959 geschlossen. Dafür wurde unser Quartier neu errichtet. 

 

 

Dass die Geschichte der Entdeckung der Arktis auch eine Geschichte des Scheiterns ist, wird plötzlich wieder bewußt. Willem Barents starb noch bei seiner Rückkehr von Novaja Semlja an Skorbut, Otto Krisch, Maschinist der Tegetthoff, liegt auf der Wilczek-Insel begraben, auf der Rudolf-Insel, dem nördlichsten Eiland von Franz-Josef-Land, liegt das Grab des Matrosen Sigurd Myhre, daneben der Propeller und andere Teile einer Antonov-26 und die Rotorblätter von zwei Hubschraubern. Als Franz-Josef-Land in den dreißiger Jahren von der Sowjetunion besetzt wurde, versuchte man sämtliche Spuren der bisherigen Erforschung des Archipels zu beseitigen. Planmäßig wurden amerikanische und norwegische Polarstationen eingeebnet. Wie unübersichtlich und wenig kontrollierbar die Inselwelt von Franz-Josef-Land jedoch ist, zeigt die Tatsache, dass inmitten des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten auf Alexandra-Land eine Militärstation errichten konnten, die erst in den sechziger Jahren entdeckt wurde. Inzwischen hat sie ein Gletscher unter sich begraben. 

Dann erreichen wir Ulrich Schachts Sehnsuchtsort. Die Insel Bell Island am südwestlichen Rand einer stark vergletscherten Trümmerlandschaft prägt sich durch einen markanten Tafelberg dem Gedächtnis unmittelbar ein. Was Schacht in dieser Landschaft aufscheint, hat er in Bell Island im Eismeer (1991) verdichtet. Er hielt diesen Urtext aller arktischen Beschwörungen für sein wichtigstes Gedicht. Wie ein Schöpfungspsalm beschreibt er die Erfahrung des Geborgenseins in dem heiligen Raum:


„Wasser das
Wasser ist Weg zwischen
Stein und Gestein: Erdblut
ragt über das Eis geronnene 
Zeit darauf der Himmel
lastet. Ich habe

gesehen, lichtweit, einen
Entwurf ohne mich und
ich war glücklich:

Kuppeln über der
Kuppel blühten aus 
Nebeln blaue Bogen Wolken
Nester in denen die
Sonne sich zahllos
gebar, und eine
Stille der

ich zu glauben 
begann.“


Stille herrscht in der arktischen Landschaft, aber kein Schweigen.  Das ruhige Gespräch beim Eisangeln ist noch in weiter Ferne zu vernehmen. Aus den Fjorden steigt das Geschrei der Möwen empor. Die Walrosse grunzen und rülpsen am Meeressaum. Wer könnte die Worte des Windes übersetzen und  den Gesang der treibenden Eisberge? Wer entziffert die Frostmuster der Steine?  Die eisige Stille der Arktis bricht Felsen und versteinerte Seelen auf. Nach jahrelangem Schweigen beginnt mancher Pilger wieder das Gespräch mit Gott. 

Wir sind die letzten Gäste auf der nördlichsten Wetterstation der Welt. Nach unserem Besuch wird die Station geschlossen werden. Sie liegt an der Teplitzbucht unweit des Kap Germania. Hier auf der Rudolf-Insel lebt ein Ehepaar. Krapfen, Gebäck, Brot, Butter, Marmelade und Tee werden aufgedeckt. Gesang ertönt. Der Funker hat ein kleines Museum eingerichtet: Steine, Eisbärenkrallen, Überreste der Ziegler-Expedition. Die Hausfrau führt uns durchs Gebäude. Im Schlafzimmer über dem Ehebett eine Muttergottes mit Jesuskind, dann durch einen Flur mit Nahrungsvorräten vor eine Tür, hinter der sich Unglaubliches verbirgt: Leinen- und ledergebundene Bücher, Regale vom Boden bis zur Decke gefüllt.  Es mögen zehntausend Bände sein. Wir versuchen, die Buchrücken zu entziffern. Alles ist in diesem Hort der Kultur zu finden. Auch Goethe in der Arktis. Seit 1995 versinkt die Station in Schnee und Eis. Einst wurden hier Saurierknochen gefunden. Vielleicht werden kommende Geschlechter eines fernes Tages die Bibliothek der Weltliteratur unter dem Eis finden. 

 

Auf der Jackson Insel erinnert eine Gedenktafel in russischer und norwegischer Sprache an  Fridtjof Nansen und  Fredrik  Hjalmar Johansen, die hier vor genau einhundert Jahren neun Monate in Nacht und Eis überwinterten. Nach zwei Jahren Eisdrift mit der „Fram“ („Vorwärts“) hatten sie auf 84° 4’ nördlicher Breite das Schiff verlassen, um zu Fuß den Nordpol zu erreichen.  Trotz unglaublicher Willensstärke scheiterte der Versuch, und nur einem guten Geschick hatten es die beiden zu verdanken, dass sie auf ihrem Rückweg Franz-Josef-Land erreichten. Auf Jackson ist noch der Fichtenstamm zu sehen, der als Firststück für ihre Winterhütte aus Stein, Eis- und Walroßfellen diente. Neun Monate dunkle Nacht, neun Monate, in denen nichts passiert, die Gedanken nichts mehr denken und das Herz im Schweigen versinkt. Was ist der Mensch? „Nur ein Staubkorn ist er vor der Macht, die alles, was wir sehen und nicht sehen, erschaffen hat, der Macht, die von Ewigkeit her alles regiert und in Ewigkeit alles nach ihren uns unfaßbaren Gesetzen regieren wird, der Macht, die uns auf dieser Reise so oft vom Untergange errettet hat!“, notiert Hjalmar Johansen in seinem Reisebericht. Noch immer ist die Arktis ein Ort der Selbstbegegnung und der Berührung mit dem Geheimnis der Schöpfung.

In seiner neuen schwedischen Heimat habe ich Ulrich immer wieder besucht. Das letzte Mal im Herbst 2017 mit Undine, meiner Frau. Ulrich führte uns in sein weiß gestrichenes Arbeitshaus. Es besteht aus einem großen Raum, vollgestopft mit Büchern. Eine Couch von Büchern bedeckt. Davor ein Tischchen mit einem Schachspiel. Dann zwischen Büchern eingemauert der Schreibtisch. Zur Linken an der Wand ein Bild Friedrich Schillers, eine Ikone mit der Darstellung der Ankündigung der Geburt Jesu, ein schlichtes Holzkreuz, Rubljovs Dreifaltigkeitsikone. Im Bücherregal hinter dem Schreibtisch Bilder und Postkarten: Die Sixtinische Madonna, Uta von Naumburg, Cranachs junger Luther, daneben Papst Benedikt XVI., weitere Marienbildnisse. Daneben eine grüne Postkarte mit der Bitte: „Herr, gib mir Geduld, aber zackig!“ 

Am Nachmittag fahren wir mit Stefanie und Ulrich ans Meer nach Hovs Hallar. Birgit Nilsson lebte hier.  Es gibt auch ein kleines Museum. Aber die Saison ist schon vorbei. Wir gehen hinunter an die Steilküste. Die stark zerklüfteten Felsen erinnern an die Steinwüste von Franz-Joseph-Land. Ulrich herzt unseren Hund Tobit und bleibt auf einem dicken Felsbrocken sitzen, während wir weiter durch das unwegsame Gelände steigen. Hier auf der Halbinsel Bjäre drehte Ingmar Bergmann im Sommer 1956 den Film Das siebente Siegel. In Hovs Hallar  wurde die Szene aufgenommen, in der Max von Sydow mit dem Tod Schach spielt.

Ulrich Schachts Frau hat auf der Todesanzeige ein Photo platziert. Es zeigt den Dichter, wie immer schwarz gekleidet, in einem winterlichen Buchenwald. Mit dem rechten Arm lehnt er seinen mächtigen Leib an einen Baum. Ganz klein wirkt Ulrich in dieser Landschaft. Beigegeben hat Stefanie Schacht dieses Gedicht ihres Mannes:


„Manchmal gibt der Wind den
Bäumen eine Stimme: Sie flüstern sie

ächzen sie schreien vor
Schmerz. Gefährten, sagen

wir dann, und wissen: Selbst
wenn wir die letzten Stimmen

wären wir wären, noch
immer, nicht einsam.“


Ulrich Schacht wurde auf dem Friedhof der Marienkirche von Båstad beigesetzt. Hier hatte er nach dem Ritus der schwedischen Staatskirche geheiratet. Bei einer Gedenkveranstaltung (2021) auf dem Anwesen von Heimo Schwilk in Grünow/ Uckermark sprach Sebastian Kleinschmidt, der langjährige Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“, von der enormen physischen und geistigen Präsenz des Freundes - auch nach dem Ende des irdischen Lebens. 

Der Pfarrerssohn Sebastian Kleinschmidt sprach von der realen Gegenwart des Dichters: „So etwas geht nach dem Tod nicht einfach verloren. Wird so einer aus der Welt gerissen, erscheint sie uns wie amputiert. Aber das ist nicht alles. Als mich vor zwei Jahren die Mitteilung seines Todes erreichte, fuhr ich ans Meer und ging in eine Dorfkirche. Das war in Wustrow auf dem Fischland. Ich wollte für den toten Freund ein Gebet sprechen hinüber über die Ostsee nach Schweden. Als ich still für mich an dem leeren Gotteshaus saß und an ihn dachte, kam mir mit einem Mal der Gedanke: Seit du tot bist, ist für mich die Transzendenz bewohnt.“

 

 

*

 

Zitierte Werke von Ulrich Schacht:

Bell Island im Eismeer, Edition Rugerup. Berlin / Hörby. Schweden 2011.

Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011. Matthes & Seitz. Berlin 2012.

Platon denkt ein Gedicht. Edition Rugerup. Berlin 2015.

Schnee fiel in meinen Schlaf, Edition Rugerup. Berlin 2021.

Zu seinem 70. Geburtstag erschien:

Thomas A. Seidel/Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.). Wegmarken und Widerworte. Ulrich Schacht zum 70. Geburtstag. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2021.