Friedrich Hölderlin:
Engel des Hauses
Das erste Buch, das ich von Thomas Mann las, waren die vier Bände von „Joseph und seine Brüder“. So war es kein Zufall, dass ich die Malerin Gisela Röhn (1927-1993) kennenlernte. Sie hatte zu Motiven des Romans Aquarelle gemalt. Diese Bilder waren in einem Buch mit Berichten aus dem eigenen Leben veröffentlicht worden, sodass Jaakobs Geschichten eine autobiographische Färbung erhalten hatten. Diese Durchmischung der Sphären gefiel mir. Ein Briefwechsel begann. Ich hatte zwei Romane veröffentlicht, aber kannte bislang niemanden, mit dem ich mich über meine Suche nach Ausdruck hätte austauschen können. Gisela Röhn nahm mich an die Leine. Sie war verheiratet mit einem „Gottbegnadeten“. Erich Röhn (1910-1985) war unter Wilhelm Furtwängler Konzertmeister in Berlin und seit 1945 unter Hans Schmidt-Isserstedt beim NDR Sinfonieorchester. Ich lernte ihn in seiner Wohnung am Hamburger Mittelweg 85 kennen. Er schenkte mir die Aufnahme seines letzten Konzertes unter den Berliner Philharmonikern, Beethovens Violinkonzert op. 61 in einer Aufnahme vom 9./12. Januar 1944, zwei Wochen vor der Zerstörung der Philharmonie. Ich war sehr jung, deshalb erschien mir Erich Röhn sehr alt, dabei war er kaum über siebzig Jahre alt. Gisela Röhn war der Engel des Hauses. Sie entführte mich zu einer Ausstellung neuer Bilder in die Galerie von Felix Jud. Unter den Exponaten befand sich auch eine Strandszene am offenen Meer. Drei stehende Gestalten waren zu sehen. Die jüngste überreichte einem sitzenden Knaben ein Geschenk des Meeres. Am unteren Rand des Bildes stand eines jener mit Pinsel gemalten Zitate, mit denen Gisela Röhn einen Bezug zur Dichtung herstellte. Ich las:
„Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
Wie du anfingst, wirst du bleiben,
So viel auch wirket die Not,
Und die Zucht, das meiste nämlich
Vermag die Geburt,
Und der Lichtstrahl, der
Dem Neugeborenen begegnet.“
Das Reine ist das Heilige. Die Verse sprachen mich unmittelbar an, denn ich glaubte in ihnen eine eigene Erfahrung von Identität wiederzufinden. Sind wir nicht von Anfang an, was wir sind und sein müssen? Es war ein Zitat aus Friedrich Hölderlins (1770-1843) großem vaterländischen Gesang „Der Rhein“. Ich kaufte das Bild und brachte es nach Hause. Bevor ich heimfuhr, fragte ich noch die Malerin, warum von den vier Kindern drei Flügel trugen. „Sie werden es noch erfahren!“, sagte Gisela Röhn. Das war im Jahr 1982.
Heute sind Hölderlins Himmelsboten die Engel meines Hauses, und ich sehe im Rückblick, was ich damals wegen der Not und der Zucht nicht sah. Man hatte einen anderen Blick auf den schwäbischen Dichter, versuchte ihn aus dem Kontext der politischen Umwälzungen seiner Zeit zu verstehen oder suchte nach Gründen für sein Verstummen. War Hölderlin dem Wahnsinn verfallen? Oder täuschte er seine Geisteskrankheit nur vor, um in Ruhe gelassen zu werden? Hatte er den Schleier über dem Geheimnis zu weit geöffnet? Damals besuchte ich mit Freunden den Hölderlinturm in Tübingen. Da war an der gelb gestrichenen Mauer auf schwäbisch zu lesen: „Dr Hölderlin isch er verruckt gwä“.
Das Reinentsprungene darf nicht vollständig enthüllt werden. Der Lichtstrahl, der jedem Neugeborenen begegnet, ist sein Engel. Die Engel sind die „Himmelskräfte“, die „jedem sein Eigentum“, also seine Berufung, segnen mögen (Mein Eigentum):
„Ihr segnet gütig über den Sterblichen,
Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum,
O segnet meines auch, und dass zu
Frühe die Parze den Traum nicht ende.“
Hölderlin spricht oft von den Himmlischen. Er begegnet ihnen bei der Lektüre von Klopstocks „Messias“ und fühlt sich dann in den höchsten Chor der Engel entrückt (Die Stille):
„Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte
Mit dem Sänger Gottes, Klopstock, himmelan.“
Stille und Einsamkeit sind dem jungen Hölderlin Tore zur Ewigkeit. Als Kind spürt er „die Lüftchen des Himmels“ (Da ich ein Knabe war). Er kannte auch den Volksglauben an die Engel als himmlische Beobachter der sich lieblich entfaltenden Mädchenblüte. In einem Gedicht (Schwabens Mädgelein) für seine Schwester Rike, sie kam 1772 sechs Wochen nach dem frühen Tod des Vaters zur Welt und war nun siebzehn Jahre jung, dichtet er:
„So lieb wie Schwabens Mägdelein
Gibts keine weit und breir,
Die Engel in dem Himmel freun
Sich ihrer Herzlichkeit.“
Friedrich Hölderlin ist Hymniker. Er will die Schönheit preisen. Sie ist sein Zugang zur Welt der Engel. Seine dichterische Berufung ist die Einstimmung in den immer währenden Lobpreis. John Dryden hat ihn beschrieben, Georg Friedrich Händel ihn in seiner Ode zum Tag der Heiligen Cäcilia (HWV 76) Klang werden lassen: „From Harmony, from Heav'nly Harmony…“ Der Gesang ist Hölderlins Refugium oder Asyl in den Stürmen der Zeit. Er ist seine Gabe, sein Eigentum. Als seraphischer Geist macht Hölderlin die Erfahrung, dass sich nicht jeder Mensch auf die Höhenlage seiner Hymnen einschwingen kann oder will. Deshalb ist der Hymniker immer auch der Elegiker. Lobpreis und Klage gehören zusammen wie der beseligende Zustand der Entrückung und die Erfahrung der Nacht. Dann glaubt Hölderlin, er sei als der Einzelne und ganz Andere aus der Zeit gefallen, seine Seele sei im falschen Zeitalter inkarniert, eben zu spät gekommen. Manchmal erfährt sich Hölderlin als der letzte Sänger seiner Art, der noch einmal in Jubel ausbricht, bevor die lange Nacht kommt und das Vergessen. In der Hymne „Die Unsterblichkeit der Seele“ erklingt das Seraphische von Hölderlins Berufung. Das Wesen der Seele ist „Jubel in Ewigkeit“ und Einstimmung in den Chorgesang der Engel:
„So singt ihm nach, ihr Menschengeschlechte! nach,
Myriaden Seelen singet den Jubel nach -
Ich glaube meinem Gott, und schau in
Himmelsentzückungen meine Größe.“
Warum dichten? Warum die Existenz eines Dichters in dürftiger Zeit führen? Warum noch Hymnen anstimmen, wo doch die Nacht bereits den Horizont verfinstert? Hölderlins Dichtung hat wie das Gebet einen überweltlichen Adressaten: Er ist Gott und die Engel oder eine idealisierte Frauengestalt wie Diotima. Die große Elegie „Heimkunft“ bringt seine Poetologie auf den Punkt: „was auch Dichtende sinnen/ Oder singen, es gilt meistens den Engeln“.
Friedrich Hölderlin hat die Engel auch in der heimatlichen Landschaft wahrgenommen. Er spricht von den Engel des Vaterlandes und den Engeln des Hauses. Der Heimkehrende begrüßt die guten Geister:
„O säumt nicht,
Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! und ihr,
Engel des Hauses, kommt! in die Adern alle des Lebens,
Alle freuend zugleich, teile das Himmlische sich!
Adle! verjünge! damit nichts Menschlichgutes, damit nicht
Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch
Solche Freude, wie jetzt wenn Liebende wieder sich finden,
Wie es gehört für sie, schicklich geheiliget sei.
(…)
Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne,
Und erfreuet vielleicht Himmlische, welche sich nahn.“
Engel des Hauses: Rom und Athen kannten die Laren und Penaten. Im Judentum werden die Engel des Hauses am Sabbat mit dem Lied „Schalom alechem“ begrüßt. Carlo Levi berichtet in „Christus kam nur bis Eboli“ aus Lukanien, einer Gegend südlich Neapels:
„Julia hatte die gleiche Angewohnheit wie die anderen Bewohner des Dorfes. Sie warf den Kehricht durch die Tür auf die Straße. Alle machten das so und die Schweine sorgten dann wieder für Reinlichkeit. An diesem Abend aber sah ich, dass sie ein Häufchen aus dem Abfall machte und neben der Haustür liegen ließ. Ich fragte sie, warum sie das machte, denn es geschah sicher nicht aus hygienischen Bedenken. ‚Es ist schon Abend und der Engel könnte das übelnehmen.‘ Ich verstand nicht, und so erklärte sie mir: ‚In der Dämmerung steigen vom Himmel in jedes Haus drei Engel herab. Einer setzt sich an die Tür, der zweite an den Tisch, und einer steht am Kopfende des Bettes. Sie bewachen das Haus und beschützen es. Weder Wölfe noch wilde Wesen können hinein. Wenn ich den Kehricht durch die Tür werfe, könnte ich den Engel ins Gesicht treffen, er wäre beleidigt und käme nicht wieder. Ich erledige das morgen früh, wenn die Engel wieder fort sind.“
Hölderlins Dichtertum wurzelt in der schwäbischen Landschaft und ihren frommen Gebräuchen. Die Elegie „Stuttgart“, gewidmet Siegfried Schmid, spendet den Engeln des Vaterlandes Dank. Alles hat seine Zeit und seine Stunde. Deshalb gilt es den Augenblick festzuhalten. Dem Licht folgt das Dunkel, dem Tag die Nacht. Jetzt aber ist die Zeit des Festes. Festzeit ist für Hölderlin Herbstzeit, Zeit der geistlichen Ernte.
„Engel des Vaterlands! o ihr, vor denen das Auge,
Seis auch stark, und das Knie bricht dem einzelnen Mann,
Dass er halten sich muss an die Freund und bitten die Teuern,
dass sie tragen mit ihm all die beglückende Last,
Habt, o Gütige, Dank für den und alle die Anderen,
Die mein Leben, mein Gut unter den Sterblichen sind
Aber die Nacht kommt! laß uns eilen, zu feiern das Herbstfest
Heut noch! voll ist das Herz, aber das Leben ist kurz,
Und was der himmlische Tag zu sagen geboten,
Das zu nennen, mein Schmid! reichen wir beide nicht aus.“
Hölderlins Roman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ erzählt vom Verlust der Engel des Vaterlandes. In Griechenland hatte Hyperion einen Engel auf Erden kennengelernt. Es ist die geheimnisvolle Diotima, eine große Liebe, vielleicht eine noch größere Projektion. „Engel des Himmels! rief ich, wer kann dich fassen? wer kann sagen, er habe ganz dich begriffen?“ Für das „himmlische Mädchen“ will er alle Gelehrsamkeit aufgeben: „Was ist die Weisheit eines Buches gegen die Weisheit eines Engel?“ Engel sind unsterblich. Diotima nicht. Nach ihrem Tod kehrt Hyperion in die Heimat zurück. Kein Engel nirgends, weder in den schwäbischen Weinbergen noch in den Häusern. Auch die leuchtenden Augen von Schwabens Mägdelein sind trüb geworden. Deutschland ist zum Land ohne Engel geworden. Es ist von allen guten Geistern verlassen. Oder gilt diese Verlassenheit für den Heimkehrer? Blickt die Welt nur zurück wie sie angeschaut wurde? Sind die Deutschen „Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes“? Oder versteigt sich der verlorene Sohn in einen deutschen Selbsthass? Was gilt den Deutschen die Heimat? Was ist ihnen heilig? Deutschland ist zum Land ohne Engel geworden, glaubt Hyperion zu wissen. Das wollen und müssen wir so stehen lassen:
„Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius (Engel) verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Liebe und Brüderschaft den Städten und Häusern bringt.“
Friedrich Hölderlin wurde am 15. September 1806 in die Klinik von Johann Autenrieth (1772-1835) eingewiesen. Aus dieser Anstalt für Geisteskranke ging die Tübinger Universitätsklinik hervor. Sie lag nur 200 Schritte vom Stift entfernt, wo Hölderlin Theologie studiert hatte. Am 3. Mai 1807 wurde der Dichter als unheilbar krank entlassen. Der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer (1772-1838) nahm ihn gegen Kostgeld in Pflege. Hölderlin lebte 36 Jahre bei ihm. Zimmers Tochter Lotte (1813-1899) war neun Jahre jung, als Hölderlin einzog. Sie wird ihn an seine Schwester Rike erinnert haben. Auch sie war eines jener Mädgelein aus Schwaben, an den die Engel ihre Freude haben. „Heiligste Jungfer Lotte“ nannte sie der Dichter. Sie war es wohl: Der Engel des Hölderlinturmes in Tübingen am Neckar.