Mens sana in corpere sano, sagte man in alten Zeiten
(Photo: Viktoria Fedirko/Lituvia)
"...mich selbst begeisterte insbesondere der argentinische Tango.
Auch das war ein Schritt weg vom Marschtritt zur Weltläufigkeit."
Dieter Henrich.
Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie (S. 250)
Gut, dass es in Marbach am Neckar das Deutsche Literaturarchiv (DLA Marbach) gibt! Da liegen viele Schätze, von denen niemand weiß, ob sie nicht eines Tages bedeutsam werden können. Zum Beispiel Dokumente über tanzende Philosophen und Nymphen.
Für zwei Wochen wohnen Undine und ich auf der Schillerhöhe. Wir haben eine Studentenbutze im Collegienhaus gemietet. In der kleinen Einbauküche ist sämtliches Geschirr sorgsam abgezählt: Zwei Weingläser, zwei Kaffetassen mit Untertassen, zwei Eßteller, zwei Suppenteller. Wer internationalen Austausch wünscht, der kann die Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss benutzen.
Am kleinen Schreibtisch unseres Zimmers korrigiert Undine Deutsch-Klausuren zum Thema „Iphigenie auf Tauris“, während ich im Nachlass von Hans Blumenberg stöbere.
Ich habe das Udo-Keller-Stipendium für Gegenwartsforschung: Religion und Moderne zugesprochen bekommen, damit ich über Engel im Werk von Hans Blumenberg forschen kann.
Die freundliche Bibliothekarin weist mir einen Arbeitsplatz zu. Ich bestelle zuerst meine eigenen Akten. Zwischen meinen Briefen finde ich unerwartet die Kopie eines Unterrichtsentwurf, den ich am 9. November 1983 angefertigt hatte. Die Vergangenheit holt mich ein! In Unterrichtsentwürfen geben angehende Lehrer ausführlich über die Didaktik und Methodik ihrer Planung Rechenschaft. Das war in der Zeit meines Referendariates am Mindener Ratsgymnasium eine regelmäßige Übung. Unser Lehrerseminar lag in der alten Villa des Schnapsbrenners Strothmann direkt gegenüber der Schule. Ein Strothmann-Korn vor dem Seminar für Allgemeine Pädagogik oder vor einer mündlichen Prüfung schenkte Gelassenheit auf beiden Seiten.
Wie sämtliche Unterlagen aus Schule und Seminar habe ich den Unterrichtsentwurf schon vor vielen Jahren in der Papiertonne entsorgt. Nun ist eine Kopie wieder da und mit ihr weit zurückliegende Lehrjahre. Ich halte den Entwurf meiner Vorführstunde zu „Iphigenies Geschichtsbild“ in den Händen.
„Dein Lehrer hat wirklich alles aufgehoben“, sagt Undine während einer gemeinsamen Teepause in der spartanisch eingerichteten Cafeteria des Archivs. "Nun gut, LehrerInnenzimmer sind auch nicht gemütlicher", meint Undine.
Goethes Drama vom Exil der edlen Seele auf der Halbinsel Krim hat viele Schülergenerationen zur Reifeprüfung begleitet. So auch Hans Blumenberg, dem diese Schullektüre zu einer ersten inneren Begegnung mit einer idealen Frauengestalt wurde.
„Iphigenie auf Tauris“ steht im laufenden Abitur-Jahrgang wieder auf dem Lehrplan für die Deutsch-Leistungskurse. Dazu gibt es die „Abi-Box“ mit einer didaktisch reduzierten Fassung des Dramas, die es auch Lernenden und Lehrenden mit Lese- und Verstehensschwächen erlaubt, ihre Meinung in einem Rollenspiel zu visualisieren. Neben Goethes Text stehen zur Erläuterung kurze inhaltliche Zusammenfassungen in leichtem Deutsch. Undine hat eine Schülerausgabe mitgebracht. Ich blättere darin mit Vergnügen und lese:
„Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“
Dergleichen Selbstbekundung gilt heute unter Didaktikern als elitär und ausgrenzend. Sie bedarf folgender Erläuterung in der „Abi-Box“:
„Iphigenie fühlt sich auf Tauris fremd.“
Das ist Goethe in vereinfachter Sprache. Iphigenie offenbart König Thoas ihre Identität und erzählt vom Geschlecht der Tantaliden. Doch Thoas lässt sich in seinem Heiratswillen nicht abschrecken: „Ich wiederhole meinen ersten Antrag:/ Komm, folge mir und teile, was ich habe.“ Der Kommentar: „Thoas wiederholt trotz Iphigenies Abstammung seinen Heiratsantrag.“ Orest und Pylades sind entdeckt worden. Thoas sagt: „Es scheinen die Gefangenen dir sehr nah“, was wohl bedeuten soll: „Thoas vermutet, dass Iphigenie den Gefangenen nahesteht.“
Es ist Abend geworden. Undine und ich fahren nach Stuttgart ins Tangoloft. Während der Fahrt mit der S-Bahn stellt Undine einer jener Fragen, die ich liebe, weil sie meine Gedanken beflügelt:
„Konnte Blumenberg Tango tanzen?“
„Wer weiß das schon? Wer will das wissen?“, werden Blumenbergforscher entgegnen. Undine will es wissen. Ja, junge Wissenschaftlerinnen gehen ohne Vorurteil und mit frischem Zugriff an die vertracktesten Probleme der Blumenbergforschung. So geht Genderforschung!
„Blumenberg konnte alles“, hätte ich behaupten können. Aber damit hätte sich Undine nicht zufrieden gegeben. So erzähle ich von einem Philosophenkongress aus den fünfziger Jahren. Damals wurde nicht nur philosophiert, sondern mit den anwesenden Ehefrauen getanzt.
Ich wisse von Tobias Blumenberg, sage ich zu Undine, dass seine Mutter damals von Martin Heidegger aufgefordert wurde. Der aber konnte nicht tanzen, sondern latschte ihr auf die Füße.
„Friedrich Nietzsche aber konnte tanzen“, sagt Undine.
"Mit Worten", entgegne ich.
Als wir spät in der Nacht nach Marbach zurückkehren, finde ich in meiner Mail-Box einen Hinweis auf den tanzenden Philosophen. Der Titel des Berichtes lautet: "Hans Blumenberg war ein schöner Mann" (Die ZEIT vom 16. April 2018).
Andrea Roedig, Mitherausgeberin der Zeitschrift "Wespennest", berichtet über eine alt gewordene Studienrätin für Chemie und Englisch, die in den fünfziger Jahren bei Hans Blumenberg in Kiel das philosophische Pflichtstudium für angehende Gymnasiallehrer absolviert hatte und nun dement geworden ist. Undine liest den Artikel vor und wiederholt die zentrale Passage:
"Bei meinem Besuch vor vier Jahren hat sie noch am Computer Patiencen gelegt, und ich versuchte, ihr etwas über Hans Blumenberg zu entlocken, den berühmten Philosophen, bei dem sie in den 1950er-Jahren in Kiel studiert hatte und von dem sie immer nur sagte: 'Das war ein schöner Mann!' Einmal hatte sie mit ihm getanzt."
"Eine schöne Anekdote", meint Undine. "Es spricht alles dafür, dass sie nicht erfunden worden ist."
Dann öffnen wir noch eine Flasche Heilbronner Stiftsberg. Ernst Jünger trank diesen Trollinger gerne. Wir heben die Gläser auf ihn. Undine blättert in einem Buch von Roger Scruton. "Richtig tanzen" heisst ein Kapitel.
"Willst du mal hören", fragt Undine, "was Sir Roger über Martin Heidegger schreibt?"
Natürlich will ich das.
"Denn ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der weniger mit Tanz zu tun hätte als ausgerechnet Heidegger", liest Undine und füllt Trollinger nach.