Zum 70. Geburtstag von Hans Blumenberg gab Michael Krüger eine kleine Festschrift heraus. Er bat mich um einen Beitrag. Damals beschäftigte mich "Die Wiederkehr der Engel". So kam ich auf die Idee, die Vorlesung am Freitagnachmittag als Unterricht in Angelologie darzustellen.

 

 

 

 

 

Lesen lernen im Buch des Lebens

 

 

Die Morgenröte der Schöpfung glänzte noch auf unseren Gesichtern, denn der Augenblick, da wir dem Nichts entrissen worden waren, mochte kaum einen Wimpernschlag der Ewigkeit zurückliegen. Wir aus der neunten Ordnung waren dazu berufen, die Bücher des Lebens zu führen, eine Aufgabe, die uns mit freudiger Erwartung erfüllte, denn das Studium des Weltenabenteuers und der humanen Regungen versprach in abwechslungsreicher Spannung die Zeit zu kürzen, deren wir zwar nicht unendlich, aber zuweilen bedrohlich viel besaßen. In den höheren Ordnungen, so hieß es, kannten sie keine Zeit.

 

Zuschauer und in gewissen Sinn Teilhaber an einer Welt sein zu dürfen, erschien uns als eine verlockende Bereicherung unseres Daseins. Es gab in unserer Ordnung eine Tradition, die behauptete sogar, Welt und Mensch seien nur als Programm zur Vermeidung von Langeweile geschaffen worden. Der Mensch aber solle einige von den Höheren zur Rebellion verführt haben. Das waren Gerüchte, derer es viele gab. Asmodi, aus dem Geschlecht der Ankläger, der neben mir in dem überfüllten Hörsaal saß und in gespannter Erwartung auf das Erscheinen unseres Lehrers wartete, kannte sie alle.

 

Dr. Seraph nannte man den Weisen vom Blumenberge bei uns in der neunten Ordnung. Jeder kannte seinen Namen und die Titel seiner Werke wie „Lebenszeit und Weltzeit“ oder „Die Lesbarkeit der Welt“. Das war keine Lektüre für uns Anfänger, sondern eindeutlich für Examenskandidaten geschrieben worden, die mit Strahlungsintensitäten umzugehen wussten und dem Spaziergang des Meisters am Horizont der Unbegrifflichkeit folgen konnten.

 

Es hieß, unser Lehrer käme von ganz oben, wo die Feuerflammen des Geistes lodern. Dort habe er die ungezählten Urbilder gesehen, die verwahrt sind im Schrein der Ebenbilder, und wenn er im Hörsaal erscheine, gehe der Glanz jener Sphäre von ihm aus, den wir nur in der siebenfachen Sphärenbrechung zu ertragen vermögen.

 

„Fürchtet du dich?“, fragte Asmodi.

 

„Ein wenig schon“, gestand ich, „denn über sein Wissen und seine Herkunft kursieren beunruhigende Gerüchte. Ich bin gespannt auf den gepriesenen Redner und den Erzieher, an dem die Kunst der Schärfung der Beobachtungsgabe und der Schulung der Aufmerksamkeit gerühmt wird. Er soll Licht in dunkle Höhlen bringen können und werde deshalb ‚Erleuchter der Lebenswelt’ genannt. Aber gesetzt, er nähme mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem stärkeren Dasein. Ein jeder von dort oben ist schön - und schrecklich!“

 

„Er soll sich über die Angelegenheiten der ersten Ordnung in Schweigen hüllen. Vielleicht weil es den Schrein der Ebenbilder gar nicht gibt?“

 

„Manchmal denke ich, es gibt den Menschen gar nicht und man gaukelt uns auf dem Planeten Erde nur ein Spiel mit Schatten vor.“

 

„Aber warum?“

 

„Um uns ruhig zu halten. Vielleicht haben die da oben Angst vor uns. Es gibt Momente, da habe ich das Gefühl, etwas ganz Gefährliches schläft in mir und droht wachzuwerden. Ich kann es aber nicht benennen.“

 

„Ich weiß von einer Rebellion unter dem Geschlecht der Ankläger“, sagte Asmodi, „die der Offenlegung der Kriterien galt, nach denen die da oben später unsere Aufzeichnungen  verwerten. Sie kämpften für die Transparenz der Buchführung und verlangten Einsichtnahme in den Schrein der Ebenbilder, um Urbild und Abbild selbst vergleichen zu können.“

 

„Und, wie ist die Revolte ausgegangen?“ 

 

„Wie alle Studentenunruhen! Sieh’ dich ’mal vorsichtig um. Da hinten, in der achtundsechzigsten Reihe, die Grauflügel sollen aus jener Epoche stammen.“

 

„Welche Haltung nahm Dr. Seraph damals ein?“

 

„Er schwebte, so sagt man, zwischen den Sphären und nahm eine Position ein, die von keiner der Parteien bezogen werden konnte. Er gilt als verführungsresistent. Zu allen Zeiten sprach er so, als wäre er überall dabei gewesen. Doch selbst die sieben Äonen, die man ihm nachsagt, können nicht ausreichen, alles selbst erlebt zu haben, was aus seinem Mund wie authentische Teilnehmerschaft klingt. Wer gesehen habe, wie der Mensch sein solle…“

 

„Also hat er doch Einblicke in den Schrein der Ideen gehabt?“

 

„… und erkennen, was er geworden ist, der könne weder dem Quell der Urbilder noch der Welt der Abbilder mit jenem Ernst begegnen, der gemeinhin in dieser Sphäre waltet.“

 

„Also ist er Humorist!“

 

„Das schon wegen seines Berufes. Lehrer sind entweder zynisch oder humorvoll. Da gibt es keine Alternative. Es heißt auch, er mag nicht das Gericht und die Idee eines Richters.“

 

„Wieso ‚Idee‘? Gibt es für ihn keinen Richter? Er muss doch die Wahrheit kennen!“

 

„Vielleicht kennt er die Wahrheit, aber liebt ihren Absolutismus nicht.“

 

„Das ist mir zu hoch. Warum bildet er Leser für das Buch des Lebens aus, wenn er sich nicht eindeutig zur letzten großen Wahrheit des Richters bekennt?“

 

„Das Buch des Lebens wird zur Erinnerung geschrieben, ohne die es keine Geschichten gibt, und zur Bereicherung unserer Ordnungen durch viele mögliche Welten. Deshalb soll er auch ein Pedant sein, der es mit der Ausbildung sehr genau nimmt. Er ist viel penibler als seine Kollegen, weshalb der Unterricht bei ihm sehr anregend sein soll. Schauen, genießen, sich unterhalten lassen vom Weltenspektakel und im Protokoll allein bezeugen, was geschah, ist nicht in seinem Sinn. Er ist anstrengend und verlangt Anstrengung.“

 

„So ändert sich nichts an unserer Tätigkeit!“

 

„Doch, das Ziel! Am Ende werden die Bücher des Lebens aufgeschlagen und die Lebensläufe werden durchsichtig, wie sie denen da unten niemals glaubten zu sein. Wir und sie, die Geschichten lebten, werden lesen, lachen und weinen. Es gibt keine Seligkeit ohne Bücher!“ 

 

„Und der Schrein der Ideen, wenn es ihn überhaupt gibt?“

 

„Du fragst mich, als wär’ ich er! Ich glaube gehört zu haben, dass er gesagt haben soll, in diesem Schrein könne gar nicht verzeichnet sein, was dort unten geschieht. So werde es auch keinen Vergleich zwischen Urbild und Abbild geben und keine Korrektur des Geschehenen. Nicht für das Gericht, sondern zur Erinnerung werden die Namen verzeichnet. Hier oben sei alles im Sein erstarrt, dort unten pulsiere eine Welt im Werden. Hier herrschen Fakten, dort Möglichkeiten.“

 

„So ist er doch ein Rebell!“

 

Auch neben uns wurde eifrig spekuliert. Es hieß, Dr. Seraph trainierte die Beobachtungsgabe seiner Studenten an literarischen Lebensläufen, bevor er sie ins Leben entlasse. Jeder von uns müsse drei Bücher des Lebens über unterschiedliche Erscheinungsformen des homo sapiens schreiben: eines über einen Philosophen der Lebenswelt, worunter ich mir  nichts vorstellen konnte, eins über einen dämonischen Machthaber und das dritte über einen Dichter, der sich als Denker ausgewiesen habe. Das Verfahren diene einer Schule der Nachdenklichkeit und der Einübung in ein uns fremdes Zeitgefühl, das zum Verständnis der menschlichen Verhaltensweise unerläßlich sei. Der Mensch sei nämlich ein Wesen  mit unendlichen Wünschen, dem nur eine endliche Lebenszeit gegeben ist. Daher sei sein Verhältnis zur Welt gespannt, soll Dr. Seraph geschrieben haben. Gespannt sei auch das Verhältnis des Menschen zur obersten Ordnung, denn im Reich der geschlossenen Zeitschere wüßten die wenigsten, was es heißt, ein Mensch zu sein.

 

Seltsames Wesen, der Mensch, dem unsere Aufmerksamkeit gelten sollte! Ihm schien ein Herz gegeben, das von Ruhe nichts weiß, dessen Dichten und Trachten aber an höchster Stelle Aufmerksamkeit gefunden hatte, so dass man uns ins Leben rief, darüber Buch zu führen - zu welchem Zweck auch immer. Und es dämmerte mir: Ohne uns Leser und Schreiber - oder sollte ich sagen Schriftsteller? - gäbe es die oberen und unteren Welten nicht und alles Geschehen wäre nie gewesen. Herrschte nicht äußerst gespannte Neugierde auf den oberen Rängen, als Adam erschien, damit er die Welt benenne und alles beim Namen rufe? Ich spürte die Flamme der Sympathie für den Menschen in mir brennen und ein Verlangen hinabzusteigen erfüllte mich. Ja, ich wollte lesen lernen im Buch des Lebens.

 

Da verstummte das vielstimmige Murmeln und Flüstern. Die Gerüchte verflüchtigten sich. Wir hörten Rauschen - wie von gewaltigen Schwingen. Dr. Seraph erschien.