Der Fall Angelika Senge

markiert eine Wende in der politischen Ausrichtung des Katholizismus

(Auszug aus meiner Biographie über ihren Doktorvater Erwin Iserloh)

 

 


Noch zwei Jahre vor Iserlohs Emeritierung gab es einen Zusammenstoss mit den Münsteraner Marxisten, der durch die Medien bundesweit für Aufsehen sorgte. Iserloh hatte eine Dissertation mit „sehr gut“ benotet, der Zweitgutachter Peter Hünermann mit „gut“. Am Ende nahm der Fachbereichsrat auf seiner Sitzung vom 13. November 1981 die Arbeit mit der Note „ausreichend“ an. Die Dissertation von Iserlohs Assistentin Angelika Senge war zu einem Politikum geworden. Ihr Thema lautete: „Marxismus als atheistische Weltanschauung. Zum Stellenwert des Atheismus im Gefüge marxistischen Denkens“. Die Anfälligkeit für eine Hingabe an den Zeitgeist wird den Theologen nicht zu Unrecht nachgesagt. So entstehen Bücher, deren Titel schon nach wenigen Jahren Befremden oder Schmunzeln wecken, weil nicht nur ihr Inhalt, sondern bereits das Anliegen kaum mehr nachvollziehbar ist. Wie konnte Joseph Lortz im Jahr 1933 den Geist des Nationalsozialismus feiern? Wie konnte er verkünden, dass er „in wichtigen Dingen zu gleichen Zielen strebt wie die Kirche“? Wie konnte er „von dem Katholiken Adolf Hitler“ sprechen und der wissenschaftlichen „Erkenntnis grundlegender Verwandtschaften zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus“? Die Verführbarkeit des Geistes ist ein zentrales Thema der alttestamentlichen Prophetie. Der wahre Prophet schaut dem Volk aufs Maul, aber er redet ihm nicht nach dem Mund. Das gilt besonders für den Umgang mit den Herrschenden. Lortz war eitel. Sein Geltungsdrang machte ihn blind für die Wirklichkeit.

Iserlohs Generation hatte den Krieg erlebt und erlitten. Der Philosoph Hans Blumenberg, der im Münsteraner Schloss seine berühmten Vorlesungen zur „Arbeit am Mythos“ oder zur „Lesbarkeit der Welt“ hielt, hatte die Verfolgung in einem Verschlag unter dem Dach überlebt. Friedrich Ohly, Münsteraner Mediävist und Gründer der mittelalterlichen Bedeutungsforschung, wurde erst Mitte der Fünfziger Jahre aus der stalinistischen Lagerhaft entlassen. Diese Männer erlebten die Zeit der Studentenunruhen, die Sympathie für den Marxismus, den Lobpreis einer Einheit von Christentum und Sozialismus mit großem Befremden. Studenten stürmten und boykottierten die Vorlesungen, wollten über die Inhalte der Seminare mitbestimmen, bei der Besetzung der Lehrstühle oder der Bewertung von Prüfungsleistungen ein Mitspracherecht haben. Als Studenten eine Vorlesung von Hans Blumenberg stürmten, verließ er ohne Kommentar den Saal. „Ich sah in die gleichen Gesichter!“, sagte der Verfolgte des Naziregimes später.

Angelika Senge stand als Mitglied des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) auf der falschen politischen Seite. Der Fachbereichsrat der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster unterwarf die Arbeit einer ideologisch motivierten Zensur und forderte durch die Streichung des letzten Kapitels eine politisch korrekte Druckfassung. Unter der Überschrift „Marxistische Christen und christlicher Atheismus“ hatte sich Angelika Senge mit der Position der „Christen für den Sozialismus“ (CfS) auseinandergesetzt, zu deren Vordenkern Kuno Füssel gehörte. Er war der Assistent von Herbert Vorgrimler (1929-2014). Vorgrimler, seit 1972 Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte in Münster, verriss auf der Sitzung des Fachbereichsrates die Arbeit in einer Weise, die Iserloh an die Verhöre der stalinistischen Schauprozesse und die verbalen Exzesse der Richter des Volksgerichtshofes erinnern musste. Vorgrimler behauptete, die Arbeit bleibe jeglichen Nachweis schuldig, biete keinen Erkenntnisfortschritt, nehme vom Forschungsstand kaum Notiz, argumentiere in einer neuscholastischen Art, um abschließend die Verfasserin persönlich zu diffamieren:

„Es fällt mir schwer, einer Annahme der Arbeit angesichts des offenkundigen intellektuellen und moralischen Unvermögens der Verfasserin zu einer konstruktiven Auseinandersetzung und zu einem wirklichen Erkenntnisfortschritt zuzustimmen. Aber ich versuche, ihre jahrelange Fleißarbeit an den Quellen zu würdigen und stimme darum – zögernd – der Annahme als theologischer Dissertation zu.“

Iserloh hatte in seinem sieben Seiten umfassenden Erstgutachten vom 16. September 1981 mit dem einleitenden Satz die brisante Fragestellung der Dissertation herausgestellt: „Vorliegende Arbeit untersucht die heute vielfach seitens marxistisch optierender Christen aufgestellte These, man könne und müsse den weltanschaulichen Gehalt des Marxismus trennen von seiner Gesellschaftsanalyse; man könne somit marxistische Theoreme übernehmen, ohne zugleich die Weltanschauung des dialektischen Materialismus rezipieren und Atheist werden zu müssen.“ Die Frage zielte auf das Selbstverständnis vieler marxistisch geprägter Richtungen der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiuung“, und das Ergebnis der Untersuchung von Angelika Senge war der überzeugende Nachweis: „Der Atheismus ist zentraler Bestandteil der Marx’schen Lehre.“ Nach der damaligen Promotionsordnung legten die Erst- und Zweitgutachter einer Dissertation mit ihren Gutachten Bewertungsvorschläge vor, die zur Meinungsbildung in den zuständigen Gremien beitragen sollten, jedoch keineswegs bindend waren. Iserloh optierte für „sehr gut“, da die Verfasserin „in dieser Arbeit eine große Fähigkeit, einen vielschichtigen Stoff zu durchdringen und begrifflich zu erfassen und darzustellen“ zeige.

Iserloh hatte bereits Böses geahnt, als er am Freitag des 13. November 1981 im Zimmer des Dekans Peter Hünermann dem erregten Kollegen Vorgrimler begegnete. Der Termin war denkbar ungünstig gewählt worden. Iserloh stand unter Zeitdruck, weil er an diesem Tag noch einer Vortragsverpflichtung in Oldenburg nachkommen musste. Dann hörte er mit Schrecken, dass sich die Kollegen Wilhelm Weber (1925-1983) und Adel Theodor Khoury (*1930) für diese Sitzung entschuldig hatten. Der Dekan versuchte seine Sorgen zu zerstreuen: Es werde keine Probleme geben, schließlich hatte er selbst das Zweitgutachten mit der Note „gut“ geschrieben. Wie sich zeigen sollte, hatte er Vorgrimlers Entschiedenheit unterschätzt. Niemand hatte mit den Kanonaden Vorgrimlers gerechnet. Stumm und starr vor Erstaunen folgte der Fachbereichsrat den verbalen Exzessen und stimmte schließlich mit einer Stimme Mehrheit bei drei Enthaltungen dem Notenvorschlag „ausreichend“ zu. Da hatte Iserloh bereits die Sitzungen verlassen und saß im Zug nach Oldenburg.

Am Samstagmorgen telefonierte er mit Johann Baptist Metz (1928-2019). Der Gründer einer neuen politischen Theologe hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Metz war mit Iserloh durchaus nicht einer Meinung, die Art aber, wie hier mit einem Ordentlichen Professor umgegangen worden war, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Hier waren die Ehre eines Kollegen und des Dekans in einer Weise verletzt, die nicht hingenommen werden konnte. Geduld und Demut gehören zu den zentralen christlichen Tugenden. Die Bergpredigt preist sogar jene, die um des Himmelsreiches willen zu Unrecht verfolgt und gedemütigt werden. Doch gibt es auch einen Casus Confessiones, wo ein mutiges „Nein!“ gesprochen werden muss. So legte Iserloh beim Rektor der Universität Münster, dem Chemiker Werner Müller Warmuth, Widerspruch gegen den Beschluss des Fachbereichsrates ein. Durch verschiedene Gespräch mit dem Dekan Hünermann, so der Rektor, „war hier im Haus bekannt, dass im ersten Durchgang des Promotionsverfahrens von Frau Senge ein Widerspruch gegen die Entscheidung über die Annahme der Dissertation und deren Bewertung zu erwarten war. Ebenso bestand Einigkeit mit dem Dekan, dass einem solchen Widerspruch zumindest wegen der Mängel im Abstimmungsverfahren stattgegeben werden müsste.“

Vielleicht hatte Iserloh auch ein schlechtes Gewissen und gab dem Vorwurf seines Kollegen Bruno Schüller recht, er habe seine Doktorantin ins offene Messer laufen lassen. Schüller war besorgt um das Schicksal weiterer Doktorantinnen und erkundigte sich nach dem Thema von Barbara Hallensleben (*1957). Dass sie über Cajetan arbeitete, beruhigte ihn außerordentlich. Nicht zur Ruhe aber kam Wilhelm Weber (1925-1983), der Direktor des Instituts für christliche Sozialwissenschaften. Iserloh bat dringend um seine Anwesenheit auf der kommenden Sitzung des Fachbereichsrates vom 15. Januar 1981. „Auf dieser Sitzung wird, wie mir der Herr Dekan mitgeteilt hat, die Angelegenheit Senge neu beraten, weil die Entscheidung des früheren Fachbereichsrates aus rechtlichen Gründen ungültig ist; denn die Beschlüsse sind mit mehreren Stimmenthaltungen zustande gekommen, was bei Prüfungsentscheidungen unzulässig ist. Damit ist Gelegenheit gegeben, es zu besseren und gerechteren Beschlüssen kommen zu lassen.“

Wilhelm Weber sah sich „trotz meiner besonderen Wertschätzung von Frau Senge“ nicht in der Lage, an der Sitzung teilzunehmen. „Im übrigen befinde ich mich in einer starken psychischen Blockade gegenüber unseren Gremien, wie sie heute zusammengesetzt sind. In solch sensiblen Situationen, wie sie die Wiederaufnahme des Falles Senge mit sich bringen wird, kann und darf ich mich nicht einlassen. Dies ist ärztlicherseits und nach meinem Allgemeinbefinden stringent geboten.“ Wilhelm Weber hatte zuvor die Dissertation und Iserlohs Gutachten gelesen. Vor der Fachbereichskonferenz hatte er die Arbeit „nunmehr sehr eingehend studiert. Ich finde sie ausgezeichnet und Ihr Gutachten völlig zutreffend.“ Dass er sich dennoch außerstande sah, an der Konferenz teilzunehmen, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Klima in der Katholischen Theologischen Fakultät jener Jahre. Iserloh zeigte Verständnis für die Entscheidung des Kollegen, „vor allem, wo ich selbst merke, wie sehr eine solche Angelegenheit einen aufregt und weit über die betreffende Sitzung hinaus beschäftigt.“

Angelika Senge hatte in ein Wespennest gestochen. Peter Hünermann schrieb nun ein Gegengutachten gegen Vorgrimlers Behauptungen, der Fachbereichsrat tagte ein zweites Mal und setzte die Note auf „befriedigend“ hoch, verlangte aber noch immer die Streichung des sechsten Kapitels. Am 19. und 20. April 1982 fand das Rigorosum statt. Unter dem Beisitz von Barbara Hallensleben prüfte Iserloh das Fach Kirchengeschichte, Peter Hünermann Dogmatik und Adolf Exeler und Norbert Mette Pastoraltheologie. Das Ergebnis war „sehr gut“. Herbert Vorgrimler aber gab keine Ruhe. Iserloh lag schon zehn Jahre auf dem Domherrenfriedhof in unmittelbarer Nähe zu Kardinal von Galen, da polemisierte Vorgrimler noch immer gegen „Angelika Senge, eine besondere Freundin Iserlohs“, bereitete den Fall der „Iserloh-Freundin Angelika Senge“ noch einmal aus und verunglimpfte seinen ehemaligen Kollegen Iserloh:

„Er war ein harter und unfairer Prüfer und daher bei Studenten nicht beliebt. Um sie unter Kontrolle zu haben, fotografierte er seine Hörer: er wollte seine Prüfungskandidaten sieben. Ob er Rahner und Metz das Echo bei den Studenten neidete? Zur Zeit meiner Berufung sprach er wiederholt öffentlich davon, die ‚Rahnerei’ müsse ein Ende haben. Bei Bischof Tenhumberg war er höchst einflussreich. Er huldigte einem alttestamentlichen Spruch, man müsse die Füchse totschlagen, solange sie klein sind und den Weinberg des Herrn noch nicht verwüsten können (Hld 2,15), und so setzte er bei Tenhumberg eine regelrechte Assistentenverfolgung durch. Nach seiner Emeritierung litt er an Altersdemenz. Die Feindschaft war zu Ende. Bei einem Fakultätsausflug nach Kloster Gerleve am 20. Juni 1991 hakte er sich an meinem Arm ein, so vereint gingen wir durch die Felder zur Gaststätte ‚Bakenfelder’. Bischof Lettmann schrieb in der Todesanzeige 1996, er sei, durch die Krankheit geläutert, ‚zunehmend geduldig und freundlich’ geworden. Eine viel sagende Formulierung!“ Auch gegenüber dem früh verstorbenen Kollegen Wilhelm Weber polemisierte Herbert Vorgrimler: „Ohne Kenntnis der Verhältnisse und ohne Notwendigkeit griff er die Befreiungstheologie in Lateinamerika in den Vorlesungen auf das schärfste an; das kam auch in einer öffentlichen Podiumsdiskussion mit mir zum Ausdruck, in der er argumentativ unterlag. Auch er starb an einem Herzinfarkt.“ Zwei Jahre nach dem „Fall Senge“ war auch der Religionspädagoge und Pastoraltheologe Adolf Exeler (1926-1983) einem Herzleiden erlegen. Vorgrimler lebte mit Sigrid Loersch, wie man damals sagte, in „wilder Ehe“. Als er für seine Lebensgefährtin eine feste Anstellung an der Katholisch Theologischen Fakultät durchsetzen wollte, stieß er auf den Widerstand von Adolf Exeler. „Er sagte zu Sigrid, in seiner Stellungnahme gegen sie werde er zum höchsten Gericht gehen. Dieser Wunsch wurde ihm durch einen Herzinfakt erfüllt.“ Peter Hünermann war 1982 einem Ruf nach Freiburg gefolgt. Ihm rief Vorgrimler hinterher: „Hünermann hatte Angst vor Konkurrenz, weil er bei den meisten Studenten nicht ankam.“