Runensteine von Jellinge: 

Wir suchen unsere Wurzeln und finden sie nicht

 

 

„Von Harald Blauzahns Runenstein zum dänischen Pass“

Motto einer Vitrine

 

Geschichte war nie mein Lieblingsfach. Warum interessieren mich in dieser Zeit Fragen nach dem Ursprung - nicht meiner selbst, sondern des Landes, dessen Sprache meine Identität ausmacht? Seit wann gibt es uns? Wer sind wir? Was macht uns zu Deutschen? Weder Undine noch ich wurden jemals von Eltern, Lehrern oder Politiker aufgefordert, die Nationalhymne zu singen. „Einigkeit, Recht und Freiheit“ und „Auferstanden aus Ruinen“: der Text von Johannes R. Becher gefällt vielen Deutschen besser. Ich stelle diese Fragen ganz leise, nur mir selbst und greife zum ersten Band der „Propyläen Geschichte Deutschlands“. Hier schreibt Johannes Fried über den „Weg in die Geschichte bis 1024“. Er muss es wissen. Aber er weiß es nicht oder will es nicht wissen. 

 

Warum hat es Dänemark leichter? Die dänische Monarchie kennt ihren Geburtsort und feiert ihn mit freiem Eintritt in das Museum der Könige von Jellinge. In dem kleinen Ort an der Ostküste Jütlands befindet sich Dänemarks Geburts- und Taufurkunde in zwei Runensteine geritzt. Dergleichen Ursprungsort haben wir in Deutschland nicht und die meisten Bewohner des Landes wollen ihn wohl auch nicht haben. Dänische Schulklassen fahren nach Jellinge, deutsche Schüler werden von ihren Klassen- oder Kurslehrern nach Bergen-Belsen oder zum Holocaust-Memorial nach Berlin transportiert. Auch dort liegen Ursprungsorte. Dänische Kinder lieben ihre Volkslieder und singen sie auch in der Familie gerne, deutsche Kinder stehen sprachlos vor dem Erbe. 

 

 

 

Undine und ich wollen erleben, was einen dänischen Ursprungsort ausmacht. Deshalb fahren wir nach Jellinge und nehmen Quartier im Hotel Haraldskær. Es liegt wenige Kilometer von Vejle entfernt in einem Feuchtgebiet. Ein Flüsschen mäandert durch die Auenlandschaft. Auf der Straße hüpften junge Frösche um ihr Leben. In dieser Gegend entdeckten Arbeiter im Jahr 1835 beim Ausheben eines Grabens die Frau von Haraldskær, eine recht gut konservierte Moorleiche. Sie ist in Vejles neuem Kulturmuseum ausgestellt. Ich mag keine Moorleichen. 

 

Die nationale Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts freute sich über die Entdeckung dieser Botin aus grauer Vorzeit. Der König spendierte sogar einen Eichensarg. Wir haben auch nicht den Tollund-Mann, die Moorleiche im Museum von Silkeborg, besucht. Sie ist berühmt. Der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney hat zwei mittelmäßige Gedichte auf den Tollund-Mann geschrieben, obwohl er ihn nie gesehen hat und den Fund nach Aarhus verlegt. Nun gut.

 

Forscher wollen in der Frau von Haraldskær Gunnhild, die Frau von Erich Blutaxt, erkannt haben. Nach dem Befehl von König Harald Blauzahn soll sie ermordet und im Moor vor Haraldskær versenkt worden sein. Über die Motivation zu dieser Bluttat schweigt die Geschichte. Gründe zu Mord und Todschlag fanden sich bei den Wikingern immer. 

 

 

Hier also, wenige Kilometer abseits der E 45 nach Skagen, wo Nordsee und Ostsee einander fließen, soll Dänemark geboren und getauft worden sein. Im Nebel der Vorgeschichte erschien der Name „Dänemark“ in Runen geritzt auf einem großen Feldstein, so groß, so schwer, wie ihn nur Riesen bewegt haben können. Davon ist der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus überzeugt: 

 

„Dass das dänische Land dereinst von Riesen bewohnt war, bezeugen die großen Steine, welche auf den Gräbern und Grotten der Alten befestigt sind.“ 

 

Früher waren Riesen recht dumm. Deshalb wurden sie von den Göttern des Nordens ausgetrickst. Erst ließen die Asen von ihnen die Götterburg Asgard bauen, dann wurden die Giganten der Vorzeit um ihren Lohn geprellt. Dadurch sind Riesen schlauer geworden. Als Basketballspieler können sie heute in den USA sehr viel Geld verdienen und ein Vermögen anhäufen. 

 

Nicht nur der Norden kennt Riesen. Sie lebten einst wie Rübezahl im Riesengebirge, wovon Sagen und Märchen Zeugnis ablegen, und im Vorderen Orient. Riesen, so wird in der Bibel erzählt, entstammen einer himmlischen Grenzüberschreitung. Ihre Väter sind die gefallenen Engel, ihre Mütter die schönsten der Menschentöchter.

 

Der Wikingerkönig Gorm war weder ein Riese, noch ein gefallener Engel, aber er hatte riesige geistige Kräfte und einen Plan. In Jellinge ließ er eine Siedlung errichten und zwei große Grabhügel aufschichten. Zwischen ihnen steht der Runenstein mit dem Namen Dänemarks. Um das Jahr 950 soll er gesetzt worden sein. 

 

Runen zu ritzen oder aus dem Stein zu meißeln kostet viel Zeit und Mühe. Deshalb sind die Inschriften kurz und manchmal kryptisch wie SMS-Botschaften. Gorms Runenstein steht hinter dickem Panzerglas auf dem Friedhof von Jellinge. Wahrscheinlich entspricht diese Sicherungsmaßnahme einer Vorschrift der UNESCO für die Bewahrung des kulturellen Welterbes. 

 

 

Mit dänischen Schulkindern und zwei holländischen Wikingern stehen wir vor dem Panzerglas. Hans und Henrijke verbringen ihren Sommerurlaub im Ribe Vikinge Center. Sie näht Frauenkleider aus selbst gewebten Stoffen nach Wikingerart, er kämpft während der Woche mit dem kurzen Wikingerschwert. Wenn sie keine Ferien haben, arbeiten beide als Hausmeister und Ergotherapeutin an einer Schule für junge Menschen mit hohem Förderbedarf in Enschede. Hans ist ein drahtiger Bursche mit tätowierten Armen und einigen Runen am Hals. In seinem selbst gefertigten Ledergürtel stecken ein Messer und eine kleine Doppelaxt. Die trägt er in der Schule nicht. Aber alle Schüler wissen natürlich, dass ihr Hausmeister ein Wikinger ist. Die dänischen Schüler nehmen von den holländischen Wikingern keine Notiz. Sie hören konzentriert den Ausführungen ihrer Lehrerin zu. Jellinge ist für sie Heimatkunde.

 

Das Lesen von Runen ist immer ein kleines Ratespiel. Undine und ich haben uns nie mit Runen beschäftigt und selbst wenn wir Ritzungen entziffern könnten, es würde uns nichts nützen. Der Zahn der Zeit hat Gorms Liebeserklärung für die englische Königstochter Thyra unlesbar gemacht. Aber jeder Besucher von Jellinge weiß natürlich, was auf dem Stein steht, und weiß er es nicht, kann er auf der Schautafel lesen:

 

„König Gorm errichtete dieses Denkmal für Thyra, 

seine Frau, die Zierde Dänemarks.“

 

„Danmarks bod“ wird Thyra genannt, „Dänemarks Schönheit“ oder „Dänemarks Schmuck“. Weil auf Gorms Runenstein zum ersten Mal der Name Dänemarks erscheint, wird dieser kleine Jelling-Stein auch als Geburtsurkunde des dänischen Volkes bezeichnet.  Welche Tugenden König Gorm an seiner Frau besonders mochte, wissen wir nicht. Die „Zierde Dänemarks“ zierte sich nicht, die Eroberungspolitik ihres Mannes eifrig zu unterstützen. Der Grenzwall zwischen Dänemark und dem Norden Deutschlands, das Danewerk, ist der Legende nach auf ihre Anregung hin errichtet worden. So ganz stimmt das nicht. Bereits im Jahr 808 wird das Danewerk erstmals erwähnt. 500 Jahre lang wurde daran gebaut, bis der Wall die dreißig Kilometer zwischen Schlei und Treene vor Eindringlingen aus dem Süden schützte. König Waldemar der Große ließ sogar ein Wallstück aus roten Ziegeln setzen. Diese Waldemarsmauer steht noch heute, während die aus Holz errichtete Thyraburg vermodert ist.

 

Gorm war noch kein christlicher König über Dänemark. So legte er den Dom von Schleswig in Schutt und Asche. Wo er nur konnte, begann er die Missionare „ohne Gnade auszutilgen“ wie Saxo Grammaticus schreibt.

 

 

In der Königshalle von Jellinge und besonders im Brautgemach bestimmte Thyra die Gebräuche. Nach der Vermählung der Tochter des englischen Königs Hedelradus (Edelrad) mit Gorm verweigert sie sich drei Nächte dem Vollzug der Ehe. Brautnachtabstinenz oder Tobiasnächte wird dieses Ritual der Keuschheit in der katholischen Kirche genannt. War Thyra bereits Christin, und wollte sie den alten Wikinger auf diese Weise bekehren? Gorm wehrt sich nicht gegen das trinoctium castitatis und legt als Zeichen seiner Einwilligung in die zeitweilige Askese sein Schwert zwischen sich und die Königin von Dänemark. 

 

Selbstbewusste Frauen wie Königin Margrethe (Hendes Majestæt Dronning Margrethe) lieben die Dänen noch immer. Fragt man eine Dänin nach dem Grund, so verweist sie auf die Königin und Künstlerin, die zuweilen morgens mit Nachthemd und Zigarette am Fenster ihres Palastes erscheint oder sich am Abend unter das Volk im Tivoli mischt. Margrethe weihte im Jahr 2013 das Museum der Wikingerkönige von Jellinge ein. Im Verkaufsladen von „Kongernes Jelling“ finden wir ihr Bild als vorerst letztes Glied in einer langen Reihe von Königen, an deren Beginn Gorm steht. Für Dänen ist der Besuch von Jellinge daher eine Art Initiation.

 

 

Ein zweiter, grösserer Stein wurde von Gorms Sohn Harald Blåtand aufgestellt. Wie viele blaue Zähne Harald Blauzahn im Mund hatte, weiß niemand. War es einer? Waren es mehrere? Warum waren sie blau? Aß Harald gerne Blaubeeren? Alle Dänen sind vernarrt in Waldfrüchte, essen sie direkt vom Strauch oder verarbeiten sie zu Blaubeermarmelade und verkaufen sie auf einem der zahlreichen Herbstmärkten im Lande. Also, Blaubeeren können es nicht gewesen sein, die Harald den Beinamen brachten. Das wäre kein Alleinstellungsmerkmal. Ich kann mir bei einem Recken wie Harald auch nicht vorstellen, dass er schwarzblaue Zähne der Fäulnis in seinem Gebiss geduldet hätte. Ein eigenhändiger Griff mit der Zange hätte sie entfernt. Haralds blaue Zähne dürften gewiss nicht das größte Rätsel in der dänischen Vorgeschichte sein.

 

Harald und seine Sippe waren Netzwerker. Bald vereinten sie weite Teile Skandinaviens und Englands zur Großmacht Dänemark. Ihre Kompetenz muss wohl den schwedischen Ericsson Konzern dazu inspiriert haben, neu entwickelte Standards für Datenübertragung den Namen „Bluetooth“ zu geben. Das Logo der Firma setzt sich aus den Anfangsbuchstaben H (Rune Hagalaz) und B (Rune Berkano) zusammen. Diese Information kann man überall im Netz lesen. Irgendwie leuchtet sie mir nicht ein. Können Seeräuber für Menschen im technologischen Zeitalter eine Vorbildfunktion haben? Vielleicht für Piraten vor der Küste des Jemen oder für Schleuserbanden im Mittelmeer. Harald und die Seinen fackelten nicht lange, wenn sie über die Meere fuhren und ganze Städte in Schutt und Asche legten. Weiss man bei Ericsson nicht mehr, was Wikinger waren? Will man es nicht wissen?

 

Für die Wikinger war das Leben ein Abenteuer. Mit ihren wendigen Booten nahmen sie die Wellen wie ein geübter Skater die Quarter- oder Halfpipe. Siedlungen wie Jellinge bildeten einen Ruheplatz, an dem Kraft für neue Raubzüge gesammelt wurde. Die Fahrten der Wikinger waren für die jungen Männer eine soziale Initiation in ein heroisches Lebensgefühl wie es Ernst Jünger nach dem Vorbild der isländischen Sagas in seinen Kriegstagebüchern „In Stahlgewittern“ für das 20. Jahrhundert beschreibt.

 

Die hohe Zeit dieser Handelsfahrten und Plünderzüge lag zwischen 800 und 1050.  Im nordischen Quellenmaterial bezeichnet der „vikingr“ einen Piraten und die „viking“ einen Plünderungszug. Die Wikinger fuhren mit ihren Schiffen in die großen Flüsse Europas, erreichten Kiew und Konstantinopel, plünderten Klöster wie Lindisfarne, gründeten Städte wie York. Waräger wurden sie genannt oder Rus in slawischen Quellen. 1013 eroberte Sven Gabelbart England und wurde als englischer König anerkannt. Sein Sohn Knut der Große wurde als mächtigster Herrscher in der Geschichte Skandinaviens König von England, Dänemark, Norwegen und den südlichen Teil Schwedens. Die Schlacht von Hastings (1066) markiert das Ende der Wikingerzeit in England.

 

Haralds Runenstein wird als Taufurkunde Dänemarks („Danmarks dåbsattest“) bezeichnet. Denn hier wird erstmals die Christianisierung Dänemarks erwähnt:

 

„König Harald befahl, diesen Stein zu errichten zum Gedenken an Gorm, seinen Vater, und an Thyra, seine Mutter. Der Harald, der sich ganz Dänemark und Norwegen unterwarf und die Dänen zu Christen machte.“

 

Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen in früheren Zeiten, vollzog sich die Christianisierung Dänemarks zwischen 970 und 1030. Mit Harald trat seine Leibgarde zum Christentum über, nachdem der Missionar Poppo eine Mutprobe bestanden hatte. Das sogenannte Poppowunder erzählt von einem glühenden Eisen, das Poppo ohne sich zu verbrennen in die Hand nahm. Das war Beweis genug, dass die alten Sippenverbände keinen Fehler begingen, wenn sie das heiße Eisen des neuen Königtums unter Harald anfassen und ihre alten Sippenverbände weitgehend zugunsten der Monarchie aufgaben. 

 

Poppo war nicht der erste Missionar in Dänemark. Im Jahr 823 begann der spätere Bischof von Hildesheim, Ebo von Reims, mit den ersten Missionsversuchen. Harald „Klak“ Hafdanssons Übertritt zum Christentum blieb ohne Folgen für die Menschen im noch nicht geeinten Dänemark. Ansgar von Bremen folgte Ebo als Missionar des Nordens. Erst mit der Taufe Harald Blauzahns entwickelte sich in Dänemark ein Staatschristentum. Es überdauerte die Reformation. Noch heute werden Bischöfe von der Königin ernannt und noch immer muss die Königin Mitglied der seit der Reformation evangelischen Staatskirche sein. Die beiden Steine von Jellinge symbolisieren die ungebrochene Einheit von Kirche und Staat. In ihr lebt die Idee des Reichschristentums fort. Sie findet auch Ausdruck in einem Pastorenstand, dessen Sold weitgehend vom Staat getragen wird.

 

Auf einer Seite des Steines befindet sich eine Christusdarstellung. Der Sohn Gottes bildet mit den ausgebreiteten Armen ein Kreuz. Sein Leib ist umgeben von dem unendlichen Band des Lebens, einem kunstvollen geflochtenem Ornament, das an irische Buchmalereien erinnert. Weil auch dieses Bild nur mit viel Phantasie zu erkennen ist, steht eine Replik des Haraldsteines vor dem Eingang des Museums. Der Steinmetz Erik Sandquist soll sie mit sechs Millionen Schlägen erstellt und anschließend farbig ausgestaltet haben. Im Museum gibt es eine virtuelle Darstellung des großen Jellinge-Steins, die über ein Display in alle Richtungen bewegt und gedreht werden kann. Dabei entstehen Geräusche, als ob ein echter Feldstein über den Fels gezogen würde.

 

 

Das National-Museum von „Kongernes Jelling“ hat zwei Eingänge. Den einen  sichert Gorm, den anderen sein Sohn Harald. Beide führen ins Foyer und vor den reich ausgestatteten Museumsladen. Hier gibt es Stofftiere für die kleinsten Wikinger: den Fenriswolf oder das Eichhörnchen Ratatosk. Unter den Büchern befindet sich eine Taschenbuchausgabe des dänischen Grundgesetzes („Kend din grundlov“). Große und kleine Wikinger finden hier Kurzschwerter, Streitäxte, Schilde und Bogen, Bier und Broschen, Anleitung zum Flechten der Haare („Vikingeflet“) und Rezepte zum Backen von Brot - eben alles, was die Familie braucht, um daheim oder in einem Wikingercamp alte Lebensformen und Identitäten zu erproben. Das größte Festival dieser Art findet jedes Jahr am letzten Wochenende im Juli in Moesgaard statt.

 

 

Wikinger sind für einige Dänen mehr als nur eine Touristenattraktion. Sie sind Ausdruck einer nationalen Identität. Man gibt den Kindern wieder die alten Namen, übt sich im Handwerk des frühen Mittelalters und liest die alten Sagen, die Saxo Grammaticus aufgezeichnet hat. „Hagbard und Signe“, die tragische Geschichte  einer Liebe von jungen Menschen aus verfeindeten Sippen, ist noch immer beliebt wie der verbreitete Vorname Signe beweist. Nicht nur junge Freizeit-Wikinger kennen die Verfilmung dieser nordischen Romeo-und-Juli-Tragödie aus dem Jahr 1967. Gitte Hænning spielt die junge Signe. Vier Jahre zuvor war die dänische Sängerin durch ihren Hit „Ich will ‘nen Cowboy als Mann, denn ich weiß, dass so ein Cowboy küssen kann“ in Deutschland bekannt geworden. Ums Küssen geht es auch in der Geschichte von Hagbard und Signe. Da wird nämlich nach Meinung des christlichen Berichterstatters zu wenig geküsst. In der Wikingerzeit gab es offenbar noch keine genderspezifischen Rollenmuster. Die  Wikingerinnen griffen wie Männer nach dem Schwert anstatt mit den Waffen der Frau zu kämpfen, berichtet Saxo Grammaticus: Frauen in Waffen „kannten nur Strenge, keine Liebkosungen, drohten mit Schuss statt mit Kuss, dachten auf blutrünstige Beulen und nicht auf brünstige Mäulchen, kümmerten sich mehr um Hiebe als um die Liebe.“

  

 

„Velkommen“ steht auf dem ersten blaugrauen Begrüßungsbanner. König Gorm sitzt mit eingezogenen Schultern auf seinem Thron. Sein gedrungenes Erscheinungsbild erinnert mich an den Schrat aus dem Mecki-Comik, der jede Woche auf der letzten Seite der Fernsehzeitschrift „Hör Zu“ zu lesen war. Schrate sind Einzelgänger und unfähig zur Bildung eines Volkes. Gorm aber war wie die Ottonen beseelt von der Idee der Reichsbildung. Mit der linken Hand auf dem Knie stützt er seinen mächtigen Körper, die rechte reicht er den Besuchern. Jeder ist willkommen, aber jeder wird auch durch den eindringlichen Blick des Königs geprüft, ob er in friedlicher Absicht seine Halle betritt. 

 

Wie bereits angemerkt: Der Eintritt zu dieser nationalen Gedenkstätte ist frei. Das ist nicht selbstverständlich in diesem Land, hat aber seinen Grund: Alle Dänen gehören irgendwie zur Familie der Jellinge Könige, dem ältesten Königtum der Welt („Verdens ældste kongerige“). Aber einige zählen zu den Erwählten von König Gorms Familie. Auf einem großen Photo sind heute lebende Namensträger der Sippe Gorms zu sehen. Im Mai 2017 kamen sie mit ihren Geburtsurkunden und Stammbäumen zu einem Gorm-Familienfest zusammen. Einige von ihnen haben ihren Fingerabdruck mit roter Tinte auf dem Poster hinterlassen: König Gorms großes Familientreffen („Kong Gorms Store Familietræf“). Wir Niedersachen fühlen uns von ihnen angezogen. Denn Sachsen wurde einst in einer Zeit des großen Klimawandels von Jütland aus besiedelt. Den Völkern aus der Vorzeit wurde es einfach zu kalt. So kamen sie in norddeutsche Regionen. 

 

 

Den Eingang gegenüber dem Friedhof mit den beiden Steinen bewacht Harald. Ein junger Krieger mit Helm, die Linke greift an den Gürtel, die Rechte öffnet sich dem Besucher, aber weniger einladend als leicht drohend.   

 

Im Erdgeschoß des Museums von Jellinge befindet sich Gorms Herrscherthron („Kongens Plads“) mit seinen drei stilisierten Drachenköpfen als Rückenlehne. Undine lässt es sich nicht nehmen, hier für einen Augenblick zu verweilen. In dem nächsten Raum setzen weiße Zeichnungen auf schwarzem Hintergrund die Herrschaft der Wikinger über Land und Meer ins Bild. Wer will, kann interaktiv an ihren Kämpfen teilnehmen. Ich möchte es nicht. An einem Bildnis der stolzen Thrya mit ihren beiden Wolfshunden taste ich mich vorbei an schwach beleuchteten Vitrinen durch das Halbdunkel ins Licht des Weltuntergangs: „Komm’ mit auf die Reise nach Walhall!“ („Rejs Med Til Valhal“)

 

 

Eine apokalyptische Inszenierung, ein Gang in die Flammen, wir hier als Teilhabe am Erbe der Väter und Mütter angeboten. Wer nach Walhall möchte, der darf den Tod nicht scheuen. Besser er sucht ihn auf dem Schlachtfeld.  Wotans gefallene Krieger kommen in die große Halle von Walhall. Ich schreite auf einer virtuellen Feuerbahn. Jeder Schritt taucht mich tiefer in eine Glut, deren Hitze ich nicht spüre und deren Flammen mich nicht verbrennen. Am Ende der Feuerbahn erlischt mein Bild in der Spiegelwand. Undine hat mich wider. Ich trete für andere Besucher zur Seite. Denn viele wollen für einen Augenblick ins Feuer, das nicht brennt, getaucht werden.

 

 

 

Alle Gänge nach Walhall sind nur Vorspiel des großen Weltunterganges. Für den Nordmann ist er im Plan der Welt enthalten, unausweichlich und unabwendbar: Ragnarök - das Ende der Götter. Bis zum Jahr 2100 soll der Meeresspiegel um ein bis zwei Meter gestiegen sein, auch wenn die Klimaziele von Paris eingehalten werden. Dänemark ist ein flaches Land. Wie lange wird es noch Dänemark geben? Die Dänen gehen auch mit dieser Frage recht entspannt um. Wenn die alte Welt in ihren Festen wankt und überkommene Ordnungsstrukturen fallen, dann herrscht Wolfszeit. Es beginnt mit dem Klimawandel, Rauch und Feuer in Wald und Heide. Der steigende Meeresspiegel bildet für ein Volk von Seefahrern keinen Schrecken. Zunächst werden größere und noch schnellere Schiffe gebaut. Dänen beherrschen diese Kunst der Winkinger bis auf den heutigen Tag wie die Reederei Mærsk durch den Bau neuer Schiffstypen beweist. Doch wenn die Sterne vom Himmel fallen, die Sonne erlischt und das ganze Land im Meer versinkt, dann herrscht Götter- und Menschendämmerung. Völuspa heisst die Seherin, die diese nordische Apokalypse geschaut hat. 

 

Der Ragnarök gehört zum Lebensgefühl der Wikinger. Die Welt ist dem Untergang geweiht. Aber Untergangsstimmung oder gar Panik wird mit dem Fenriswolf als Kuscheltier unter dem Arm in keiner Kinderseele aufkommen. Weil keine UNO-Klimakonferenz den Ragnarök durch noch so scharfe Verordnungen aufhalten kann, besteht kein Grund zur Klage über den kommenden Lauf der Dinge. 

 

Wie lebt der Wikinger mit dem Weltuntergang? Die Antwort gibt uns ein Wegweiser draußen vor dem Museum. Er steht zwischen dem Friedhof und einer Bude, in der hübsche Däninnen heiße Waffeln mit Eis anbieten.  Skatepark Ragnarök - 300 Meter lesen wir.

 

 

 

Walhall ist wie der Tod in der alten Welt nur ein Übergang. Wenn Wolfszeit kommt, dann bricht alles auseinander, auch die Regenbogenbrücke Bifröst, die Erde und Himmel, Menschen- und Götterwelt verbindet wie die kleinen Brücken in den Zen-Gärten Japans das Heilige mit dem Profanen. Noch trägt sie uns beim Aufstieg in den ersten Stock und auch Bifrost, das sichere Laptop für Kinder, leistet noch gute Dienste in der Abwehr des Bösen. Gegen den Ragnarök gibt es Sicherungssysteme. Wie lange sie halten, weiß niemand. Die Wände leuchten in den Farben des Regenbogens. Wir steigen empor und gelangen ins Reich der Seherin Völva. 

 

 

 

Ohnmächtig stehen selbst Götter vor den destruktiven Kräften in der Welt. Alle Grenzen, die einst respektiert wurden und Sicherheit vor fremden Einflüssen gaben, werden jetzt überschritten. Verträge werden gebrochen, Versprechen nicht mehr gehalten. Die Sommer werden immer heißer, die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten verfließen. Ein Welt im Umbruch, eine untergehende Welt - Ragnarök. 

 

So ganz vergeht nichts, was einst gewesen ist. Es geht vielmehr auf in etwas Neuem. Wir begegnen dem Missionar Poppo und Harald. Dann stehen wir vor einem winzigen Schaukasten. In ihm liegt ein dänischer Pass mit der Wiedergabe des Christusbildes von Jellinge. Haralds Runenstein im Westentaschenformat! Seit 1995 schmückt er den Dänischen Pass.

 

Wir steigen auf das Flachdach des Museums und haben den totalen Überblick. Eine Glasumrandung sichert den Ort und währt zugleich einen herrlichen Durchblick in die Weite einer Schiffssetzung von 1,6 Kilometern Länge. Unter uns liegt die kleine weiß gestrichene Kirche inmitten des Friedhofes. Neben dem Eingang des Gotteshauses stehen die Jellinge-Steine. Rechts und links des Gottesackers die beiden künstlich aufgeschütteten Grabhügel. Pfähle deuten den Umriss der einstigen Befestigung der alten Siedlung in Form eines Schiffes an. Das Dorf als Schiff, die Bewohner - eine Mannschaft. In der Mitte das Christusbild. Der Sohn Gottes als Wikingerheld, sein Kreuz ist der Mastbaum und das Segel. Christus ist der Blotman, der heilige, der göttlich starke Held. „bloten“ bedeutet „geben“. Der Geblotete trägt eine Art geistlicher Rüstung. Er ist gottgesegnet und gottbegnadet. 

 

 

Im Garten des Hotels Haraldskærs sitzend, nehme ich mir meine Urlaubslektüre vor. Theodor Fontanes deutsch-dänischen Ehebruchsroman „Unwiederbringlich“. Als Kriegsberichterstatter im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 war Theodor Fontane mit der Landesgeschichte vertraut. Im September reiste auf den Spuren Kaiser Otto I. in den Norden Jütlands. Unter Otto I. wurden die Bistümer Schleswig (Haithabu), Ripen (Ribe) und Aarhus gegründet. Bis an den Limfjord hatte der deutsche Kaiser seinen Herrschaftsanspruch über Dänemark bekundet, indem er seinen Speer in das Wasser warf und von Harald Blauzahn Tribut einforderte. 

 

Fontane übernachtete im Limfjord-Hotel, schlürfte Aalsuppe und notierte in seinen „Reisebriefen aus Jütland“: „Aalsuppe - nie wieder!“ Dann reiste er weiter über den Limfjord nach Mørs, besichtigte den Neubau des Domes von Viborg, stieß in Aarhus auf preußische Besatzungstruppen, besuchte die Schlachtfelder von Dippel und reiste über Fredericia weiter nach Roskilde. „Roskilde ist nichts, aber seine Domkirche ist alles“, schreibt er über diese Grablege mit ihren „hundert Särgen und in den hundert Särgen die Geschichte des Landes Dänemark“, darunter die Grablege von Saxo Grammaticus’, „die eigentlichste Nordlandquelle, die für uns fließt.“ Die Inschrift auf seinem Grab lautet:

 

„Er, der lebend andere ewig lebend machte,

Saxo Grammaticus ruht im Tode hier.“

 

In Kopenhagen besucht Fontane das Museum für nordische Altertümer (Nationalmuseum). Hier sind auch jene Fundstücke aus dem Besitz von Thrya Danebod ausgestellt, die in den 1821 geöffneten Grabhügeln von Jellinge gefunden wurden und das Nationalgefühl entflammten. Unter dem Königtum Friedrich VII., so schreibt Theodor Fontane, wurden „die Gebildeten zu wahren Dachsgräbern“. Einige Fundstücke aus Jellinge gingen an das Schloss Frederiksborg. In seiner Ehebruchsgeschichte „Unwiederbringlich" (1887-1891) erwähnt Fontane als Exponate einen Elfenbeinkamm von Thyra, ein Haarbüschel von Gorm und einen eigentümlich geformten Backenzahn, der Harald Blauzahn zugeschrieben wurde, aber vielleicht einem Eber gehörte. Fontane kannte sich also in der dänischen Geschichte aus, als er in seinen Balladen für deutsche Leser das Leben der frühen dänischen Könige beschwor. Unter Fontanes Balladen gehören „Gorm Grymme“ (1864), „Swend Gabelbart“ (1888/89) und „Waldemar Atterdag“ (1888) zu den bekanntesten.

 

„Gorm Grymme“ erzählt die von Saxo Grammaticus berichtetet Geschichte vom Tod des geliebten Sohnes mit einer Änderung des Namens. Fontane lässt Harald Blauzahn und nicht Knut sterben. Der alte und inzwischen erblindete König Gorm hatte einst geschworen, denjenigen zu töten, der ihm den Tod eines seiner Söhne zuerst verkündige. Thyra weiß einen Weg aus der vertrackten Lage. Sie zieht ohne ein Wort zu verlieren ihrem Mann das königliche Gewand aus  und legt ihm schlechte Kleider an. „Kündest du mir Knuts Todesgeschick?“, fragt daraufhin Gorm. Ihre Antwort lautet: „Das offenbart dein vorahnendes Wort zuerst, nicht unseres.“ Gorm stirbt auf der Stelle.

 

Haralds Sohn Sven Gabelbart stürzte seinen Vater vom Thron, warf die Missionare aus dem Land und führte die alten Götter wieder ein. So ganz sind sie bis auf den heutigen Tag nicht aus dem dänischen Alltag verschwunden wie die Bezeichnung der Wochentage zeigt: tirsdag (Tyr), onsdag (Odin), torsdag (Tor) und fredag (Freja). Sprache ist konservativ. Auch in unserer deutschen Sprache haben sich germanische Götternamen in der Bezeichnung der Wochentage Dienstag, Donnerstag und Freitag erhalten. 

 

Die Ballade „Swend Gabelbart“ erzählt von einem Feldzug gegen England. Swend  erobert London und zieht durch Essex und Norfolk nach Suffolk. Volltrunken reiten er und seine Mannen während des Chorgebetes der Mönche in die Sankt Edmunds-Abtei. Die Pferde wiehern, die Männer gröhlen, der Gesang verstummt. Spottend tritt der dänische König vor eine Statue des Heiligen Edmund und fordert ein Gottesurteil heraus. Womit der Frevler nicht gerechnet hat, geschieht: Ein Pygmalionwunder - die Statue wird lebendig. Edmund ermordet den Gotteslästerer. Die Mönche stimmen wieder ein in ihren Gesang und tragen die Leiche aus der Kirche. 

 

Der Sprung zu „Waldemar Atterdag“ zeigt ein anderes Herrscherbild. Die rauen männlichen Töne, der Grobschlächtige und Großspurige sind verschwunden. Fontanes Waldemar ist ein Vorbild an Geduld und Gelassenheit. Er bringt in das Drama der frühen dänischen Könige ein retardierendes Moment: Wenn andere zur raschen Entscheidung und schnellem Handeln drängen, vertagt der weise Waldemar jede Entscheidung auf den anderen Tag  - „Atterdag“. Die schöne Ballade ist ein Alterswerk von Theodor Fontane und spiegelt mehr sein eigenes Temperament als den Charakter des Königs und Kreuzfahrers Waldemar IV. (1321-1375), unter dem die alte Reichseinheit mit Geschick und Gewalt wieder hergestellt wurde. Nie galt für ihn, was doch als Altersweisheit Gültigkeit besitzt:

 

„Nun führt er die Herrschaft mit kluger Hand

Über Dänemark-Meer und Dänemark-Land,

Nie fasst ihn Jähzorn, nie treibt ihn Eil,

‚Erst wägen, dann wagen.‘ ‚Eile mit Weil.‘

Und ob es zur Tat ihn auch drängen mag.

Auf den andern Tag schiebt er’s: ‚Atterdag.‘“

 

 

Von Haraldskær fahren wir zurück an die Westküste. Gerne möchten wir einmal einen original dänischen Pass sehen. Erik, unser Vermieter, kann sich nicht erinnern, dass der Jellinge-Steine in seinem Pass nachgedruckt worden ist. Ein Kreuz im Pass? Der Taufstein Dänemarks? Nein, nein. Wir haben aber einen dänischen Pass in Jellinge gesehen. Gut, Erik war noch nie in Jellinge. Aber Legoland hat er mit seinen Kindern schon mehrfach besucht. Er wird nachdenklich: Vielleicht habe man den Kreuz-Stein in den Pass gesetzt, weil die Linien ihn fälschungssicherer machen? In jedem Fall werde er bei Gelegenheit einmal in seinen Pass schauen, versichert er uns.

 

Ich greife noch einmal zu Johannes Fried und seiner Darstellung der frühen deutschen Geschichte. Woher kommen wir? „Hervorgegangen aus einem Prozeß der Verschmelzung einander feindlicher, barbarischer Nationen.“ Woher kommt der Name „Deutschland“? „Von außen aufgedrängt, Erinnerung an das einzig Vertraute in einem Meer von Fremden.“