Über die Frage, wie ernst es Hans Blumenberg mit der katholischen Theologie war,

ist ein Kulturkampf ausgebrochen.

Ihn kommentiert Blumenbergs letzter Assistent Heinrich Niehues-Pröpsting

in seinen Adnoten zu Rüdiger Zill und Sybille Lewitscharoff:

 

https://www.merkur-zeitschrift.de/author/heinrich-niehues-proebsting/

 

https://www.nzz.ch/feuilleton/der-meister-und-seine-naechsten-hans-blumenberg-als-romanfigur-ld.1608519

 

 

 

Grabstein aus dem Totenkeller des Gymnasiums Josephinum/Hildesheim,

das auch Blumenbergs Vater besuchte

 

*

 

Ein schönes Zeugnis über Blumenbergs Zeit im Priesterseminar

hat sein Freund Walter Kropp (1919-2019) überliefert.

Sein Nachruf erschien zuerst in der Studierendenzeitschrift „Upwärts“

(Sommersemester 1997. S. 5-8)

der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.

„Upwärts“ ist ein Wortspiel.

„up“ darf im Sinne von „auf“ wie „ab“ gedeutet werden.

Die Studierenden nannten ihre Zeitschrift gerne „Abwärts“,

wie mir Frau Professor Sandra Huebenthal (Universität Passau) erläuterte.

 

 

*

 

 

Walter Kropp übergab mir seinen Briefwechsel mit Hans Blumenberg.

In einem Begleitbrief vom 29. Januar 2014 schrieb er:

 

 

„Der kurze Briefwechsel während des Krieges ist mir leider auf dem Rückzug aus Frankreich verloren gegangen.

Zur Primiz 1949 schickte mir Hans eine

Kunstmappe der Sixtinischen Kapelle mit ihren großartigen Fresken.

Widmung „dem guten Freud“.

Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zum Nicht-Vergessen geleistet zu haben,

und bleibe Ihr ergebener

Walter Kropp - einer seiner ersten Zuhörer!“

 

 *

 

 

„Arrivederci, Hans!“
Ein Nachruf von Pfarrer Walter Kropp

 

Hans Blumenberg (1920-1996) zum Gedenken. „Laß wieder von Dir hören“, schrieb er mir in einem der letzten gewechselten Briefe. Ich tue es hiermit - zum Abschied. Beide sind wir inzwischen „i.R.“, das heißt doch wohl in Ruhestand oder in Ruf- und Reichweite.

 

Was für ein Glücksfall, Hans Blumenberg zu treffen und mit ihm zu sprechen und auf ihn zu hören! Im Wintersemester 1939/40 hatte ich diese Chance. Er kam zur Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen Frankfurt a.M., damals ausgelagert im Priesterseminar Limburg (Lahn). Wir waren räumlich sehr beengt. Er und ich teilten ein Zimmer und waren aufeinander angewiesen. Es wurde für mich das auf- und anregendste Semester meines Studiums. Tag und Nacht waren wir im Gespräch. Das heißt: Meist redete er, und ich hörte zu. Der Viel-Wissende, Durchblickende und Weiter-Denkende beeindruckte mich tief. Rodins „Penseur“ erinnert mich bis heute an ihn. Ich habe in dieser Zeit mehr gelernt als im ganzen übrigen Studium.

Mit der Schulphilosophie, der Scholastik, mit der Ordnung eines geistlichen Hauses, tat er sich schwer. Kurios ein Ereignis aus diesen Monaten. Er und ich wurden bei einem Extemporale der Sprech- und Redeausbildung veranlaßt, über „Sinn und Unsinn einer Hausordnung“ zu diskutieren. Sehr zur Freude der Kommilitonen. Er natürlich als Angreifer, ich als Verteidiger. War es nicht ein erster Hinweis auf einen Denker, der in kein Schema und keine „SCHULE“ paßte?

In dieser Lehr- und Lernzeit wies er mich hin auf vieles, das außerhalb des bisher Gewußten lag und auf Zusammenhänge, die unwahrscheinliche Aussichten eröffneten. Schon da wurde mir bewußt gemacht, daß Dichtung oftmals Tieferes und Höheres aussagt als bloßes Denken. Ich habe daraus gelernt, Theologie und Dichtung miteinander in Verbindung zu halten und sie sich gegenseitig ergänzen zu lassen. Unvergessen bleiben mir seine Erklärungen der Bedeutung von Mythos und Metapher, die ihn sein Leben lang beschäftigten. Ich habe gelernt, das Symbol als Bild zu begreifen, in dem Inhalt und Form beinahe mühelos übereinstimmen und verdichtet zusammenfallen. Hans Blumenberg hat mir die Augen und Ohren geöffnet für die Werke Goethes, Thomas Manns, Hans Carossas, Ernst Jüngers und anderer, die ich bis dahin nicht in die Hand bekommen oder noch nicht recht verstanden hatte. Und er machte mich neugierig auf mehr.

Als unsere Wege sich trennten, ihn zum Weiterstudium und mich zum Soldatensein in den Krieg führten, blieben wir dennoch im Kontakt. Ich weiß nicht mehr genau, wieviel und welche Bücher er mir nach Osten oder Westen an meine Feldpostnummer schickte. „Das mußt Du lesen!“, hieß es in seinen Briefen. Seine Widmung lautete „Walter, dem Freund“ oder „Zu den Wurzeln abendländischen Denkens“ (gemeint war griechische Philosophie) oder „Zu den Wurzeln existentiellen Denkens“ (so zu Kierkegaard). Gelegentlich fiel ich dadurch dem Feldwebel bei der Kontrolle meines Schrankes auf: „Was lesen Sie denn da? Verstehen Sie das denn überhaupt?“ - Aber ich hatte inzwischen gelernt nach anderem zu fragen als nach bloß Vordergründigem, sondern vorwärts und quer und weiter, eben nachzudenken. Statt leere Zeiten mit Besäufnis oder anderem dummen Zeug zu vertreiben, saß ich und las und lernte auf Anregung meines Meisters Hans Blumenberg. Im Vordergrund studierte ich „angewandte Anthropologie“ und dachte darüber nach im stillen Hintergrund. So verging eine für mich fruchtbare Zeit.

Im Winter 1944/45 verloren wir den Faden zueinander. Heute weiß ich, daß dies eine für ihn gefährliche Zeit war, die ihn hätte das Leben kosten können. Aber er entkam glücklicherweise und dachte weiter.

Erst 1946, mitten in einer Dissertationspause, konnte ich ihn in seiner bescheidenen Wohnung in Bargteheide, wo er mit Frau und erstem Kind untergekommen war, wieder treffen. Wir redeten miteinander (er mehr als ich) eine halbe Nacht hindurch. Auf liebevollen Hinweis seiner Frau „Dein Freund will doch sicher jetzt schlafen“ reagierte er bemerkenswert: „Misch Dich nicht ein, wenn zwei Theologen (!) miteinander reden!“ Ist er also nicht doch bei aller denkerischen Mühe auch ein „Theologe“ geblieben, der Richtung Gott fragt, auch vorsichtig und zurückhaltend davon zu reden, zu schreiben oder zu schweigen versucht?

Die folgenden Jahre, angefüllt mit je verschiedener Arbeit, erlaubten uns nur noch gelegentliche Grüße hin und her. Auszüge aus seinen Arbeiten fanden mit kurzem Vermerk „freundlich“ oder „für ein gutes Jahr“ zu mir hin und ließen mich seinen Weg verfolgen. Er wanderte von Lehrstuhl zu Lehrstuhl (Hamburg-Kiel-Gießen-Bochum-Münster). Seine großen, gewichtigen Bücher erschienen im Suhrkamp Verlag. Sein Denken wuchs für mich ins schier Unüberschaubare und schwer Verständliche. Er gilt inzwischen als einer der bedeutendsten Denker der Jetztzeit. Weder kam er aus einer Schule, noch begründete er eine solche. Seine Skepsis der Universität gegenüber hat er mir noch zuletzt mitgeteilt und spöttisch ihre Wiederherstellung vielleicht für 1995 erhofft (Fragebogen der FAZ). Über diesen seinen Denkweg haben Berufenere als ich anläßlich seines Todes geschrieben (Zeit, FAZ). Im „Fragebogen“ des FAZ-Magazins aus den letzten Jahren kommen einige Antworten aus seiner spitzen Feder und seinem widerspruchsvollen Kopf, die mir typisch erscheinen. So ist und so war Hans Blumenberg, wie er leibt und lebt! - Er will „sagen, was er sieht“, und weiß doch, daß „er nicht genau genug sagen kann, was er sieht“. Er bewundert Sokrates, „weil man von ihm wenig genug weiß, um sich alles denken zu können“ und „weil er nichts geschrieben hat“. Er denkt „außen herum“ und „an das Buch, das er nicht mehr schreiben wird“. Er hat als Lieblingsvogel „die Taube auf dem Dach“ (und eben nicht den Spatz in der Hand). Er verehrt die Frau des Sokrates, „da sie ihn ertrug, obwohl er nichts geschrieben hat“. Von seinen Freunden erwartet er „Diskretion“, das heißt doch wohl Resepekt vor seiner Eigenart und Zurückhaltung in jeder Äußerung, zugleich aber auch kritisches Unterscheidungsvermögen.

Erst im eigenen und seinem „Ruhestand“ fanden wir (etwas mühselig, über den Verlag) wieder brieflichen Kontakt zueinander. Zu meiner und wohl auch zu seiner Freude. „Der lebt also auch noch!“ Es war „die Wiederkehr des Entschwundenen, obwohl Unvergessenen.“ - Er hatte sich in seiner „Höhle“ versteckt, um dort in einsamen Nächten weiter zu denken, tiefer zu schürfen und Kostbares zu entdecken, mühsam zu beschreiben und anderen die Mühsal des Lesens und Verstehens zuzumuten. - In einer schwierigen Recherche hat der WDR einen TV-Bericht dieser letzten Jahre der Zurückgezogenheit „zwischen Hölle und Himmel“ erstellt und von dem großen Erschrecken gesprochen, das den aus der „Höhle“ (mit ihren Schatten der Vorübergehenden an der Wand) Hervortretenden befällt, wie schon einen Pascal. „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschüttert mich“ (Pensées). - Es gibt kein Photo des Zurückgezogenen seit 1965. Und das letzte Buch (über Thomas Manns Tagebücher) wird nicht fertig geschrieben. Er scheint keineswegs „aus Lust sich davon zu machen“ (Fragebogen FAZ) gestorben zu sein. Ein letzter Brief an mich beschreibt seine Todesahnung. Die „Matthäuspassion“ (1988) läßt ihn Gottverlassenheit und Vorwurf an den Vater, der den Sohn so hängen läßt, ausdrücken. (Wobei die weitere Frage zu stellen wäre, wer denn wen eigentlich hängen läßt.) - Noch einmal wies er mich auf Lücken meiner Erfahrung mit Dichtern und Denkern hin.

Schmerzlich erfuhr er die eigene Lücke, noch weiter schreiben zu können. In einer der letzten auf Tonband mitgeschnittenen Vorlesungen (WDR) beschreibt er den letzten Augenblick, der das Ganze des Lebens zusammenfassen möchte, als „ohne von Reue geplagt oder von Hoffnung irregeführt zu werden.“ - Ist damit (so frage ich) nicht angedeutet, was ein Mensch endlich erlebt, wenn er im Moment des Todes erblickt, was seinem Hirn und Herzen sich vorläufig entzog?

Ob er „an einer ungelösten Frage gestorben ist“, wie er in „Glossen und Anekdoten“ (1983) schrieb, oder ob er in der Ungewißheit des Wissens eines Sokrates verblieb, wer weiß es? Montaigne der Skeptiker, auf den er mich ebenfalls einmal aufmerksam machte, verbleibt bei seinen „Versuchen“ bei der Frage: „Was weiß ich denn schon?“ Ich erinnere mich an einen Brief, den er mir im Krieg schrieb. Es ging um „Gott als den ganz Anderen“ (Karl Barth). Und er schreib dazu an Weihnachten, daß „Gott noch einmal ganz anders als anders“ sei. Er meinte damit wohl den Menschgewordenen in der Krippe. Ich kenne seitdem keine bessere Beschreibung dessen, wie Gott denn wirklich sein mag.

Ist Hans Blumenberg also vielleicht doch eher „mit einer Frage“ als „an einer Frage“ gestorben? Einer Frage, die keiner sich selbst beantworten kann. Eher vielleicht doch der „anders als Andere“? Ist im Fragezeichen (?) nicht nach Aufstieg und Absturz schließlich doch alles wie in einer leeren Schale aufgehoben? Diese Frage bleibt auch weiterhin den Zurückgebliebenen gestellt.

Oder ist es am Ende „der Vorstoß ins ewige Schweigen“? (eine seiner von ihm „Weihnachtspredigten“ genannten Beiträge in der Neuen Zürcher Zeitung von 1993). Also ein Aufbruch ins Unbekannte.

Blumenberg hat mir eine große Freude gemacht, als er mir schrieb, den Versuch eines Gedichtes aus meiner Feder habe er einer persönlichen Sammlung von ihm wichtigen Texten eingefügt. So möchte ich ihm nun diese Verse endgültig übereignen.

 

Rote Wolken hat ein Pinselstrich
auf das blasse Blau der Luft gehaucht,
während dunkelgrüne Bäume sich
über helle Wiesen neigen. Taucht

nun die Sonne neu den Pinsel ein?
Wie ein Schatten geht ihr ein Gedanke
durch die Stirne: etwas Weiß hinein!
Und wie Silber blinkt im Licht der blanke

Teich, in den die Weiden traurig träumen.
Zart schwingt sich zum Ufer hin der Steg.
Mag dort münden mancher stille Weg
und hinübergehn zu anderen Räumen!

 

Das Nichts, das habe ich bei Guardini gelernt, kann durchaus für einen Denker, der sich darin zu verlieren scheint, der „Schleier des Seins“ werden. Hat Hans Blumenberg schließlich unter den möglichen „Höhlenausgängen“ den einzigen gefunden, der wirklich ins Freie führt? Er hat nun ausgefragt.

Ich habe jedenfalls noch einmal von mir hören lassen. Arrivederci, Hans!

 

 

 

(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Manns,

des ehemaligen Chefredakteurs der Studentischen Zeitschrift "Upwärts",

heute Oberschulrat i.K./Speyer)

 

 


Anmerkung

 

Dieser Nachruf erschien zuerst in der Studierendenzeitschrift „Upwärts“ (Sommersemester 1997. S. 5-8) der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. „Upwärts“ ist ein Wortspiel. „up“ darf im Sinne von „auf“ wie „ab“ gedeutet werden. Die Studierenden nannten ihre Zeitschrift gerne „Abwärts“, wie mir Frau Professor Sandra Huebenthal (Universität Passau) erläuterte.

 

Walter Kropp (1919-2019) übergab mir seinen Briefwechsel mit Hans Blumenberg. In einem Begleitbrief vom 29. Januar 2014 schrieb er:

„Der kurze Briefwechsel während des Krieges ist mir leider auf dem Rückzug aus Frankreich verloren gegangen. Zur Primiz 1949 schickte mir Hans eine Kunstmappe der Sixtinischen Kapelle mit ihren großartigen Fresken. Widmung „dem guten Freud“. Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zum Nicht-Vergessen geleistet zu haben, und bleibe Ihr ergebener Walter Kropp - einer seiner ersten Zuhörer!“