Franz Kafka:
Das Lachen der Engel
 

 

Franz Kafka (1883-1924) arbeitete als promovierter Jurist bei einer Prager Versicherungsanstalt. Zu seinen Aufgaben gehörte die Begutachtung von Arbeitsunfällen. Seine Stellungnahme entschied über den Grad der Behinderung und die Höhe der Invalidenrente. Kafka endete sein als Verwaltungsjurist mit der Frühverrentung.

Es gibt Menschen, die in ihrem Beruf auch in schwierigen Fällen klare Urteile fällen können, in privaten Leben jedoch von einer lähmenden Entscheidungslosigkeit geplagt werden. Sie verloben sich und lösen die Verlobung wieder auf, um die aufgehobene Verlobung wieder rückgängig zu machen. Sie schreiben Tagebuch, Geschichten und Romane, ohne die Absicht einer Veröffentlichung. Mit ihrem Vater haben sie ernsthafte Beziehungsprobleme, bleiben aber dennoch als längst Erwachsene bei ihren Eltern wohnen. Sie analysieren ihre Familienaufstellung in einem sehr langen Brief an den Vater, schicken diesen aber nicht ab. Franz Kafka führte ein wahrlich kafkaeskes Leben - schon in der Schule. Der Junge war ein sehr guter Grundschüler, aber er fühlte sich als Versager und befürchtete immer ein durch Zeugnisse attestiertes Scheitern: „Niemals würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen, dachte ich, aber es gelang, ich bekam sogar eine Prämie; aber die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium würde ich gewiß nicht bestehn, aber es gelang.“ 

Der tschechische Familienname „Kafka“ bedeutet „Dohle“. Schwarz wie das Federkleid dieses Vogels war Kafkas Humor. Seine Geschichten sind vieldeutige Gleichnisse von Menschen in verzwickten Entscheidungssituationen, die sie meistens selbst herbeigeführt haben. Sie gehörten einst in die Lehrpläne der Oberstufe. Es war der Urfreund Max Brod (1884-1968), der eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen der Dohle Franz und den Engeln feststellte. „Würden die Engel im Himmel Witze machen, so müßte es in der Sprache Kafkas geschehen“, schrieb er in seiner Kafka-Biographie. Mit ihr hat er sich wegen seiner religiösen Deutung des Werkes keine Freunde unter den Germanisten der Nachkriegszeit gemacht. Sie wollten dem Zeitgeist verpflichtet einen verzweifelten Kafka. Max Brod aber hatte jenem paradoxen Umschwung aller vermeintlichen Aussichtslosigkeit in höhere Heiterkeit nachgespürt. Das hat man nicht verstehen wollen. Engel, glaubte er, lieben die Grenzgänger und ihre Verstrickungen. Der gordische Knoten des Lebens fordert ihre Entwirrungskompetenz heraus. Engel schaffen klare Linien. Und in diesem Sinn schrieb Kafka mit jüdischem Humor Geschichten, durch die sich die Engel herausgefordert fühlten. Das war tricky, wurde aber von den meisten Lesern falsch verstanden.

„Es ist ein neues Lächeln, das Kafkas Werk auszeichnet, ein Lächeln in der Nähe der letzten Dinge, ein metaphysisches Lächeln gleichsam, - ja manchmal, wenn er uns Freunden eine Erzählung vorlas, steigerte es sich, und wir lachten laut heraus. Aber wir schwiegen bald. Es ist kein Lachen, das für Menschen bestimmt wäre. Nur Engel dürfen so lachen (die man sich freilich nicht als Raffaelsche Putten vorstellen darf - nein, Engel, Seraphimmänner mit drei riesigen Flügelpaaren, dämonische Wesen zwischen Mensch und Gott.“ 

Max Brod sieht in Kafkas Werk „das Positive, Lebensfreundliche, irdisch Wirkende und im Sinn eines rechten erfüllten Lebens Religiöse, nicht aber Selbstverlorenheit, Lebensabgekehrtheit, Verzweiflung“. Kafka habe die Welt in ihrer Gebrochenheit angenommen und gerade dadurch die Wirklichkeit auf eine höhere Ebene gehoben. „Die Engel bekommen zu tun und sehen neugierig zu, was daraus werden wird, denn dies beschäftigt sie.“ Niemand kannte Kafka besser als Max Brod. Seine große Vertrautheit mit dem Freund und die Sensibilität für die Zwischentöne in seinem Werk macht seine Biographie noch immer zu einem Türöffner zu den eigentümlichen Gesetzen von Kafkas Welt. 

In einem Gespräch, das die Freunde am 28. Februar 1920 führten, fällt einer jener merkwürdigen Sätze, die immer wieder zitiert worden sind. Lächelnd sagt Kafka: „Viel Hoffnung - für Gott - unendlich viel Hoffnung, - nur nicht für uns.“ Wie ist dieser Satz zu verstehen? Beschreibt er den Abgrund zwischen Gott und Mensch, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zwischen einem Leben in Fülle und einem Leben des Mangels? Ist er eine Klage oder ein Scherz? Oder ein Ausdruck jener Heiligkeit, die Kafka erfahren haben soll? Max Brod glaubt es zu wissen: „Die Kategorie der Heiligkeit (nicht etwa die der Literatur) ist überhaupt die einzig richtige, unter der Kafkas Leben und Schaffen betrachtet werden kann.“ Damit wolle er Kafka nicht als Heiligen bezeichnen, aber  „die These aufstellen, dass Kafka sich auf dem Wege zu diesem Letzten hin befunden hat.“ Er habe einen unbedingten Glauben gehabt. „Er glaubte an eine Welt der Richtigkeit, an das ‚Unzerstörbare‘, von dem so viele seiner Aphorismen sprechen. Wir sind zu schwach diese Welt immerfort zu erkennen. Aber sie besteht. Überall ist Wahrheit sichtbar. Sie blickt durch die Maschen der sogenannten ‚Realität‘.“

Zu Kafkas berühmten Parabeln gehört „Vor dem Gesetz“. Ein Mann vom Land kommt zu einem Gerichtsgebäude. Er ist der Jedermann. Deshalb erfahren wir nichts über sein Anliegen. Er allein weiß, was er will. Doch fehlt ihm die Entschiedenheit an dem Türhüter vorbei das Gebäude zu betreten. Er verstrickt sich in Nebensächlichkeiten und verliert darüber sein Ziel aus den Augen. Am Ende der Geschichte liegt der Mann im Sterben. Er verharrte sein ganzes Leben in der Entscheidungslosigkeit. Nun richtet er eine letzte Frage an den Türhüter: Warum sei in all den Jahren und Jahrzehnten kein weiterer Besucher des Gesetzes erschienen? Warum blieb er allein? Der Türhüter mit den Flöhen in seinem Pelzkragen beugt sich zu ihm hinab und erklärt, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Dann schließt er das Tor. Der Mann stirbt. Ist sein Tod absurd oder tragisch, verdient seine Hilflosigkeit unser Mitleid oder unseren Zorn? Oder sollen wir einfach über den Dummbart lachen? Ist er vielleicht der Erwählte und Heilige, der Narr Gottes, durch den sich die Engel zum Handeln herausgefordert fühlen? Dann hätte er alles richtig gemacht. Kafka schuf mit seiner Parabel ein Bild für die Erfahrung des Traditionsabbruches. Es gibt Zeiten, da sind die Zugänge zu den Geheimnissen versperrt. Die Nacht herrscht, da niemand helfen kann. Vielleicht führt der Blick nach oben zu neuer Begegnung? Die Lösung kommt, wenn die Zeit reif ist. Vielleicht muss man erst sterben, um im Innersten anzukommen. Vielleicht liegt die Lösung außerhalb der Zeit. Kafkas Engel schaffen Kontexte des Lebens. Hier löst sich der Knoten.

Den Türhüter der Parabel mit seinen Flöhen im Pelz hat es wirklich gegeben, nicht nur einmal, sondern immer wieder im alten Prag. Mit einer Art Marschallstab, dickem Pelzmantel und Dreispitz stand er vor dem Erzbischöflichen Palast auf dem Prager Hradschin. In Kafkas Parabel „Eine kaiserliche Botschaft“, deutet man sie religiös, träumt ein Mann von der Ankunft eines Engels, der ihm die ganz persönliche Mitteilung Gottes überbringt. Der himmlische Hofstaat aber ist so weit, die Wege so verworren, dass der Engel niemals dem Empfänger erreichen wird. Wir wissen nicht, was der Mann vor dem Gesetz noch in seinem Sterben geschaut hat und kennen nicht die kaiserliche Botschaft, die den am Fenster Wartenden erreicht zu der Zeit, die der Absender gewollt hat.

Als Franz Kafka starb, war er ein weitgehend unbekannter Autor. Heute ist er ein Klassiker, der mit seinen Parabeln nicht nur den religiösen Traditionsverlust und die Orientierungslosigkeit, sondern auch die Ungeduld unserer Zeit spiegelt. Max Brod konnte die ersten vier Bände aus dem Nachlass seines Freundes noch Mitte der Dreißiger Jahre in dem auf Judaica spezialisierten Berliner Schocken Verlag edieren. Zwei weitere Bände und seine aus intimer Kenntnis geschriebene Biografie erschienen im Prager Verlag Heinrich Mercy und Sohn. 

Gershom Scholem (1897-1982), der Wiederentdecker der Kabbala, und sein Freund Walter Benjamin (1892-1940) sind Brods Deutung gefolgt, als sie in Kafka einen jüdischen Humoristen erkannten. Kafka habe sich so verhalten, dass die Engel zu tun bekommen, konstatiert Walter Benjamin in einem Brief (12. Juni 1938) an den Freund: „So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns. Dieser Satz enthält wirklich Kafkas Hoffnung. Er ist die Quelle seiner strahlenden Heiterkeit.“

Kafka war ein drolliger Mensch, manchmal „meschugge“ wie es in der Mini-Serie „Kafka“ von Daniel Kehlmann heisst, zuweilen ein hinreißend komischer Kauz, dann wieder einfach nervtötend. Reiner Stach hat ihm in diesem Sinne seine witzig geschriebene etwas mäandernde Biografie gewidmet. Man muss diesen Kafka einfach lieben wie der Freund Max Brod, der mit schlechten Büchern Erfolg hatte, aber groß genug war, die Größe des Freundes zu erkennen. Kafka nahm das Schreiben nicht so ernst wie seine Interpreten. Deshalb wollte er auch, wenn er es wirklich wollte, was er nicht mit Sicherheit wusste, dass Max Brod seinen Nachlass schredderte. Er lebte nicht nach dem existentialistischen Muster von Selbsterlösung und dem Drang, sein Leben immer wieder neu zu erfinden.

Walter Benjamin verglich in einem weiteren Brief (4. Februar 1939) an Gershom Scholem etwas frech die Freunde Kafka und Max Brod mit „Dick und Doof“. „Kafka als Laurel fühlte die lästige Verpflichtung, sich seinen Hardy zu suchen - und der war Brod. Wie dem nun immer sei - ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne. Hat es so einen Mann gegeben? oder wärst du Manns genug, dieser Mann zu sein?“ 

Max Brod ist uns in seiner Kafka-Biographie die Frage schuldig geblieben, worüber die Engel im Himmel lachen. Engel haben nicht nur einen typisch jüdischen Humor, sie sind jüdischen Ursprungs. Die Kirchenväter entwickelten ihre Lehre von den Engeln aus den Quellen des Judentums. Engel sind Boten. Sie kommen zu Abraham und Moses, sie übermitteln den Propheten Botschaften und dringen immer durch alle Hindernisse hindurch. Niemals macht sich ein Engel auf den Weg vom König aller Heerscharen zu einem Menschen und lässt sich vom himmlischen Hofstaat aufhalten, niemals sind die Kommunikationswege so vertrackt, dass die Botschaft nicht ihr Ziel erreicht. Engel kennen keinen Communication Breakdown. Franz Kafka aber beschreibt Engel, die auf halben Wege stecken bleiben. Das ist entweder blasphemisch oder überaus witzig, weil unter Talmudisten und anderen Engelforschern undenkbar. Die Kirchenväter und Hildegard von Bingen deuteten das Gleichnis vom verlorenen Sohn als die Rückkehr der gefallenen Menschheit ins Reich der Engel. Franz Kafka hat wie viele andere Dichter die Geschichte vom verlorenen Sohn auf seine Weise nacherzählt. „Die Heimkehr“ beschreibt die Rückkehr des Sohnes zum Vaterhaus und sein Zögern, den letzten Schritt zu vollziehen. Sein Geheimnis wahrend, bleibt er vor der Tür stehen und betritt den Hof nicht. Dergleichen Unentschiedenheit bei aller Entschiedenheit erzeugt jene Komik, die Engel zum Lachen bringt und vielleicht sogar zum Handeln motiviert.