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Gedichte wie Gebete: Warlaam Schalamow
In den Grenzsituationen von Gethsemane und Golgatha werden keine Romane geschrieben. Der Atem reicht gerade aus für ein Wort des Trostes oder einen letzten Aufschrei: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Warlam Schalamow (1907-1982) hat in den ostsibirischen Vernichtungslagern der Kolyma das Wunder des Wortes erfahren, wie es seit Puschkin immer wieder bezeugt wurde: „Begeistern werd’ ich mich am reinen Klang,/ Werd’ weinen über’m Wort, das mir gelang.“
Siebzehn Jahre verbrachte der Sohn eines Priesters am Kältepol der Erde. In seinen „Erzählungen aus Kolyma“ schrieb er nach der Lagerhaft einen Martyrolog, der keine Aussicht auf Veröffentlichung in der Sowjetunion hatte. Schalamow bezeugt den Kreuzweg der russischen Seele. Eine der grausamen Torturen war die Aussetzung von bis auf die Wäsche entkleideten Menschen im Eiskarzer. In der Umarmung versuchten sie sich zu wärmen. Manchmal vernahm Schalamow einzelne Verse aus der Kältekammer. Sein Zeugnis kann nur mit angehaltenem Atem gelesen werden wie der Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen.
Als lebender Leichnam („Dochodjaga“) werden die Erniedrigten im Lagerjargon bezeichnet. In der „Zone“ soll eine Umschmiedung („Perekowka“) des Menschen stattfinden. Zynisch heißt es auf Plakaten: „Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldenmutes.“ Nur religiöse Menschen, unter ihnen die Popen, hätten sich in dieser Situation als aufrecht erwiesen. Gebete und Verse waren in den Lagern verboten, weil sie Überlebenshilfe sein konnten. Von dieser das Leid transzendierenden Kraft der Dichtung spricht auch der berühmte Mediävist Friedrich Ohly, der als deutscher Kriegsgefangener willkürlich zu fünfundzwanzig Jahren Arbeit im Steinbruch verurteilt wurde. Wie Schalamow kam er nach dem Tod Stalins frei. In seinen Erinnerungen „Glück eines Gefangenen mit Puschkin und Steinen“ legt er Beispiele seiner im Lager verbotenen Übertragung von Puschkins Gedichten vor. Swetlana Geier las sie mit großer Zustimmung.
Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ wurden von Gabriele Leupold aus dem Russischen übersetzt. Franziska Thun-Hohenstein, die deutsche Herausgeberin der nachgelassenen Werke, hat neben einer Briefedition nun auch Schalamows Biografie vorgelegt. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist deutschen Lesern nun ein Zugang zu diesem wichtigsten Zeugen der „Schande der Kolyma und der Öfen von Auschwitz“ (Schalamow) zugänglich. Warlam Schalamow steht am Ende einer Reihe von literarischen Versuchen, auf die Erfahrung des Terrors zu reagieren. Er grenzte sich von Boris Pasternak („Doktor Shiwago“), Aleksandr Solshenizyn („Archipel Gulag“) und Jewgenija S. Ginsburg („Die Gratwanderung“) entschieden ab: „Solshenizyn kennt und versteht das Lager nicht.“ Schalamow war wie Nadeshda Mandelstam entschieden im Urteil und kompromisslos, wenn es um die Bezeugung des Grauens ging, so wie er es erlebt hatte. Die Wahrheit der Lager war für ihn das Scheitern aller humanistischen Utopien. Deshalb glaubte er auch nicht wie Erich Maria Remarque an eine Läuterung der Leser durch die Konfrontation mit der Schreckenswelt: „Jede Hölle kann zurückkommen.“ Leser seien keine besseren Menschen, wie die vielen Bücherliebhaber, Antiquare und Freunde guter Gedichte unter den KGB-Mitarbeitern bewiesen. Schalamow will seine Leser nicht erziehen. Er will das Wunder einer überweltlichen Erfahrung von Dichtung bezeugen, das nicht lehrbar und lernbar ist, sondern sich als Gnade ereignet oder versagt wird. In der Lagerwelt erfährt Schalamov wie ihn das Wort ergreift und er nach sehr langem Verstummen Gedichte schreiben kann: „Die Rückkehr dieser Fertigkeiten erschien mir als - und das war sie - ein Wunder.“ Wie Jesus im Garten Gethsemane, so hat auch Schalamov in der Kolyma den Engel des Trostes erfahren. Alles mit dem Lager Verbundene habe „ein Engels-, ein himmlisches Leben verdient.“ Nach seiner Entlassung besucht Schalamov den Kreml mit seinen drei Kathedralen: die Erzengel Michael-, die Mariä-Entschlafens- und die Mariä Verkündigungs-Kathedrale. Schalamov, der sich als „der Gekreuzigte und Umgebrachte“ erfahren musste, bezeugt in diesen Heiligtümern mit ihren Rubljov-Ikonen seine Auferstehung:
„Mir schien, dass nicht der Pinsel des Malers das Bild Gottes an den Wänden hält, sondern jenes Große und Teuerste, dem die Religion diente und dient. Diese ihre strenge Kraft, die Gebete von Hunderten Generationen, die vor diesen Altären standen, eine Kraft, die Materialität und Gewicht gewonnen hat - bewahrt diese Kathedralen selbst ohne uns. Dass die Hunderte Generationen von Betenden jeder so viel von seinem Herzen hier hineingelegt hat, dass diese Kraft auf ewig ausreicht.“
Wie der Auferstandene trägt auch der Überlebende des sibirischen Golgatha die Wundmale der Passion. „Gedichte - sie sind Stigmata“, bekennt er. Sein eigenes Leid spiegelt er in Raffaels „Sixtinische Madonna“, die ihm unerwartet zur Madonna der Kolyma wird. Das weltberühmte Gemälde aus den Dresdener Sammlungen gehörte zu jener Raubkunst, die im Jahr 1956 im Moskauer Puschkin-Museum ausgestellt wurde. Schalamow kannte das Bild, schätzte Raffael aber nicht besonders, sah in ihm einen Auftragsmaler und „Hof-Gottespinsler“. Deshalb zögerte er mit dem Besuch. Schließlich reihte er sich um vier Uhr morgens mit der Besuchernummer 1287 in die Warteschlange und erlebt vor der Muttergottes mit dem Jesuskind eine unerwartete Erschütterung, ja eine Offenbarung. In ihrem Antlitz erkennt er sein eigenes Schicksal wieder und weiß es im Geheimnis aufgehoben. Maria hat die Todesfurcht überwunden:
„Das ist keine Befangenheit, das ist die Überwindung der Ängste, eine gefällte Entscheidung, trotz der Einsicht in die Leiden des Sohnes, die gewöhnlichen Leiden des menschlichen Lebens, die als dunkle Angst auch in den Augen des erwachsen schauenden Kindes funkeln. Das Kind ist sich noch nicht im Klaren über seine Zukunft, doch die Mutter ist sich darüber im Klaren, und dennoch ist ihr Schwanken überwunden.“
Nach Jahrzehnten der rigorosen Verfolgung der Christen, in denen der Glaube nur unter hohem Risiko im Untergrund praktiziert werden konnte, ist eine Jugend ohne jede religiöse Bildung herangewachsen. Ihr ist aufgrund fehlender Bibelkenntnisse der Zugang zu Ikonen dieser Art erschwert. Der Bildungs- und Bildverlust betreffe auch die klassische russische Literatur, beklagt Schalamow. Es fehlen gleichsam die Worte, die in den Schinderhütten der Zukunft Trost spenden könnten.
Wer einmal im Lager leben musste, kehrt auch nach seiner Freilassung nicht mehr ins alte Leben zurück. Schalamows Nervensystem war zerrüttet. Seine Familie brach auseinander. Umso stärker war seine Beziehung zu der Katze Mucha. Moskauer Tierfänger stehlen sie. „Der massenhafte Mord an Katzen und Menschen - ist einer der kennzeichnenden Züge des Sozialismus“, berichtet Schalamow in einem Brief an Nadeshda Mandelstam. „Die Tiere gehören zweifellos in die menschliche Welt, sie läutern sie und verstehen sehr viel mehr, als Pawlow und Durow dachten.“ Endlich findet Schalamow seine Katze mit vielen anderen Tieren in einer Tötungsstation, und wieder erkennt er das Gesicht der Kolyma: „Die Augen aller Katzen, und ich kenne Katzenaugen sehr gut, waren gleichgültig, abwesend. Kein Mensch konnte sie mehr retten vor dem Tod und vor den Menschen. Die Katzen erwarteten schon nichts mehr als den Tod.“ Mucha wird erschossen.
Warlam Schalamow verbrachte seine letzten Tage zusammengekauert auf einer Matratze liegend, fast blind und taub. Aber er war nicht allein. Das Wort trug ihn hinüber. Irina Sirotinskaja (1932-2011) berichtet von einem Murmeln von Gedichten - an keinen Menschen mehr gerichtet. Schalamow hatte das Leid in eine schwarze Perle verwandelt. Nach seinem Tod lässt die Geliebte und designierte Herausgeberin seiner Werke in der Kirche des Heiligen Nikolaus von Myra die orthodoxe Totenmesse für den Zeugen der Kolyma lesen. „Dank Dir für diese sechs Jahre, die besten meines Lebens“, hatte ihr Schalamow in einem seiner letzten Briefe geschrieben.
Franziska Thun-Hohenstein. Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik. Matthes & Seitz Verlag. Berlin 2022. 536 Seiten. 38 Euro.
Hinweis auf Videos über die Kolyma:
https://www.nzz.ch/feuilleton/juri-dud-ein-hipster-klaert-russland-ueber-den-gulag-auf-ld.1484868
https://documentary.net/video/kolyma-birthplace-of-our-fear/
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So idyllisch geht es auf Ar-Men nicht zu
Die ersten Jünger waren keine Hochseefischer. Ihre Netze warfen sie in einem Binnengewässer aus. Paulus hatte auf seinen Missionsfahrten die Gefahren des Meeres erleben müssen, als er vor Malta Schiffbruch erlitt. Sturmfluten und Sturzregen schenken uns eine Ahnung von dem Respekt, mit dem nicht nur die frühen Christen dem Meer begegneten. In den Katakomben zeichneten sie Leuchttürme des Glaubens als Orientierungspunkte im Meer der Welt. Die neue Schöpfung aber braucht keine Ozeane und Leuchttürme mehr. In der Vision vom himmlischen Jerusalem ist daher vom Meer und Sintfluten nicht mehr die Rede: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ (Apk 21.1)
In Küstennähe drohen Untiefen durch Sandbänke und Felsen. Doch auch im Meer der Seele lauern Gefahren. Leuchttürme als Licht des Glaubens bewahren vor dem geistlichen Schiffbruch. Sie sind keine romantischen Orte, sondern wie der Turm der Heiligen Barbara Stätten des Widerstandes gegen dunkle Mächte von Innen und Außen, Klausuren der Selbst- und Gottesbegegnung. Deshalb entschied sich der französische Dichter und Katholik Jean-Pierre Abraham (1936-2003) für das Exerzitium eines Aufenthaltes in einem der entlegensten Leuchttürme der Welt. Sein Buch „Der Leuchtturm“ gehört zu den Klassikern der spirituellen Weltliteratur wie „La noche oscura del alma“ des Heiligen Johannes vom Kreuz. Jeder Satz dient der Annäherung an ein Geheimnis, das im Letzten unsagbar bleibt. „Glaube ohne Zuckerguss“ sucht der junge Autor. Mit einem Bildband über die Baukunst der Zisterzienser zog er sich Ende der Fünfziger Jahre auf den Leuchtturm Ar-Men zurück. 1967 erschien sein Logbuch der Seele in Frankreich. Jean-Pierre Abraham hatte eine Berufung zum mönchischen Leben verspürt. Nun wurde der Leuchtturm in dem Archipel vor dem westlichsten Punkt der Bretagne zu seiner Einsiedelei. „Mich dünkt, ich hatte einst alle Voraussetzungen, die simple Zuversicht dieser Mönche zu erlangen. Was habe ich daraus gemacht? Ich bin mir sicher, dass sie dank ihrer Art, ungestalte Steine aneinanderzufügen, um das Licht einzufangen, es darin kreisen lassen, Gott schauten: sie zwangen ihn, seine Größe und Unergründlichkeit, sein unvermitteltes Antlitz zu offenbaren.“
Der Leser darf also keine seichte Meditation vom Meer erwarten - bei einem Glas Entre deux mers zu gegrilltem Fisch. Erst recht keines jener Erbauungsbüchlein, mit denen Anselm Grün seit Jahrzehnten seine Leserinnen trunken macht. Als echte Esoterik ist das Buch ein sperriger Abstieg in die Tiefen der Seele und ein Aufstieg ins Licht. In beidem wohnt Gott. Der Leuchtturm Ar-Men liegt dreißig Kilometer vom Festland entfernt am äußersten Punkt der Chaussée de Sein. Erbaut wurde er auf einem winzigen Felsen, der ihm seinen Namen gab. „Ar-Men“ ist ein Wort der bretonischen Sprache und bedeutet, was die Insel mit ihrem Leuchtturm für den Gottsucher ist: Der Fels. Der erste Fischer, der mit seinem Bruder Andreas dem Herrn folgte, wurde ebenfalls „der Fels“ genannt. Auf diesem Felsen wurde die Kirche errichtet, von er es hieß, die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Das gilt gerade heute in den Brandungszonen des Zeitgeistes. Der Leuchtturm Ar-Men wurde 1867-1881 in unendlicher Mühsal errichtet. Kein Boot kann hier landen. Der Leuchtturmwärter wird mit Hilfe einer Winde auf den Felsen gezogen. Die Tür zu seiner Klause muss er nicht verschließen, denn niemand legt hier an, um den Einsiedler zu besuchen. Nur der Eine kommt, und er braucht keine Tür.
Jean-Pierre Abraham hat das Logbuch der Seele seiner Mutter gewidmet. Ihr verdankt er die Liebe zum Meer und den katholischen Glauben, ihr weiss er sich im Rhythmus der Feste des Kirchenjahres über den Raum des Atlantiks verbunden, gerade dann, wenn er wegen zu hoher Brandung den regelmäßigen Erholungsurlaub auf dem Land nicht antreten kann. Der Leuchtturm muss bedient und gewartet werden. Zwei Wächter wechseln sich in dieser Arbeit ab. Der eine arbeitet tags, der andere nachts. Gelegentlich nehmen sie gemeinsame karge Mahlzeiten ein. Gespräche führen sie kaum. Wer das Unsagbare sucht, verliert sich nicht in Worten. Wahrhafte Einsamkeit ist Einssein mit Gott, „über die es nichts mehr zu sagen gibt.“
Es gehört zu den Kennzeichen der Mystiker aller Zeiten, dass sie wortreich über das schreiben, was sich nicht in Worte fassen lässt. Jean-Pierre Abraham ist mit seiner sehr sparsamen Prosa dieser Versuchung nicht erlegen. Deshalb ist sein Buch kein Bestseller geworden, sondern ein Geheimtipp unter jenen Eingeweihten und Berufenen geblieben, den „electis dilectis“ (1. Thessaloniker 1.4), denen Hans Urs von Balthasar sein „Das Herz der Welt“ (1945) widmete. Sie bilden seit jeher den Kern der Kirche. Gerade in unserer Zeit des Traditionsabbruchs kommt es auf diese Einzelnen an. Sie knicken nicht ein vor dem Zeitgeist, sie sind wie Paulus und Petrus Männer und nicht Memmen. Wie die wahre Kirche, so ist der Leuchtturm von Ar-Men ein Ort des Widerstandes. Dreißig Meter hohe Wellen, höher als der Leuchtturm, brechen sich zuweilen in den Stürmen der Zeit an seinen Mauern und tauchen ihn in die Gischt. Immer wieder wundert sich Jean-Pierre Abraham, dass die Mauern standhalten. Neben den Erfahrungen von Licht und Herrlichkeit lernt er die abgrundtiefe Angst und das Erschaudern vor dem Erhabenen kennen. Dann wiederum fühlt er sich wie Jona im Bauch des Wales, während draußen die Pforten der Hölle geöffnet werden und die Sturzfluten toben. Ausgesetzt auf den Wellen des Meeres erreicht er inmitten der Stürme Gelassenheit: „Selbst in den schlimmsten Momenten ist mir klar: Nichts in der Welt könnte mich zur Abreise zwingen. Eines nämlich bleibt stets gleich: das Gefühl, hier an meinem wahren Platz zu sein. Der Rest ist Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die mich fortan unbeirrt leitet. Die sich nicht mit unnützen Worten vollkleistert, nicht herumkriegen lässt. Immerzu verspüre ich den Stachel. Gewiss ist alles einfacher, als ich es mir vorstelle.“
Der Einsiedler von Ar-Men lernt das Meer der Seele mit seiner bisher nicht gekannten Dünung kennen. Wellenkamm und Wellental markieren seine Stimmungsumschwünge, das Auf und Ab seiner Seele, die Angst vor den Strudeln und das erhebende Gefühl ins Licht getaucht zu werden. Von dieser Glaubenserfahrung als Schöpfungserfahrung ist das verbürgerlichte ökologische Christentum meilenweit entfernt. Die Schöpfung ist nicht das Gute, sondern das Ganze. Und die Erfahrung von Ar-Men ist kein Badeurlaub auf Sylt. Das ökologische Zeitalter hat Angst vor der Schöpfung. Es weiß nichts mehr von dem Gott der Tiefe, der auch die Ungeheuer des Meeres geschaffen hat, dass sie darin spielen. Als am Heiligen Abend die Stürme toben, sodass der Leuchtturmwärter nicht an Land gehen kann, um mit seiner Mutter die Christmette zu besuchen, da erfährt er das Wunder der Schöpfung als Befreiung von der Angst. Es sind Worte des großen Lobpreises, in den Engel und Kirche einstimmen: „Ihr Seeungeheuer und Tiefen der Meere, Feuer, Hagel, Schnee, Nebel, du Sturmwind, der sein Wort vollzieht, all ihr Berge und Hügel, Bäume, Zedern; ihr wilden Tiere und alles Vieh, kriechend Gewürm und gefiederte Vögel: Lobet ihn.“ (Psalm 148.7)
Wo sind diese Männer des Glaubens geblieben? Wir brauchen Leuchttürme in den Gemeindegremien und Bischofskonferenzen. Jean-Pierre Abraham lebte drei Jahre in dem feuchten und nicht beheizten Turm der Beständigkeit. Hier fand er seinen Glauben, der wie jeder Glaube nicht aus eigenem Tun und Wollen lebt, sondern aus der Gnade desjenigen, der in ihm glaubt: „Der Glaube ist stärker als ich.“ Wie wahr! Wir suchen Gott, der uns schon gefunden hat.
Ein Filmteam besuchte 1962 den Schriftsteller. Die Ausstrahlung der Reportage fand in vielen Zuschriften ihren Widerhall. Unter den Briefeschreibern befand sich eine junge Frau. Die beiden werden heiraten und gemeinsam mit ihren drei Söhnen ein Leben in der Abgeschiedenheit führen. Leuchttürme des wahren Lebens gibt es überall - auch in den Städten und Wäldern oder in der Trappistenabtei Notre-Dame du Port-du-Salut im Département Mayenne, in die sich Jean-Pierre Abraham bei Gelegenheit zurückzieht, um ein neues Buch zu schreiben. Wir verdanken die Begegnung mit diesem Autor seiner Entdeckerin und Übersetzerin Ingeborg Waldinger. Sie wohnt in Wien und bringt gelegentlich durch einen Austriazismus österreichisches Flair in den bretonischen Leuchtturm, wenn die beiden Männer eine „Jausenwurst“ verspeisen. Herrlich!
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Jean-Pierre Abraham. Der Leuchtturm. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ingeborg Waldinger. Jung und Jung Verlag. Salzburg 2024. 187 Seiten. 22 Euro.
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„Allein den Betern kann es noch gelingen“
Reinhold Schneider
Reinhold Schneider (1903-1958) war der Lieblingsschriftsteller von Bundespräsident Johannes Rau. „Bruder Johannes“ nannte man den ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen respektvoll wegen seiner kirchlichen Bindung und Bildung. Während meiner Münsteraner Jugendzeit war der Sohn eines reformierten Laienpredigers mein Landesvater. Mit ihm erreichte die SPD 1980, 1985 und 1990 mühelos die absolute Mehrheit, obwohl er politische Gegner von Format hatte. 1995 erzielte der christliche Politiker noch einmal 46 % der Stimmen.
„Das wichtigste, was uns Reinhold Schneider heute zu sagen hat, ist die Verantwortung der Politik vor Gott. Das ist auch das Thema seines großen Widerstandsromans ‚Las Casas vor Karl V.‘. Schneider ist für mich der große katholische Romancier neben Gertrud von le Fort. Ich bin ihm persönlich einige Male begegnet“, bekannte der mit der Reinhold-Schneider-Plakette 1999 ausgezeichnete in einem Gespräch, das Heimo Schwilk und ich mit ihm führten.
Nachdem uns das Wachpersonal im Bellevue kontrolliert hatte, wurden wir von einer Mitarbeiterin empfangen, trugen uns in das Gästebuch ein und erwarten den Bundespräsidenten in seinem Dienstzimmer. „Reinhold Schneider“ hatte sich der gelernte christliche Buchhändler aus dem Ruhrgebiet als Ausgangspunkt für unser Gespräch gewählt. „Jugendsünden“, kommentierte er seine eigenen schriftstellerischen Versuche, die er unter dem Pseudonym „Heinz Gräber“ vorgelegt hatte. Sie waren inspiriert von jenen berühmten Sonetten, die Reinhold Schneider in der Diktatur geschrieben hatte. Wie die Dichtung von Osip Mandelstam in den Jahren des großen Terrors wurden Schneiders Sonette ab 1941/42 mündlich überliefert. Der Schüler Johannes Rau schrieb sie eigenhändig ab und legte sie jenen Feldpostbriefen bei, die unter dem Dach des evangelischen Pfarrhauses am Klingelholl in Barmen-Gemarke von Mitgliedern der Bekennenden Kirche zusammengestellt wurden. Darunter Schneiders berühmtes Sonett von den Betern. Der Präsident zitierte das Sonett aus dem Gedächtnis:
„Allein den Betern kann es noch gelingen,
Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten
Und diese Welt den richtenden Gewalten
Durch ein geheiligt Leben abzuringen.
Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.
Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt,
Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,
Indes im Dom die Beter sich verhüllen,
Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt
Und in den Tiefen, die kein Aug’ entschleiert,
Die trockenen Brunnen sich mit Leben füllen.“
Schneiders Sonett spricht von der Macht der Ohnmächtigen in apokalyptischer Zeit. Das Weltgericht steht unmittelbar bevor. In einer Zeit der Gottesfinsternis („da sich das Heil verbirgt“) und der Hybris („Menschenhochmut“) bleibt ihnen allein das Gebet. Doch dürfen sie gewiss sein, dass ihr Opfer stärker ist als die Macht und Werke der „Täter“. In scheinbar aussichtsloser Lage vertrauen sie auf Gottes Hilfe („Segen“). Geschrieben wurde das Sonett im Mai 1936 während einer Italienfahrt. Ein Zusammenhang mit Schneiders Reversion zum Katholizismus ist nicht bekannt. Bereits im Januar 1930 hatte Schneider dem Insel Verlag einige Sonette zum Druck angeboten. Erst im November 1939 erscheint eine Auswahl mit 59 Sonetten. „Allein den Betern“ wurde nicht aufgenommen. Seine Stunde kam erst in den fortgeschrittenen Kriegsjahren, als Schneider in Eigenauflage (Samisdat-Verfahren) seine inzwischen verbotenen Texte veröffentlichte.
Reinhold Schneiders Sonett hat eine lange Wirkungsgeschichte. Als Gebet wurde in den Bombennächten ebenso gesprochen wie über vierzig Jahre später bei den Friedensgebeten in den Kirchen der ehemaligen DDR. So steht es für eine Erfahrung christlicher Einheit. Was Christen in Glauben und Charakter, in Mentalität und Herkunft, in Konfession und Politik trennte, schien überwunden und aufgegangen in einer Ökumene des glaubenden Herzens. Mit Reinhold Schneider hatten viele Christen gehofft, dass „Gott aus unsern Opfern Segen“ wirken werde. Not lehrt Beten. Doch mit der größten Not schien die Stunde der Beter vergangen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es Reinhold Schneider an Ehrungen nicht gefehlt. Das hätte ihn skeptisch werden lassen müssen. Denn in seinem Namen feierte sich das westdeutsche Bürgertum als widerständig. Reinhold Schneider war mit weißer Weste durch die braune Zeit gekommen, ein Mann der Inneren Emigration, in der nun viele die Diktatur überlebt haben wollten. Reinhold Schneider aber blieb, der er war - ein schwermütiger Dichter mit einer tragischen Weltsicht, der seiner Berufung folgte. Entschieden sprach er sich gegen die Wiederbewaffnung aus und veröffentlichte seine Artikel auch in Ostdeutschland. Katholische Kreise forderten daraufhin seine Exkommunikation. Reinhold Schneider reagierte mit Humor und bezeichnete sich gegenüber seinem engen Freund Walter Nigg (1903-1988) als einen Ketzer und Narren.
Der reformierte Pfarrer Walter Nigg hat das Bild Reinhold Schneiders in der Nachwelt durch fünf biografische Portraits geprägt. Sie erstrecken sich über einen Zeitraum von 34 Jahren (1958-1982) und dokumentieren Hoffnungen und Illusionen im interkonfessionellen Dialog. Walter Nigg erzielte mit seinem Buch „Große Heilige“ (1946) eine beispiellose Wirkung unter katholischen Lesern. Auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe sind Albrecht Dürers „Betende Hände“ („Studie zu den Händen eines Apostels“ 1508) abgebildet. Geschult an Søren Kierkegaard und Fjodor Dostojevskij schrieb Walter Nigg in schonungsloser Offenheit von den Krisenerfahrungen der Heiligen, von realer und eingebildeter Schuld, von Frömmigkeit und Frömmelei, von Machtgelüsten und Ohnmachtserfahrungen, von der endlos scheinenden Nacht der Gottesferne und der Erfahrung des Lichtes. Niggs dramaturgisch gestaltete Heiligengeschichten wurden als Pilgerreisen der Seele gelesen. Kein Triumphzug zum Heil, sondern oftmals ein tragischer Labyrinthweg, der nach vielen Anfechtungen zur Mitte führt. Walter Nigg holte das wirkliche Leben in die Legende. Der Leser spürte, dass hier weder akademische Theologie noch seichte Spiritualität betrieben wurde. Denn Walter Nigg schöpfte aus der Fülle kulturgeschichtlicher christlicher Überlieferung und spiegelte sie mit dem eigenen bewegten Leben. So entstand ein authentisches Lebens- und Glaubenszeugnis. Das Kind aus einer „Mischehe“ war nach dem Freitod des katholischen Vaters und dem Krebsleiden der Mutter in sehr jungen Jahren Vollwaise geworden. Seine erste Frau und Mutter seiner Kinder litt unter schweren manisch-depressiven Schüben und nahm sich schließlich das Leben. Diese schmerzhaften Grenzerfahrungen gingen in Niggs Lebensbeschreibungen der Heiligen ein. Der reformierte Pfarrer zeigte die Bruchstellen des Lebens. Aber er wusste auch einfühlsam zu beschreiben, wie durch diese Risse neues Licht einbrach und eine Tiefendimension erschloss.
In Reinhold Schneiders tragischer Familiengeschichte erkannte Nigg eigene Grenzerfahrungen wieder. Die Eltern führten ein Nobelhotel in Baden-Baden. Als sie in der Währungskrise bankerott machten, verließ die Mutter ihren Mann. Reinhold Schneiders Vater erschoß sich. Der Selbstmordversuch des katholisch getauften und gefirmten Sohnes scheiterte. Schneider erlebte eine tiefe Glaubenskrise. Wie Reinhold Schneider, so ging auch Walter Nigg mit den Schicksalsschlägen produktiv um. Als Seelsorger einer ländlichen Gemeinde und Vater von zwei Kindern stand er fest im realen Leben. Nigg heiratete wieder. Seiner zweiten Frau sind „Große Heilige“ gewidmet. Als sie nach kurzer Ehe einem Krebsleiden erliegt, geht Walter Nigg wie der dänische Dichter und Pfarrer Nikolai Grundtvig eine dritte Ehe ein. Das geordnete Leben an der Seite einer Frau war ihm Voraussetzung einer nie versiegenden schriftstellerischen Produktivität.
In dem Privatdruck für die Vereinigung Oltner Bücherfreunde „Ein Ritter des Glaubens“ (1958) stimmt der Heiligenforscher einen hohen Ton an: „Reinhold Schneider war nahe an der Grenze der Heiligkeit.“ Seine Sendung sei die Versöhnung der Konfessionen:
„Er stimmte dem Gedanken völlig zu, dass sich heute innerhalb des Christlichen eine Gruppe bildet, die man nicht mehr mit den bisherigen Begriffen bezeichnen kann, zudem es kein gewollter Vorgang, sondern ein geistiges Ereignis unserer Zeit ist. Die in diesem Sinne Verbundenen können sich nach ihm nicht verlieren und auch nicht mißverstehen. Reinhold Schneider war ein Glied jener unsichtbaren Gemeinde, die in allen sichtbaren Kirchen vorhanden ist.“
Walter Nigg hatte allen Einladungen zur Mitarbeit an der ökumenischen Bewegung eine Absage erteilt. Denn die Einheit der Kirche ist allein Gottes Sache. Der Beter aber schaut in jene „Tiefen, die kein Aug’ entschleiert“ und erfährt die Ökumene schon heute als reale Gegenwart. Nigg nennt sie Ökumene des glaubenden Herzens. In ihr spielt die Frage konfessioneller Bindungen und Differenzen zwischen der katholischen Kirche und den Denominationen keine Rolle mehr. Diese überkonfessionelle Gemeinde ist eins, ohne einig sein zu müssen. Sie gehört zu den Stillen im Lande. Sie fordert auch keine Mahlgemeinschaft (Interkommunion), weil sie weiß, dass die Einheit in der Eucharistie als eigentliches Ziel der Ökumene nicht von dieser Welt ist. Nigg hat über diese Fragen intensiv mit Reinhold Schneider gesprochen. Deshalb zählt er ihn zu den Glaubensrittern der unsichtbaren Kirche.
Auch Hans Urs von Balthasar (1905-1988) arbeitete an der Gestalt einer neuen Heiligen. In der Konvertitin Adrienne von Speyr fand er ein Medium mit hochsensitiver Begabung, eine Schwester im Geiste der westfälischen Nonne Anna-Katharina Emmerick, die sich unter der Anleitung des Dichters Clemens von Brentano in ferne Zeiten und Zustände versetzen konnte und mit anschaulichen Erzählungen jene Leerstellen der Bibel füllte, die hier im Geheimnis blieben. Die Visionärin sah Jesus und Maria mit eigenen Augen. Was Clemens von Brentano nach ihrem Diktat auf vielen tausend Seiten niederschrieb, hielten die Leser für geoffenbarte Wahrheit, Literatur oder schlicht für Blödsinn. Auch an Adrienne von Speyr schieden sich die Geister - nicht erst, als ihr Seelenführer die Kunde von ihrer Revirgination verbreitete. Adrienne von Speyr diktierte nicht nur umfangreiche Kommentare zu den Büchern der Bibel, sondern schaute das innere Gebetsleben der Heiligen im Himmel.
Walter Nigg und Reinhold Schneider kannten diese Berichte aus dem entstehenden „Allerheiligenbuch“, weil sie ihnen durch Hans Urs von Balthasar zugänglich gemacht wurden. Nigg sah in dieser Literatur mit Beichtstuhlperspektive eine Indiskretion. Der gutmütige Reinhold Schneider erwehrte sich nicht der Bitte, Adrienne von Speyrs Werk zu besprechen. Hans Urs von Balthasar hatte ihn mit dem Angebot einiger Heiligenbilder auf Bestellung geködert. Aus dem gemeinsamen Sommerurlaub 1951 mit Adrienne in der Bretagne schrieb Hans Urs von Balthasar an Reinhold Schneider:
„Sie ist hier sehr glücklich, es ist ganz das, was sie sich träumte, und sie schenkt dafür neue Heiligenbilder, die wohl ihre besten sind. Sollten Sie ein paar Heilige von ihr wünschen, so schreiben Sie mir deren Namen.“
Walter Nigg und Reinhold Schneider trafen sich regelmäßig zu persönlichen Gesprächen. Hans Urs von Balthasar dagegen kannte die Biografie Schneiders nicht, als er zum 50. Geburtstags des Autors eine ideengeschichtliche Monografie vorlegte, in dem er das „Urkatholische“ seiner Sendung zu erkennen glaubte, „dass der unsichtbare Glaube und die sichtbare Geschichte nicht getrennt werden“. Schneiders größte Leistung sei „die Rückholung einer säkularisierten, protestantischen Geschichtsauffassung in den geheiligten Innenraum, in dem allein die Deutung des Geschehens gelingen kann.“
Zwischen Walter Niggs erster Würdigung und dem Aufsatz „Reinhold Schneiders Erbe“ (1969) liegt das Zweite Vatikanische Konzil mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen. Draußen auf den Straßen und in den Hörsälen rebellierten die Studenten. Ein linker Mob sprengte Vorlesungen und zitierte akademische Lehrer wie den Münsteraner Kirchenhistoriker Erwin Iserloh vor ein Tribunal. Als Ritter wider den Zeitgeist - auch innerhalb der Kirche - erhob Walter Nigg seine Stimme und schrieb den Namen Reinhold Schneiders auf seinen Schild. Im Pensionsalter und entbunden von allen Pflichten eines Gemeindepfarrers, folgte er nun den zahlreichen Einladungen zu Vortragsreisen. In Kirchen und katholischen Akademien wetterte er in guter prophetischer Tradition wider den Zeitgeist und die rebellischen Studenten. Schneider, so heißt es jetzt, war „ein Kämpfer gegen den Zeitgeist in und außerhalb der Kirche, er besaß den Mut, den augenblicklichen Modeströmungen ins Angesicht zu widerstehen. Ohne eine kämpferische Gesinnung werden die Christen von der allgemeinen Schlammflut zugedeckt, die gegenwärtig das Kostbarste der abendländischen Tradition fortzuschwemmen droht.“ Auch gegen die ihm unliebsamen damals viel aufgeführten Autoren wie Friedrich Dürrenmatt oder Peter Handke zückt er die heilige Lanze des Glaubensritters: „Noch viel weniger gesellte er (Reinhold Schneider) sich zu jenen dem Zeitgeist hörigen Schriftstellern, die mit Linkstendenz plus erotischen Schamlosigkeiten ihre Stilübungen zu machen pflegen und zuletzt dem Publikum die Zunge herausstrecken.“
Walter Nigg hatte entschieden Mut, sich unbeliebt zu machen. Er sprach von den geistigen Ruinen der späten Sechziger Jahre, „einem moralischen Trümmerfeld ohne gleichen“. Aber er schoß sich nicht nur gegen das entstehende Linkskartell ein, gegen „demonstrierende Jugend“ und „Gammler“, sondern auch gegen eine Kirche, deren Zeugnis von „verworrener Dürftigkeit“ sei, geprägt von Ratlosigkeit, Sinnentleerung und Substanzverlust. Walter Nigg blickte seiner Zeit scharf in die Augen und thematisierte die Folgen eines Traditionsabbruches und eines Bildungsverlustes, der sich noch radikaler entwickeln sollte, als er es ahnen konnte.
In seiner zweiten Rede über Reinhold Schneider wettert Nigg auch gegen die Ökumene. Keineswegs lebe man in einem ökumenischen Zeitalter. Ökumene sei nichts als ein Schlagwort. Die Ökumene, zitiert er Schneider, sei bei Gott im Himmel verwirklicht, daher liege „die Erreichung dieses Zieles nicht in unseren Kräften.“ Nur „die kleine Schar“ lebe schon heute in dieser überzeitlichen und überkonfessionellen Ökumene. „Trotz der verschiedenen Kirchenzugehörigkeit stehen sie einander ganz nahe, weil sie an einer Intensivierung, Verlebendigung des Christlichen und nicht an einer Verdünnung, Anpassung und Entmythologisierung interessiert sind.“
Walter Nigg blieb ein viel gelesener religiöser Schriftsteller, als Reinhold Schneiders Bücher selbst in den damals noch existierenden christlichen Buchhandlungen nicht mehr zu finden waren. Die geistige tabula rasa des Angebotes heutiger Buchhandlungen lag noch jenseits von Niggs Vorstellungskraft als er Gelassenheit gegenüber den „Neuigkeitsjägern“ empfahl:
„Wir kennen diese Neuigkeitsjäger, die sich immer nach dem neusten Schrei ausrichten; aber es ist unser ganzer Stolz, dass wir nicht so denken. Auf dem Gebiet des Geistes herrschen doch andere Gesetze, der abgeschmackten Zeitdienerei sind die ewigen Werte der abendländischen Überlieferung gegenüberzustellen. Wir kennen ein Brot des Lebens, das heute so notwendig ist, wie es gestern war und morgen sein wird. Im Bereich des Geistigen gibt es ein Dauerndes im Wechsel der Zeiten, von dem wir keinen Schritt abweichen, und wir stellen uns eher die Frage, ob wir innerlich stark genug sind, die Last des Erbes zu tragen. Wir geloben feierlich, zu Reinhold Schneiders Erbe unwandelbar zu stehen, mag kommen, was da kommen will, wir geben sein Vermächtnis nicht preis, wir wollen es der nächsten Generation weiterschenken, weil wir selbst von ihm beschenkt worden sind.“
Dieser Treueschwur übersieht nicht, dass der Glaubensritter in den Sechziger und Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Züge des Ritters von der traurigen Gestalt annimmt. Der Einsatz gegen den Zeitgeist gleicht immer mehr einem Kampf gegen Windmühlenflügel. Das verdrießt Walter Nigg in keiner Weise. Narr und Ritter folgen unangefochten ihrem Auftrag. 1973 erscheint ein drittes Portrait von Reinhold Schneider unter dem beschwörenden Titel „Was bleiben soll“. Der nun siebzigjährige Walter Nigg zeichnet zehn biografische Bilder von Wegbegleitern, die für ihn zum geistigen Erbe gehören. Ich nenne hier die Namen. Möge der Leser selbst überprüfen, welcher Name für ihn heute zu denen gehört, die geblieben sind: Hermann Kutter, Albert Schweitzer, Georges Bernanos, José Orabuena, Julien Green, Romano Guardini, Peter Wust, Reinhold Schneider, Martin Buber und Leo Schestow.
Die Studentenunruhen waren aus Walter Niggs Sicht ein Vorspiel des Terrorismus, der in den Anschlägen der RAF gipfelte. Die Zeit geriet aus den Fugen. Längst ging es nicht mehr um Fragen des kulturellen Kanons, um Bildungsauftrag oder ökumenische Fragen. Die Axt schien an die Wurzeln gelegt. Nigg rückte nun Schneiders letztes Buch in den Blick. Es trägt den Titel „Winter in Wien“ und berichtet von schweren Anfechtungen bis zu Erfahrungen des Glaubensverlustes. Nigg bringt es auf den Punkt: Reinhold Schneider sei an der Schöpfungsordnung irre geworden, er habe sich im Widerspruch zu seiner Zeit buchstäblich aufgerieben und sein Leben geopfert.
„Was am gegenwärtigen Generationenkonflikt so tief beunruhigt, ist die Tatsache, dass Alt und Jung das gemeinsame Erbe des Abendlandes aus den Augen verloren haben, was bei den früheren Auseinandersetzungen nicht der Fall war. Beide Teile haben die tieferen Wurzeln vergessen, sie kennen die unzerstörbare Mitte nicht mehr. Es ist töricht, über die heutige Jugend mißbilligend den Kopf zu schütteln, und noch törichter ist es, um ihre Gunst zu buhlen, indem man all ihren Albernheiten zustimmt. Wir haben vielmehr den jungen Leuten die abendländische Tradition wortlos und glaubwürdig vorzuleben.“
Im Jahr des deutschen Herbstes veröffentlichte Walter Nigg sein berühmtes Engel-Buch. Der Titel zitiert eine Bach-Kantate (BWV 19) und nimmt unüberhörbar Bezug auf die terroristische Bedrohung jener Zeit. „Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir“ (1977) ist eine Kulturgeschichte der Engel ohne jene spirituellen Selbstbespiegelungen, die nach der Jahrtausendwende durch Engelbücher in Mode kommen sollten. Nigg glaubte an Engel als Boten einer anderen Welt, die wirkmächtig in das weltliche Geschehen eingreifen können. „Kein dichterisches Werk entsteht ohne Hilfe des Engels“, schreibt er in seinem vierten Portrait des Freundes. „Reinhold Schneiders Glaube“ (1978) deutet seine Sendung im Kontext der spanischen Mystik und der Erfahrung der dunklen Nacht der Abwesenheit Gottes: „Wir sind in eine Stunde eingetreten, in der die Bilder, die Zeichen erloschen sind und trostloses Grau wie eine Krankheit das Leben befallen hat, der Mensch lebt in der letzten Situation.“ Nüchtern und im Blick auf die Zukunft recht realistisch wird auch die Ökumene beurteilt: „Sie wird nicht durch Diskussionen und Kommissionen bewerkstelligt, das haben die Religionsgespräche in der Vergangenheit genügend bewiesen.“ In seinen düsteren Rechenschaftsberichten „Verhüllter Tag“ (1954), „Der Balkon“ (1957) und „Winter in Wien“ (1958) habe Reinhold Schneider im Geiste die Agonie des Christentums in der Jahrtausendwende durchlitten:
„Was wir gegenwärtig an auflösendem und verhärtendem Geschehen erleben, ist, tiefer gesehen, in der Sprache der spanischen Mystik ausgedrückt, eine ganz schwere, geradezu würgende Trockenheitsperiode. Die Quellen sprudeln nicht mehr, das frische Wasser fehlt, und deswegen wirkt sich diese Durststrecke zu einem so bedrückenden Erlebnis aus, das wir seelisch-geistig fast nicht zu bewältigen imstande sind.“
Hans Urs von Balthasar sah bei Schneider keine Teilnahme an der mystischen Nacht des Glaubens, sondern nur ein Überwältigwerden durch die angeborene Schwermut und einen Rückfall in frühe nihilistische Phasen. „Winter in Wien“ sei aus sehr niedrigen Motiven ein Bestseller geworden. Eine heimliche Freude an Schneiders Agonie und vermeintlicher Apostasie habe das Interesse der Leser bestimmt. Hans Urs von Balthasar sieht sich zu einer Überarbeitung seiner Schneider-Monografie gezwungen. Urkatholisch sei der späte Schneider nicht mehr. Vielmehr habe er einen Rückfall in die Welt des protestantischen Zweifels Kierkegaardscher Prägung erlebt. Keine mystische Dunkle Nacht des Glaubens, „die ein übernatürlicher Entzug tiefer, seliger Gotteserfahrung ist“, sondern „vor allem intellektuelle Einsichten, die zur Verdunkelung des Gottesverhältnisses führen: das unbegreifliche Leiden der Kreatur, die sinnlose, nie abgetragene Schuld geschichtlichen Daseins, die Unfasslichkeit der kosmischen Dimensionen, die Welt als ‚rotierende Hölle‘, als Prozess des Fressens und Gefressenwerdens. Dies alles verdunkelt ihm das Antlitz des liebenden Vaters, aber, was er vor sich hat, ist nicht, wie in der Dunklen Nacht, der abgewendete oder entschwundene Vater Jesu Christi, sondern ‚die schreckliche Maske des Zerschmeißenden, des Keltertreters‘.“
Walter Nigg überlebte den Freund um dreißig Jahre. Von seiner eigenen reformierten Kirche hatte er innerlich längst Abschied genommen. „Ich habe mein Leben im Dienst der Kirche zugebracht. Wenn ich aber heute an einem Gottesdienst teilnehme, gehe ich mehr oder weniger traurig nach Hause. Die Kirche hat ihr Thema verloren und versucht sich weltklug der gegenwärtigen Situation anzupassen“, bekennt er gegenüber Axel Springer, dessen Seelsorger er nach dem Freitod des Sohnes Sven Simon (Axel Springer junior) geworden war. Von den offiziellen ökumenischen Annäherungsversuchen seiner Tage hielt er weniger denn je. „Die nachkonziliare Epoche ist auf der ganzen Linie durch Unsicherheit, Verwirrung und Ratlosigkeit gekennzeichnet. Es ist unsere vordringliche Aufgabe, diesen Zustand zu überwinden, was freilich weder durch eine reaktionäre noch durch eine progressive Haltung geschehen kann“, schreibt er in seinem letzten Schneider-Portrait. Es trägt den Titel „Vergängliches und Unvergängliches: Reinhold Schneider“ (1982).
Im Laufe seines langen Berufslebens hatte Walter Nigg ungezählte Abdankungsreden am Grab seiner Gemeindemitglieder gesprochen. Diese waren geschätzt, weil in ihnen der Verstorbene vor dem Horizont der Ewigkeit gesehen wurde. Ein Purgatorium dieser Art ist auch Niggs letzte Rede auf den Freund. Sie benennt das Zeitbedingte und betont das Bleibende seiner Sendung.
Vergängliches: Schneiders Dramen. Bestenfalls Lesedramen, aber auf der Bühne nicht zu genießen!
Vergängliches: Die Reinhold-Schneider-Gesellschaft. Rückwärts gewandte Idealisierung! Einbalsamierung und Errichtung eines Mausoleums! Die Feiern zum 75. Geburtstag waren „Begräbnisse erster Klasse“. Man müsse „Reinhold Schneider aus den Händen der Gartenzwerge befreien“.
Vergängliches: Die neuen religiösen Bücher über Zen-Meditation, Theologie der Befreiung, Politisches Nachtgebet: „heute schon Makulatur“! Der religiöse Buchmarkt, das Angebot der Kirchentage: Ein Augiasstall! Verlust des Wesentlichen. Dafür religiöse Unterhaltungsmusik.
Bei aller Hochachtung für Reinhold Schneider vermisste Nigg die erotische Dimension in seinem Leben und Werk. Dafür machte er Anna Maria Baumgarten verantwortlich, „die ihn besitzen wollte und nicht losließ und von der er sich in seiner Weichheit nie zu befreien vermochte. Diese sich vordrängende Dame inspirierte ihn nicht im geringsten; sie verwaltete seinen Nachlass unwürdig und ist deshalb nur am Rande seiner Biographie kurz zu vermerken. Er selbst hat sie in seinen autobiographischen Schriften nie erwähnt.“
Unvergängliches: Die Erfahrung des Scheiterns und der Demut. Der Gewinn von Bescheidenheit, Geduld und ein Offenwerden für den Willen Gottes. Dein Wille geschehe! Johannes Rau sagte es in dem zitierten Gespräch mit diesen Worten: „Das meine ich mit der Dimension der Transzendenz und der Eschatologie. Der Kern der christlichen Botschaft ist nicht die Bewahrung dessen, was ist, sondern die Freude auf das, was kommt. Und auf den, der kommt. (…) Ich kann den Kirchen nur raten, den Mut zu haben, Kirche zu sein und nicht zu Sozialverbänden zu mutieren.“
Reinhold Schneider hatte die Wiederkehr Christi vor Augen, als er das Sonett von der Macht des Gebets schrieb. Den Betern allein könne es gelingen, das Weltgericht abzuwenden. Diese theologische Deutung der Geschichte ist heute weitgehend verpönt. Im Vordergrund kirchlichen Engagements stehen ethische und psychologische, ökologische und genderspezifische Fragen. Die Erfahrung des Klimawandels führt daher nicht in eine eschatologische Dimension. Es herrscht keine „Freude auf das, was kommt“, sondern jene atemlose Panik, die Greta Thunberg in Davos beschworen hat. Welcher Geistliche würde heute die Corona-Pandemie auf endzeitlichem Horizont zu deuten wagen und ihr eine Mahnung Gottes zur Umkehr entnehmen? Wer würde im Angesicht des Endes von dem Frieden der Seele predigen, der wichtiger ist als alle Impfstoffe?
Die Stunde der Beter ist wieder gekommen. Reinhold Schneider hat ein unvergängliches Gedicht für Krisenzeiten geschrieben. Heute in der Corona-Pandemie ist es eine starke Zumutung, weil es in einen Zwiespalt führt: Alles tun müssen und doch nicht alles tun können. Es gibt kein Leben ohne Schuld. Aber diese Erfahrung von Schuld ist bereits eine Erfahrung von Gnade.
Die Wirkungsgeschichte des Sonetts ist noch nicht geschrieben worden. Sie würde die geheimen und oftmals überraschenden Wege des Wortes aufzeigen. Ernst Jünger (1895-1998), der im hohen Alter in die katholische Kirche eintrat, las während des Weltkrieges zwei Mal die gesamte Bibel. Spuren dieser Lektüre sind in seinen Tagebüchern mit dem Titel „Strahlungen“ zu finden. Doch auch Reinhold Schneiders Sonett muss ihn erreicht haben. Unter dem Eindruck der Bombardierung von Paris durch alliierte Flieger notiert er am 31. Dezember 1943 in sein Tagebuch:
„Von allen Domen bleibt nur noch jener,
der durch die Kuppeln der gefalteten Hände gebildet wird.
In ihm allein ist Sicherheit.“
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Das Meer der Seele
Ulrich Schacht (1951-2018) im Spiegel seiner arktischen Gedichte
„Dieses Ruhig-Werden-Können am Meer kann man nicht erlernen;
man kann es nur finden: in sich selbst.
Deshalb ist jede Reise ans Meer Ausdruck der Sehnsucht,
sich selbst zu begegnen - in einer Stille,
die selbst noch im Brandungslärm unüberhörbar herrscht.“
Ulrich Schacht. Über Schnee und Geschichte
Undine Wolff und Ulrich Schacht in Viarpshult /Sverige (2017): In memoriam!
Ulrich Schacht erblickte am 9. März 1951 im Frauengefängnis Hoheneck das Licht der Welt. Der Hinweis auf diesen Geburtsort hinter Gittern galt ihm als eine Verpflichtung zur Erinnerung an das Leben in der DDR. Dieser Auftrag wurde 1973 noch verstärkt durch eine fast vierjährige Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ in der U-Haftanstalt der MfS-Bezirksverwaltung Schwerin sowie in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden. Als jugendlicher Mitarbeiter kirchlicher Kreise hatte er die Herausgabe einer kleinen Zeitschrift geplant. Am 17. November 1976 wurde Schacht durch Vermittlung der Berliner Kanzelei von Jürgen Stange von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Er arbeitete für die Welt am Sonntag und andere Organe, veröffentlichte mit Heimo Schwilk die Debattenbücher „Die Selbstbewusste Nation“ (1994) und „Für eine Berliner Republik“ (1997), quittierte den Dienst in Springers Imperium und zog sich 1998 mit seiner zweiten Frau Stefanie nach Förslöv in die ländliche Idylle von Südschweden zurück.
Schachts Mutter Wendelgard Schacht hatte sich 1950 in einen russischen Besatzungsoffizier verliebt und wollte mit ihm in den Westen fliehen. Das galt in der frühen DDR als „Verleitung zum Landeshochverrat“. Schacht hat auf das Unrecht schreibend reagiert. In den „Hohenecker Protokollen“ (1984) dokumentiert er Aussagen zur Geschichte der politischen Verfolgung von Frauen. Unter den Portraitierten findet sich auch Schachts erste Frau Carola Gilek. Die Tochter einer Balletttänzerin und eines Kapellmeisters wurde wegen des Verdachtes der Vorbereitung zur Republikflucht verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert. 1976 kam sie nach Hoheneck und wurde im gleichen Jahr vom Westen freigekauft. In Hamburg heiratete sie Ulrich Schacht.
Seinen Vater Wladimir Jegorowitsch Fedotow wird Ulrich Schacht erst ein gutes halbes Jahrhundert später im russischen Schalikowo 100 Kilometer westlich von Moskau kennenlernen. Die erste Begegnung ist zugleich eine mediale Inszenierung. Der Sohn reist mit einem holländischen Filmteam an und interviewt den Vater am Gartenzaun seiner Datscha. Darüber wird er Jahrzehnte später auch in seinem Buch „Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater“ (2011) berichten.
Ulrich Schacht kultivierte seine Knasterfahrungen und zog aus ihnen die Legitimation zum Widerspruch. Auch war er ein Meister der dramatischen Gesten. Als Schriftsteller und Journalist wusste er die Medien zu bedienen. Das spricht nicht gegen die Wahrhaftigkeit seiner Empfindungen. Seinem Temperament gemäß gestaltete er sie in Pathosformeln. Bilder aus den hohen Breitengraden der Arktis verdichten Erfahrungen innerer Bewegtheit. Sie haben Form gewonnen in einem lyrischen Werk, das er selbst für nobelpreisverdächtig hielt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Schacht unmittelbar nach der Begegnung mit dem Vater seine erste Fahrt in die russische Arktis unternimmt. Der Archipel von Franz-Josef-Land wird zu seiner Seelenlandschaft.
Die schönsten seiner Gedichte beschreiben epiphane Momente im menschenleeren Raum der nordischen Landschaften aus Licht und Eis. In diesen Eiswüsten finden Selbst- und Gottesbegegnungen statt:
„LICHT, gespeichert im
Kristall: Schnee hellt die
Nacht - aus dunkler Quelle
lodert der Feuerkern des Eises.“
Schacht reagiert auf die Erfahrung des Heiligen in der Natur. Er sieht die Spuren des Schöpfers auch im winterlichen Garten seines Hauses im südschwedischen Skåne. Sie werden ihm zur Ikone. Die Natur als sakraler Raum. Der Dichter verbeugt sich in tiefer Demut vor Gottes Gegenwart:
„Schnee in der Luft die
Sonne sinkt ins Meer, von Osten
her ertrinkt die Welt im
Weiß. In Pfützen glänzt das
Eis vorm Haus die weißen Tische
Stühle - längst verschwunden. Schnee
in der Luft er deckt die
Schnitte Wunden wenn er
fällt, von Osten her ertrinkt die
Welt in Schweigen: Aufsteigen bis
ins All. Lautloser Fall. Tiefstes
Verneigen.“
Ulrich Schacht wuchs in der Hansestadt Wismar auf. Hier machte er eine Bäckerlehre und fand eine geistige Heimat in der evangelischen Gemeindearbeit. Aus diesen frühen Jahren rührten Freundschaften wie die zu Joachim Gauck, der später nach Schachts zweiter Eheschließung in der Marienkirche von Båstad eine Rede hielt. Schacht studierte nach verschiedenen Tätigkeiten Evangelische Theologie in Rostock und Erfurt. Ohne Abitur wurde er als Seiteneinsteiger zugelassen. Das Studium war keine Flucht aus der Zeit in einen kirchlichen Freiraum. Doch merkte Schacht bald, dass er einen anderen Weg gehen musste. In dem Theologen Peter Heidrich (1929-2007) fand er einen überragenden Lehrer, der ihn fordernd förderte, indem er dem jungen Lyriker seine Grenzen aufzeigte. Schacht hat ihm in seiner Novelle Grimsey (2015) ein Denkmal gesetzt. Heidrich erhielt erst im Jahr 1990, in einem Alter, wo andere Professoren an den Ruhestand denken, einen ordentlichen Lehrstuhl. In der DDR unterrichtete er die alten Sprachen Latein und Griechisch. An dieser sprachlichen Hürde scheiterte Schacht. Die Prägungen durch Peter Heidrich waren anderer Art. Der Lehrer war Mitglied der evangelischen Michaelsbruderschaft, die das Luthertum mit der Feier der Messe in geistiger Nähe zum Katholizismus lebte. So wurde Schacht zu einem Prediger wider den Zeitgeist - auch in der Kirche. In seinem Buch Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011 rechnet er nicht nur mit der evangelischen Kirche ab:
„Übrig ist eine Art Kirchenruine, in der jeder Pastor Papst ist, Bischöfe machtlose Grüßauguste und synodale oder kirchenamtliche Verlautbarungen sich kaum noch von politischen unterscheiden, vor allem in ihren politisch-korrekten Absurditäten und linksseligen Verstiegenheiten. (…) Der nicht-häretische Teil des deutschen Protestantismus könnte, mit der entsprechenden „Melanchthon“-Formel und in eigener Gestalt, unter die Fittiche Roms zurückkehren, wie Teile der Anglikanischen Kirche es gerade zu vollziehen beginnen, und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nomen est omen, sowie die Riege der zeitgeistrunkenen Priester, Bischöfe und Theologieprofessoren bleiben Rom zukünftig erspart. So könnten die einen dann weiterhin konzentriert Gott dienen und dadurch der Welt ein normatives Beispiel geben, die anderen aber unentwegt die Welt retten und dabei Gott links liegen lassen oder überholen, bis sie ein weiteres mal des Teufels ist.“
Ulrich Schacht war ein Kind des Ostseeraumes. Hier befindet sich der Katholizismus in der äußersten Diaspora. Doch schärft das Leben an der Grenze zuweilen den Blick auf das Wesentliche. Schacht hatte eine katholische Seele. In seiner Naturlyrik beschreibt er die Erfahrung des Schöpfers. Um Erlösung von Schuld und Sünde geht es in seinem autobiographischen Wenderoman Notre Dame (2017). Er beschreibt eine verhängnisvolle Leidenschaft im Kontext des Mauerfalls. Sie führt zur Zerstörung der Ehe des Protagonisten und zu einem Selbstmordversuch der Geliebten. Schacht verehrte die Muttergottes, und so ist es kein Zufall, dass sein alter ego in einer Frühmesse der Pariser Kathedrale Notre Dame Vergebung sucht und finden. Es weiss, dass allein „ein Priester, ein geweihter Mensch, dem die Gabe gegeben war, etwas zu verbinden, was immer wieder riss, aufriss“ seine Schuld in Christi Namen vergeben konnte.
„Alles, was er hörte, auch wenn es in einer fremden Sprache ertönte, verstand er; alles, was er sah an Zeichen, Gesten, Ritualen, auch ihre Fülle, der Glanz, den sie verbreiteten, den Erfahrungen seiner eigenen Kirche nicht entsprach, war ihm vertraut. Die heiligen Worte, die verlesen wurden, der Weihrauch, der aufstieg, die Musik, die Gebete, sie erfüllten den riesigen Raum, in dem auch er seinen Platz gefunden hatte, nicht nur abstrakt mit Sinn, sie erfüllten ihn auf überwältigende Weise mit sinnlichem Sinn: zu hören, zu riechen, zu schmecken von der einzigen Wahrheit, die trösten konnte, vergeben, bedurfte es des Trostes, der Vergebung.“
Ulrich Schacht hat in den letzten vier Jahren seines Lebens an diesem Roman gearbeitet. Der Gedanke einer Konversion hat ihn nie ernsthaft bewegt. Doch erkannte und verteidigte er den Primat des Papstes. Das falsche Papsttum sitze nicht mehr in Rom, sondern in der DNA einer von Luther abgekehrten protestantischen Kirche, „die aus dem zeitbedingt von Luther proklamierten Priestertum aller Gläubigen leider ein Papsttum aller Priester hat werden lassen“. Es werde Zeit, „nach einem halben Jahrtausend Kirchentrennung mit der eigenen ekklesiologischen Unfehlbarkeitsversuchung und ihren desaströsen Folgen konsequent ins Gericht zu gehen“, schreibt Schacht in Über Schnee und Geschichte (24. August 2007).
Er tat dies auch durch die Gründnung des Ivenack-Orden, einer evangelischen Bruderschaft mit katholisierender Ausrichtung, im dänischen Marielyst/Falster (1987). Ihm stand er als selbst ernannter Großkomtur „Bruder Wismar“ vor. Schacht orientierte sich gerne an den Büchern von Friedrich Heiler. Der katholische Marburger Religionswissenschaftler hatte in den Zwanziger Jahre am lutherischen Abendmahl der schwedischen Kirche teilgenommen und damit eine Exkommunikation riskiert. In seinem Werk „Der Katholizismus“ hatte er das Konzept einer „evangelischen Katholizität“ entworfen. Doch in der evangelischen Kirche kann man nicht katholisch sein. Das wusste Ulrich. Aber es störte ihn nicht im geringsten. Auf verlorenem Posten fühlte sich der ökumenische Grenzgänger pudelwohl.
Der ursprüngliche Ordensname nahm Bezug auf die Ivenacker Eichen, Deutschlands älteste Bäume. Als Schacht eine landeskirchliche Anerkennung seines Ordens suchte, musste er diesen allzu deutschnational klingenden Namen aufgeben. Aus dem Ivenack-Orden wurde die Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden mit Sitz im Erfurter Augustinerkloster. Die Wahl von Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer als Ordensheilige schuf die notwendige Akzeptanz und Finanzierung durch die Landeskirche.
Im Jahr des Mauerfalls hatte Ulrich Spitzbergen besucht. Franz-Joseph-Land lag damals noch im militärischen Sperrgebiet. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich für wenige Jahre ein Zeitfenster, das er für seine Künstlerexpeditionen (1991, 1992, 1993, 1995) nach Novaja Semlja, Severnaja Semlja und Franz-Joseph-Land nutzte. An der letzten Reise in das Land hinter Lethe durften Heimo Schwilk und ich als Gäste teilnehmen. Dann wurde das Inselreich, auch wegen der atomaren Verstrahlung weiter Regionen der Kara-See, wieder zum militärischen Sperrgebiet erklärt.
Am 16. Juli 1995 trafen sich in Hamburg die schwarz gekleideten Ordensbrüder. Am Vorabend des Fluges hielten sie eine letzte Abendmahlzeit. In schwarzer Schrift waren auch die Aufkleber mit dem Zeichen des Ivenack-Ordens gehalten. Jeder hatte sie auf seine Gepäckstücke zu kleben. Von Hamburg flogen wir über Kopenhagen nach St. Petersburg. Dort startete eine Antonov-26 zum Flug nach Sibirien. Die Reisezeit wurde mit acht bis zehn Stunden angegeben. Am Ende waren es zwölf. Beim Flug in den Osten werden die Uhren um sechs Stunden vorgestellt, besser noch, der Reisende legt sie ab. Denn was bedeutet Zeit in diesen gewaltigen Räumen? Alles ist hier ohne Maß.
Wie das Wetter des Nordlandes in Minutenschnelle wechseln kann, so der Kurs der russischen Währung. Zwei Zwischenlandungen sind auf dem Flug nach Dickson nötig, doch selbst der Pilot weiß beim Start nicht, wo sie stattfinden werden. Während der Reise über menschenleere Landschaften wird er bei verschiedenen Flughäfen den besten Benzinpreis erfragen. Wir fliegen in Richtung Archangelsk über die ehemaligen Vernichtungslager aus stalinistischer Zeit. Weit unten liegen die Solowki-Inseln, auf denen Pawel Florenski verbannt worden war. Edzard Schaper hat das Schicksal der verfolgten Christen in der Sowjetunion in seinen karelischen Erzählungen und seinem Roman Die sterbende Kirche (1936) beschrieben.
Im Juli 1931 flog Arthur Koestler als Korrespondent des Ullstein Verlages mit dem „Graf Zeppelin“ über die Welt der Lager in Richtung Franz-Joseph-Land. Ziel der Reise war die Stille Bucht der Hooker-Insel, wo das deutsche Luftschiff auf den sowjetischen Eisbrecher Malygin treffen sollte. Ulrich Schacht hatte eine kleine Reisebibliothek zusammengestellt, darunter Friedrich Sieburgs Bericht Die rote Arktis (1932) über die Fahrt mit der Malygin. Das Verwaltungszentrum der roten Arktis und ihrer Straflager war Archangelsk. Wir dürfen die Stadt nicht betreten. Sieburg hatte über Archangelsk berichtet: „Die Kirche ist in ein antireligiöses Museum umgewandelt, ihr weißgekalkter Bau liegt in einer kleinen Anlage, die der Aufenthaltsort der Säufer, Bettler, Tagediebe und Obdachlosen von Archangelsk ist.“
Wieder in der Luft feierten wir die Überquerung des nördlichen Polarkreises mit zuckersüßem Schaumwein aus rosafarbenen Hartplastikschalen und einem Apfelstückchen. Amderma meldet 8 Grad. Wir betreten das Reich des Permafrostes. Im Sommer taut der Boden nur bis zu einer Tiefe von zwanzig Zentimetern auf. Aus Schutz vor der Bodenkälte steht das Flughafengebäude auf Pfeilern. Die Stufen sind vom Frost zersprengt worden, das Rollfeld zeigt tiefe Risse. Aus unerfindlichen Gründen verweigert unser Zielflughafen Dickson die Landeerlaubnis. So verzögert sich der Weiterflug um zwei Stunden. Gelegenheit, zwischen schrottreifen Maschinen und Öllachen zu gehen. Am Flughafengebäude die alte Parole: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird immer leben.“ Das Portrait des Diktators ist vom Frost zerfressen worden. Wir erleben den Untergang der roten Arktis.
Das Militärlager Dickson erreichen wir nach Mitternacht. Unter Stalin war Dickson ein Gulag. Während des Kalten Krieges lebten hier 1500 Soldaten, jetzt sind es nur noch zehn. Wieder grüßt ein verwitterter Lenin. Um zwei Uhr nachts steht die Sonne leuchtend am Himmel. Wir steigen durch eine Trümmerwüste. Eine apokalyptische Landschaft wie die Zone in Andrej Tarkowskijs Film Stalker. Aufgeplatzte Leitungsrohre, verlassene Häuser, verrostete Kettenfahrzeuge, tonnenweise Schrott, dazwischen Hinweisschilder auf radioaktive Strahlung. Draußen auf dem Grund der Karasee liegen nukleare U-Boote. Neue, noch verpackte Gerätschaften verwittern bereits am Straßenrand, eine Lieferung von Heizkörpern liegt vor den Häusern und dient als Fußabtreter.
Am Kap Tscheljuskin ist nur eine Zwischenlandung geplant. Ein eisiger, naßkalter Wind fährt durch das nebelverhangene Lager. In gefütterten Gummistiefeln waten wir durch den Schlamm, während der Hubschrauber aufgetankt wird. Auf einem Schild der Hinweis auf das Rauchverbot. Bei Zuwiderhandlung werden zwei Monate Entzug der Zuckerration angedroht. Der Tankwart raucht dennoch, denn Zucker gibt es hier auf verlorenem Posten schon lange nicht mehr. Russland hat für die Heimkehr seiner arktischen Arbeiter kein Geld. Aus der Nebelwand taucht ein blutverschmierter Samojede mit einem Knochen in der Schnauze auf. Sofort verbeißen sich sieben Bestien ineinander. Mit groben Fußtritten versucht sie der Tankwart auseinander zu treiben.
Fünf Eisbären seien im Gelände gesichtet worden, heißt es plötzlich. Da sie unter Naturschutz stehen, dürfen sie nicht geschossen werden. Eisbären kennen keine natürlichen Feinde. Sie gelten als unberechenbar und extrem schnell. „When you have seen them, you are dead!“, sagt Martin Harris, Meteorologe aus Oxford, der hier oben Wettersatelliten aussetzen will. „Wenn Du einen Eisbären siehst, fängst das Leben erst richtig an!“, meint Ko de Korte, ein holländischer Ornithologe und Zyniker. Er lebt von den wenigen Reisegruppen, die er in die Arktis führt, und verachtet zugleich den Menschen, der seinen Fuß in das Vogelparadies setzt.
Unerwartet bietet sich die Möglichkeit, die Polarstation Fedorov und das Denkmal am Kap zu besuchen. Viktor schultert die Kalaschnikov und beordert einen Lastwagen. Wir legen uns auf die hölzerne Ladefläche und klammern uns während der holprigen Fahrt aneinander, um nicht abgeworfen zu werden. Durch die Risse in den Balken spritzt der Eisschlamm. Am Kap Tscheljuskin sind viele Entdeckungsreisende der Arktis gescheitert oder durch das Eis an der Weiterfahrt gehindert worden. Direkt am Ufer haben Soldaten auf hohen Wachtürmen Position bezogen. Vor ihren Augen gleiten Eisblöcke vorbei. Die breite Urinspur eines Eisbären zieht sich über eine Schneewehe. Grüne Steine mit langer gleichmäßiger Maserung liegen auf dem Boden. Einige Stellen sind mit leeren Patronenhülsen übersät. Zwei mannshohe Steintürme und ein aufgerichteter Baumstamm mit roten Farbstreifen markieren den Ort: 77° 42’ 07’’ nördlicher Breite, 104° 8’ Länge. Musik und Dialogfetzen der Radiostation durchdringen lautstark die Eiswüste. Wir frieren trotz der Spezialkleidung. Viktors Hals und Hände sind ungeschützt. Wärmende Kleidung wird den Soldaten nicht zugeteilt. Vielleicht geht deshalb die Zigarette im Mund niemals aus. Sechzig Kilometer von Kap Tscheljuskin entfernt befand sich ein Lager für politische Gefangene. Eine Ahnung von den Zuständen im GULAG läßt uns erschaudern.
Zehn Stunden dauert der Flug mit dem Hubschrauber MI-8 von Dickson über Kap Tscheljuskin ins Nordland. Ein gefährliches Unternehmen. Denn zwei MI-8 Hubschrauber sollten in diesem Sommer 1995 über dem Eis abstürzen. Aus zweihundert Metern Flughöhe gleitet der Blick über endlos scheinende Tundraweiten. Kilometerweit haben sich die Spuren der Kettenfahrzeuge in den Boden gefressen. Dreißig Jahre lang werden sie sichtbar sein. Das Leben ist empfindlich, und die kurzen Sommer schenken ihm nur wenig Blütezeit. Fünf Sommer dauert es, bis sich ein knospendes Blümchen entfaltet hat.
Niemand kann hier oben allein überleben. Alles Lebendige braucht Schutz. Die rotfarbene Flechte den Stein, das winzige Vergißmeinnicht die Grasnabe, der Eisbär die Schneehöhle, der Mensch den Hund und das Gespräch. Auch wir hocken dichtgedrängt zwischen den großen Benzintanks im Innenraum des Helikopters. Der Lärm der Rotorblätter ist ohrenbetäubend, die technische Ausrüstung wirkt überaltert.
Mir ist nicht zum ersten Mal auf dieser Fahrt ins Land hinter Lethe unwohl. Ein Ordensbruder kommentiert: „Man merkt auf Schritt und Tritt, dass du noch nie im Knast gewesen bist!“ Das stimmt. Jeder Ordensbruder hat „Knasterfahrung“. Offenbar schöpft er daraus eine innere Stärke und Gelassenheit. Sebastian Kleinschmidt bringt diese Erfahrung auf den Punkt:
„Wer im Gefängnis ist, erfährt Licht und Dunkelheit elementar. Schacht gehörte zu denen, die Energie daraus gezogen haben, auch als späterer Dichter. So wurde er Zeuge der Dunkelheit und zugleich Bote des Lichtes. Beides ist in sein Schreiben eingegangen. In fast allen seinen Gedichten, besonders denen über den Norden, ist das zu spüren.“
Auf alles waren wir nach den bisherigen Erfahrungen gefaßt, nur nicht auf den angenehmen Komfort der Radio- und Wetterstation „Prima“. Sie liegt auf Bolschewik, der südlichsten Insel des Nordlandes Severnaja Semlja. Ihre Entdecker nannten sie Swjataja Olga - Sankt Olga. Die Revolution löschte auch diesen Namen aus.
Vier Russen wohnen das ganze Jahr über auf Prima. Die Station über dem 79. Breitengrad kann nur im Monat August von Eisbrechern aus Murmansk oder Archangelsk versorgt werden. Prima beherbergt in diesem Jahr nur drei Reisegruppen. Das sei zum Überleben zu wenig, erklärt Vladimir Baranov in morgendlicher Runde. Unser Begleiter war Angestellter des berühmten Forschungsinstituts für Arktis und Antarktis in St. Petersburg und versucht nun einen sanften Tourismus aufzubauen. Auf den Tischen steht der köstliche Fisch, den wir am Nachmittag geangelt hatten. Oberhalb der Station befindet sich der See Osero Twerdoje. Er dient zur Trinkwasserversorgung und ist ganzjährig zugefroren. Im Sommer beträgt die Eisdichte 150 Zentimeter. Wir hatten Löcher gebohrt und Lachsforellen gefangen. Unsere russischen Begleiter ließen die Tiere auf dem Eis liegen, wo sie lange Maul und Kiemen bewegten. Einige von uns befremdete der Brauch, und sie baten, die Fische zu köpfen. Entsetzt wiesen die Russen das Anliegen zurück. Wie könne man nur einem so edlen Tier den Kopf abschneiden!
Severnaja Semljas Inselwelt erstreckt sich 360 km von Nord nach Süd und 324 km von West nach Ost. Gut die Hälfte der Fläche ist vergletschert. Rentiere, Eisbären, Schneehasen, Lemminge und Polarfüchse sind auf Severnaja Semlja zu Hause. An den steilen Felswänden der Fjorde brüten Seevögel. Einige Kolonien bestehen aus zehntausend Brutpaaren. Severnaja Semlja bietet ein abwechslungsreiches Landschaftspanorama. Sanftwellige eisfreie Hochebenen sind mit grünen Schiefertafeln bedeckt. Weder Grashalme noch Moose wachsen hier. Schwarze Flechten mit grauen Rändern bilden die ersten Spuren des Lebens zwischen den gewaltigen Brocken einer Geröllhalde. Der Frost hat die Steine aufgesprengt und steinerne Blütenornamente gebildet. Im Anorganischen prägen sie die Grundmuster des Lebens vor. Orangerot leuchtende Flechten ernähren sich von den Mineralien. Die Reise führt in den Anfang der Schöpfung zurück, als Wasser und Land gerade getrennt worden waren.
Himmel, Erde und Wasser fließen ineinander über. Farben und Formen wechseln in Minutenschnelle. Türkisblau und grauschwarz bricht der Gletscher auf. Jahrtausendelang wurde das Land von seinen Eismassen geknetet. Jetzt hat das Eis den fruchtbaren Lehm der Schöpfung freigegeben, einen Erdenkloß, dem zum Lebendigwerden nur noch der Anhauch Gottes fehlt. Keine Kamera kann das Farbenspiel des Urschlamms einfangen. In braunroten, ockergelben und lindgrünen Linien stürzen Berge den Canyon hinab. An ihren Rücken sind die Spuren des Walkens und Knetens deutlich sichtbar. Unten in den Schluchten murmelt rostfarbenes Wasser über rosige Gipsplatten. Nur laufend können wir uns in dieser Landschaft bewegen. Wer stehenbleibt, versinkt bis zu den Knien im Boden. Vor Jahrmillionen war die Arktis eisfrei. Käme heute tatsächlich ein dauerhafter weltweiter Umschwung des Klimas, hier oben wäre bereits der fruchtbare Boden für eine neue Entfaltung des Lebens gegeben. Die Arktis geht mit jedem Klimawandel kreativ um.
Auf Novaja Semlja haben russische Wissenschaftler Atomversuche durchgeführt und große Teile der Insel verstrahlt zurückgelassen. Während wir die Überreste des Winterlagers Het Behouden Huys von Willem Barents an der Nordspitze dieser Insel besuchen, wird weltweit gegen die geplanten französischen Atomversuche im Pazifik protestiert. Seltsame Gedanken überfallen den Reisenden. Es ist, als werde hier im Nordland bereits eine neue Schöpfung vorbereitet. Die arktische Landschaft ist weder schön, gewaltig noch erhaben, ihre Größe übersteigt alles Begreifen. Sie ist ein heiliger Raum, vor dem der Eindringling zurückschreckt. Es kommt auf den Menschen nicht an, selbst die von ihm geschaffenen Katastrophen und Zerstörungen wirken bedeutungslos vor der Erfahrung einer unergründlichen Schöpferkraft. Ulrich Schacht schreibt:
„Woher wir kommen bleibt unerschlossen:
Die Daten sind reine Zahl auf Papier.
Am Anfang des Lebens wird Blut vergossen;
am Ende erschrickt ein verwundetes Tier.
Auftauchen Verlöschen: Kometengewitter -
im Raum aller Spiele besiegt uns der Kreis.
Es gibt kein Gestade für jenen Ritter,
von dem unser Herz mit Gewißheit weiß.
Schweigen herrscht zwischen verlorenen Welten:
ihr Kreisen ist grundlose Trunkenheit.
Wann immer wir in unser Leben schnellten,
gewannen wir nichts und verloren die Zeit.“
Vor dem fünfstündigen Flug von Severnaja Semlja über das Eismeer nach Franz-Josef-Land werden die vier großen Tanks des Hubschraubers in Sredni aufgefüllt. Sredni gehört zu den Sedow-Inseln. Die Haut des Tankwartes auf der Militärstation ist vom Frost gezeichnet. Ein erfrorenes Lächeln legt die Zahnhälse und das rotbläuliche Zahnfleisch frei. Drei junge Frauen sind gekommen und blinzeln gegen die Sonne. In Sichtweite von Sredni liegt die Insel Domaschni. Hier stand in den dreißiger Jahren das Haus des russischen Arktisforschers Georgi A. Uschakov (1901-1963). Bären- und Walroßknochen liegen verstreut. Zwischen den letzten Balken des Hauses brüten die Elfenbeinmöwen. Sie gelten als Schutzengel der Arktis und Symbole der Unsterblichkeit. Sergej, der Funker, verweist auf die Schwingen der Elfenbeinmöwe, die er als Tätowierung auf dem Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger trägt. Wenn der Helikopter ins Wasser stürze, sagt er, kämen die Möwen und trügen unsere Seelen in den Himmel.
Nach zwei Stunden Flug besuchen wir den einsamsten Ort der Arktis, die verlassene Station Uschakova. Zwei Holzhäuser inmitten des Eismeeres auf einem Gletscher. Ziegelsteine sind vor einem Haus gestapelt, ein moosiger Eisbärenschädel liegt zwischen alten Zeitungen und leeren Flaschen.
Lebensmittelreste in der Vorratskammer. Wäsche hängt noch an der Leine und ein Feuerlöscher an der Wand. Mit weißem Pinselstrich sind die Umrisse eines nackten weiblichen Körpers an die Eingangstür gemalt. Doch schon beginnt eine dicke Eisschicht den Fußboden der Häuser zu überziehen. Über dem Hauptgebäude sind noch die Funkdrähte gespannt. Doch kein Mensch sendet aus diesem Eiland Botschaften, und auch die große Antenne empfängt keine Signale mehr. Auf ihren Drähten spielt der Polarwind das Lied von Nacht und Eis. In seinem Reisebericht Von weißen Nächten und roten Tagen (1934) spricht Arthur Koestler vom „Wahnsinn der Einsamkeit“ und dem „Eiskoller“. Als er die Fahrt des Zeppelins L 127 begleitete, war er soeben Mitglied der kommunistischen Partei geworden. Seinen Reisebericht wird er in der Sowjetunion veröffentlichen. Die Arktis beweise, dass der Mensch nur in der sozialistischen Gemeinschaft leben könne: „Wenn man alle Propheten des Individualismus und alle Poeten, die die Einsamkeit verherrlichen, von Nietzsche bis Rilke, zwänge, nur ein Jahr oben zu verbringen - der Individualismus würde bald ausgestorben sein.“ Ulrich Schacht hatte einen anderen Blick auf Schnee und Eis:
„SCHNEE FIEL in meinen Schlaf das weiße
Schweigen ließ mich erwachen und das
Haus verlassen: Auf keinem Weg kam ich
voran nur weiter wurde meine Welt durch
die ich lief kein Schatten den die Bäume
warfen sie waren weiß und wurzelten in
Licht, das ohne Quelle schien ein Vogelpaar
schrie sanft über die Ebene im scharfen Schnabel
kein verröchelndes Getier kein Rauschen schwerer
Flügel über aussichtslosen Fluchen, und langsam
ahnte ich: Das Paradies ist weiß, und nichts als
Schnee bettet die irrenden Geschöpfe.“
Franz-Joseph-Land wurde von dem böhmischen Offizier Julius Payer und dem Schiffsleutnant Karl Weyprecht aus Hessen entdeckt. Ihre Fahrt mit der „Admiral Tegethoff“ inspirierte Christoph Ransmayr zu einem Roman, den Ulrich Schacht auf seiner ersten Fahrt nach Spitzbergen (1989) las und verwarf. Unser Quartier auf der Station Krenkel (Hayes-Insel) befindet sich in einem desolaten Zustand, der alles in den Schatten stellt, was wir bisher gesehen hatten. Der Namensgeber, Ernst Krenkel (1903-1971), gehörte mit Pavel Molchanov und Rudolf L. Samoilowitsch (1881-1940) zu den wissenschaftlichen Leitern des ersten Zeppelin-Fluges nach Franz-Joseph-Land. Der LZ 127 Graf Zeppelin traf in der Buchta Tichaja - Stille Bucht der Hooker-Insel - auf den Eisbrecher Malygin. Die Forschungsstation an der Stillen Bucht wurde 1959 geschlossen. Dafür wurde unser Quartier neu errichtet.
Dass die Geschichte der Entdeckung der Arktis auch eine Geschichte des Scheiterns ist, wird plötzlich wieder bewußt. Willem Barents starb noch bei seiner Rückkehr von Novaja Semlja an Skorbut, Otto Krisch, Maschinist der Tegetthoff, liegt auf der Wilczek-Insel begraben, auf der Rudolf-Insel, dem nördlichsten Eiland von Franz-Josef-Land, liegt das Grab des Matrosen Sigurd Myhre, daneben der Propeller und andere Teile einer Antonov-26 und die Rotorblätter von zwei Hubschraubern. Als Franz-Josef-Land in den dreißiger Jahren von der Sowjetunion besetzt wurde, versuchte man sämtliche Spuren der bisherigen Erforschung des Archipels zu beseitigen. Planmäßig wurden amerikanische und norwegische Polarstationen eingeebnet. Wie unübersichtlich und wenig kontrollierbar die Inselwelt von Franz-Josef-Land jedoch ist, zeigt die Tatsache, dass inmitten des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten auf Alexandra-Land eine Militärstation errichten konnten, die erst in den sechziger Jahren entdeckt wurde. Inzwischen hat sie ein Gletscher unter sich begraben.
Dann erreichen wir Ulrich Schachts Sehnsuchtsort. Die Insel Bell Island am südwestlichen Rand einer stark vergletscherten Trümmerlandschaft prägt sich durch einen markanten Tafelberg dem Gedächtnis unmittelbar ein. Was Schacht in dieser Landschaft aufscheint, hat er in Bell Island im Eismeer (1991) verdichtet. Er hielt diesen Urtext aller arktischen Beschwörungen für sein wichtigstes Gedicht. Wie ein Schöpfungspsalm beschreibt er die Erfahrung des Geborgenseins in dem heiligen Raum:
„Wasser das
Wasser ist Weg zwischen
Stein und Gestein: Erdblut
ragt über das Eis geronnene
Zeit darauf der Himmel
lastet. Ich habe
gesehen, lichtweit, einen
Entwurf ohne mich und
ich war glücklich:
Kuppeln über der
Kuppel blühten aus
Nebeln blaue Bogen Wolken
Nester in denen die
Sonne sich zahllos
gebar, und eine
Stille der
ich zu glauben
begann.“
Stille herrscht in der arktischen Landschaft, aber kein Schweigen. Das ruhige Gespräch beim Eisangeln ist noch in weiter Ferne zu vernehmen. Aus den Fjorden steigt das Geschrei der Möwen empor. Die Walrosse grunzen und rülpsen am Meeressaum. Wer könnte die Worte des Windes übersetzen und den Gesang der treibenden Eisberge? Wer entziffert die Frostmuster der Steine? Die eisige Stille der Arktis bricht Felsen und versteinerte Seelen auf. Nach jahrelangem Schweigen beginnt mancher Pilger wieder das Gespräch mit Gott.
Wir sind die letzten Gäste auf der nördlichsten Wetterstation der Welt. Nach unserem Besuch wird die Station geschlossen werden. Sie liegt an der Teplitzbucht unweit des Kap Germania. Hier auf der Rudolf-Insel lebt ein Ehepaar. Krapfen, Gebäck, Brot, Butter, Marmelade und Tee werden aufgedeckt. Gesang ertönt. Der Funker hat ein kleines Museum eingerichtet: Steine, Eisbärenkrallen, Überreste der Ziegler-Expedition. Die Hausfrau führt uns durchs Gebäude. Im Schlafzimmer über dem Ehebett eine Muttergottes mit Jesuskind, dann durch einen Flur mit Nahrungsvorräten vor eine Tür, hinter der sich Unglaubliches verbirgt: Leinen- und ledergebundene Bücher, Regale vom Boden bis zur Decke gefüllt. Es mögen zehntausend Bände sein. Wir versuchen, die Buchrücken zu entziffern. Alles ist in diesem Hort der Kultur zu finden. Auch Goethe in der Arktis. Seit 1995 versinkt die Station in Schnee und Eis. Einst wurden hier Saurierknochen gefunden. Vielleicht werden kommende Geschlechter eines fernes Tages die Bibliothek der Weltliteratur unter dem Eis finden.
Auf der Jackson Insel erinnert eine Gedenktafel in russischer und norwegischer Sprache an Fridtjof Nansen und Fredrik Hjalmar Johansen, die hier vor genau einhundert Jahren neun Monate in Nacht und Eis überwinterten. Nach zwei Jahren Eisdrift mit der „Fram“ („Vorwärts“) hatten sie auf 84° 4’ nördlicher Breite das Schiff verlassen, um zu Fuß den Nordpol zu erreichen. Trotz unglaublicher Willensstärke scheiterte der Versuch, und nur einem guten Geschick hatten es die beiden zu verdanken, dass sie auf ihrem Rückweg Franz-Josef-Land erreichten. Auf Jackson ist noch der Fichtenstamm zu sehen, der als Firststück für ihre Winterhütte aus Stein, Eis- und Walroßfellen diente. Neun Monate dunkle Nacht, neun Monate, in denen nichts passiert, die Gedanken nichts mehr denken und das Herz im Schweigen versinkt. Was ist der Mensch? „Nur ein Staubkorn ist er vor der Macht, die alles, was wir sehen und nicht sehen, erschaffen hat, der Macht, die von Ewigkeit her alles regiert und in Ewigkeit alles nach ihren uns unfaßbaren Gesetzen regieren wird, der Macht, die uns auf dieser Reise so oft vom Untergange errettet hat!“, notiert Hjalmar Johansen in seinem Reisebericht. Noch immer ist die Arktis ein Ort der Selbstbegegnung und der Berührung mit dem Geheimnis der Schöpfung.
In seiner neuen schwedischen Heimat habe ich Ulrich immer wieder besucht. Das letzte Mal im Herbst 2017 mit Undine, meiner Frau. Ulrich führte uns in sein weiß gestrichenes Arbeitshaus. Es besteht aus einem großen Raum, vollgestopft mit Büchern. Eine Couch von Büchern bedeckt. Davor ein Tischchen mit einem Schachspiel. Dann zwischen Büchern eingemauert der Schreibtisch. Zur Linken an der Wand ein Bild Friedrich Schillers, eine Ikone mit der Darstellung der Ankündigung der Geburt Jesu, ein schlichtes Holzkreuz, Rubljovs Dreifaltigkeitsikone. Im Bücherregal hinter dem Schreibtisch Bilder und Postkarten: Die Sixtinische Madonna, Uta von Naumburg, Cranachs junger Luther, daneben Papst Benedikt XVI., weitere Marienbildnisse. Daneben eine grüne Postkarte mit der Bitte: „Herr, gib mir Geduld, aber zackig!“
Am Nachmittag fahren wir mit Stefanie und Ulrich ans Meer nach Hovs Hallar. Birgit Nilsson lebte hier. Es gibt auch ein kleines Museum. Aber die Saison ist schon vorbei. Wir gehen hinunter an die Steilküste. Die stark zerklüfteten Felsen erinnern an die Steinwüste von Franz-Joseph-Land. Ulrich herzt unseren Hund Tobit und bleibt auf einem dicken Felsbrocken sitzen, während wir weiter durch das unwegsame Gelände steigen. Hier auf der Halbinsel Bjäre drehte Ingmar Bergmann im Sommer 1956 den Film Das siebente Siegel. In Hovs Hallar wurde die Szene aufgenommen, in der Max von Sydow mit dem Tod Schach spielt.
Ulrich Schachts Frau hat auf der Todesanzeige ein Photo platziert. Es zeigt den Dichter, wie immer schwarz gekleidet, in einem winterlichen Buchenwald. Mit dem rechten Arm lehnt er seinen mächtigen Leib an einen Baum. Ganz klein wirkt Ulrich in dieser Landschaft. Beigegeben hat Stefanie Schacht dieses Gedicht ihres Mannes:
„Manchmal gibt der Wind den
Bäumen eine Stimme: Sie flüstern sie
ächzen sie schreien vor
Schmerz. Gefährten, sagen
wir dann, und wissen: Selbst
wenn wir die letzten Stimmen
wären wir wären, noch
immer, nicht einsam.“
Ulrich Schacht wurde auf dem Friedhof der Marienkirche von Båstad beigesetzt. Hier hatte er nach dem Ritus der schwedischen Staatskirche geheiratet. Bei einer Gedenkveranstaltung (2021) auf dem Anwesen von Heimo Schwilk in Grünow/ Uckermark sprach Sebastian Kleinschmidt, der langjährige Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“, von der enormen physischen und geistigen Präsenz des Freundes - auch nach dem Ende des irdischen Lebens.
Der Pfarrerssohn Sebastian Kleinschmidt sprach von der realen Gegenwart des Dichters: „So etwas geht nach dem Tod nicht einfach verloren. Wird so einer aus der Welt gerissen, erscheint sie uns wie amputiert. Aber das ist nicht alles. Als mich vor zwei Jahren die Mitteilung seines Todes erreichte, fuhr ich ans Meer und ging in eine Dorfkirche. Das war in Wustrow auf dem Fischland. Ich wollte für den toten Freund ein Gebet sprechen hinüber über die Ostsee nach Schweden. Als ich still für mich an dem leeren Gotteshaus saß und an ihn dachte, kam mir mit einem Mal der Gedanke: Seit du tot bist, ist für mich die Transzendenz bewohnt.“
*
Zitierte Werke von Ulrich Schacht:
Bell Island im Eismeer, Edition Rugerup. Berlin / Hörby. Schweden 2011.
Über Schnee und Geschichte. Notate 1983-2011. Matthes & Seitz. Berlin 2012.
Platon denkt ein Gedicht. Edition Rugerup. Berlin 2015.
Schnee fiel in meinen Schlaf, Edition Rugerup. Berlin 2021.
Zu seinem 70. Geburtstag erschien:
Thomas A. Seidel/Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.). Wegmarken und Widerworte. Ulrich Schacht zum 70. Geburtstag. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2021.
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- Uwe Wolff
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ROLF SCHILLING - Dichter der Inneren Emigration
(Neue Zürcher Zeitung vom 31. Dezember 1990)
Wer sagt, daß die besten Dichter und Denker die DDR verliessen, nur Angepaßte im real existierenden Sozialismus blieben und reüssierten, der kennt die Schubladenliteratur der Inneren Emigranten nicht, die nun nach der Öffnung der Mauer bekannt wird. Mit ihr hat niemand gerechnet und schon gar nicht mit einer siebenbändigen Werkausgabe eines Dichters, von dessen Existenz nur ein kleiner Freundeskreis wußte. Der 1950 in Nordhausen geborene Rolf Schilling legt mit den Bänden „Das Holde Reich“ und „Schwarzer Apollon“ Essays zur Symbolik vor, einen Band mit Huldigungen an seine literarischen Wegbegleiter, zu denen George, Wagner, Jünger und Borges gehören, Übersetzungen von Swinburne und drei Bände mit eigenen Gedichten und Dramen unter den Titeln „Scharlach und Schwan“, „Stunde des Widders“ und „Questen-Gesang“.
Sänger und Seher
Rolf Schilling ist ein unzeitgemäßer Kämpfer gegen seine Zeit, sein Werk eine totale Verweigerung. Die moderne Wirklichkeit, die Welt der Technik, die Sprache des Alltags sind darin vollständig ausgeblendet. Seit George wurde in deutscher Sprache nicht mehr so gedichtet.
„O sage mir, Späher
Im südlichen Hain,
Sind Sänger, sind Seher
Längst Sage und Stein?
Sprich, Hüter im Heilen,
Du Zierde des Rings:
Wo werden wir weilen,
Wenn Windzeit verging?“
Windzeit, das sind für Rolf Schilling nicht nur die Jahre der SED-Diktatur, sondern die gesamte deutsche Unheilsgeschichte seit 1914, das ist die Urbanisierung, die innere Aushöhlung des Menschen, der „Werteverlust ohnegleichen“, die „Erstarrung und Mechanisierung des geistigen Lebens“, die Zerstörung der Natur und der Verlust der Tradition deutschsprachiger Dichtkunst, der Lesekultur. Gegen die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts setzt Schilling sein nicht unproblematisches Verständnis deutscher Dichtung, nach dem der Dichter Seher und Prophet ist. Nicht seine Zivilisationskritik, sondern seine archaisierende Sprache wird Mißverständnissen ausgesetzt sein und kontrovers diskutiert werden. Im hohen Ton apodiktischer Urteile, getragen durch ein von Nietzsche beeinflußtes Sendungsbewußtsein, beschwört Schilling die Götter Griechenlands, die vorchristlichen Mythen der Skalden, den Kult der Androgynität. Als Sprachrohr der Götter ist er Zeichenempfänger und -Stifter, vom Schicksal geleiteter Runen-Schnitzer, der sich in einer Privatmythologie zum letzten Sänger des „Holden Reiches“, zum Gralsritter und in seinem Amt als Dichter als „echter Gottesbeweis“ stilisiert:
„Setz deine Runen ins Rechte,
Sei, der du bist,
Ob dich der Himmel befechte,
Ob dich die Erde vergisst,
Gott sich mit Schattengebärde
Jenseits der Zeiten verlier,
Weisst du: Gott, Himmel und Erde
Dauern gewaltig in dir.“
Partizipialstil, Inversionen, Steigerungsformen der Adjektive und Substantive erzeugen das hohe Pathos in Schillings Lyrik; der Blick in End- und Verfallszeiten, verbunden mit heroischen Anredeformen, ermöglicht das hohe Lebensgefühl des letzten Sängers in einer Zeit, wo die Stimmen „verloht“ sind. Aare fliegen durch die Luft, Greife, Sphinxe und Einhörner werden beschworen, doch auf einsamem Posten mit blutender Stirn harrt der Sänger, während „Die Nornen, tagblind, spinnen – Das große Ausgeträumt“. Rolf Schillings Lyrik ist ausschließlich im Selbstgespräch mit der Literatur der Vergangenheit entstanden. Ihn bewegte dabei nicht nur der Versuch, seine „Identität als Mensch und Künstler im Raum deutscher Sprache und Tradition“ zu bewahren, sondern auch die Sehnsucht nach einer Erneuerung großer Dichtung aus dem Geist der Mythologie, wie es in anderem Sprach- und Kulturkreis Borges, Paz und Aitmatow gelungen sei. Daß durch die deutsche Geschichte sämtliche Träume vom „Holden Reich“ belastet sind, weiß Schilling. Er rechnet auch damit, daß man ihn als „elitär, pervers, faschistoid“ brandmarken wird. Das kann ihn in seinem Traum von den alten Göttern nicht beeinflussen. Schilling hat nicht wie Epimenides die Zeit verschlafen, er kennt auch die bundesrepublikanischen Diskussionen der Nachkriegszeit über die Möglichkeit von Dichtung nach Auschwitz. Trotz Thomas Manns Warnung im „Doktor Faustus“ über die Nähe des Ästhetizismus zur Barbarei, hält er dennoch an altgermanischer Sitte und Religion fest, wissend:
„Auch diese Welt besitzt, wie jede andere, ihre rein historische Seite, ihr Unwiederbringliches in dem Sinne, daß es gar nicht gut wäre, wenn gewisse Bräuche wiederkehrten, die sich nur begründen lassen aus der Härte des Daseins im nordischen Winter, aus dem Kampf ums Überleben in einer kargen und oftmals feindlichen Natur.“
Heroische Gegenwelt
Rolf Schillings Germanen sind reine Gestalten der Phantasie, die mit unserer geschichtlichen Wirklichkeit kaum etwas zu tun haben. Das gerade könnte sie gefährlich machen. Ihnen kommt auch keine echte symbolische Qualität zu, sie dienen nur zur Evokation von Gefühlen und Stimmungen. Eine kleine Szene aus dem Essay „Questenberg. Fährten im Traum-Harz“ belegt dies. Unterwegs mit seiner kleinen Tochter Elisabeth besteigt Rolf Schilling die Burgruine auf dem Questenberg, sieht dort das alte heidnische Symbol des Sonnenrades und träumt in einem Anflug von heroischem Nihilismus: „Dort oben, aufrecht, vom Blitz erschlagen werden: das wäre ein schöner Tod.“ Wer hier von Sorge um das Schicksal des Waisenkindes und seiner zwei Geschwister ergriffen wird, darf wenig später aufatmen. Vater und Tochter suchen den Eingang zur Questenhöhle. „Aber nachdem ich auf einer morschen Planke ausgeglitten und gestürzt war, gaben wir die Suche auf.“
Im holden Reich der Träume und heroischen Tode ist besser weilen als in schnöder Wirklichkeit. Die Realität interessiert Schilling nicht, nur deren mythologische Überhöhung. Das unterscheidet ihn von Ernst Jünger, den er zu seinen Ahnen zählt. Die real gelebte Mythologie, die zu Pfingsten auf dem Questenfest der Bauern auflebt, wird ignoriert:
„Ich war nie dabei und habe gar keine Lust, es zu sehen oder gar mitzutun. (…) Aber ich stelle mir vor, was hier sein könnte, was hier, vielleicht, einmal war und ahndungsweise noch immer ist: lodernde Reiser auf Bergeshöhen, Sonnenräder, die zu Tale schauern, Stirnen, in Widderblut getaucht, Arme, von Schwertern verletzt: ein deutscher Sacre du Printemps.“
Niemand würde mehr erschrecken als Rolf Schilling, wenn im wiedervereinigten Deutschland dergleichen tatsächlich geschähe. Diese Visionen sind wie bei Nietzsche Teil der Kompensation der eigenen schwachen Natur, sind heroische Gegenwelt zur Banalität und Erlebnisarmut des eigenen Lebens, und als solche sollten sie auch gelesen werden.
Selbststilisierung oder Selbstbehauptung?
Zur Selbst-Stilisierung gehört eine mythologische Landschaft, und die hat Rolf Schilling nicht erfunden. Er lebt in dem Dorf Bielen, zwischen Harz und Hörselberg, der Lutherstadt Eisleben, Klopstocks Geburtsort Quedlinburg und dem im Kyffhäuser schlafenden Barbarossa. Novalis wurde in dieser an mittelalterlichen Burgen reichen Landschaft geboren und Nietzsche, an dem Schilling die „Selbst-Apotheose des genialen Menschen“ bewundert, „daß einer bis zum Äußersten geht“. Der Leser des „Doktor Faustus“ weiß, daß Thomas Mann die urdeutscheste aller Städte, Kaisersaschern, hier angesiedelt hat. Wie der einsame Tonsetzer Adrian Leverkühn, so lud auch Rolf Schilling dreimal im Jahr seine Freunde zu einem Dichtertreffen unter freiem Himmel ein, um ihnen aus dem in der Einsamkeit anachronistischer Ausschweifung geborenen Werk auswendig vorzutragen. Denn die „Lyrik hat man im Gedächtnis zu haben“. Die Erfindung des Buchdrucks hielt Schilling damals noch für ein „Capital-Verbrechen“, denn „wenn man die Geschichte des Schrifttums überblickt, so gibt es vielleicht hundert Bücher, die man gelesen haben muß, und ein Dutzend Bücher, die man besitzen muß. Die kann man selber mit der Hand abschreiben.“
Wer zu Schillings Vorträgen „beschieden“ war, der mußte vor Beginn jeder Veranstaltung ein Sonett aus dem Stehgreif dichten können. Da trennte sich schnell die Spreu vom Weizen. Einer, der sich in Schillings Symbolwelt wiederfinden konnte, war Uwe Lammla. Er hat inzwischen selbst Gedichte unter dem Titel „Weckruf und Mohn“ vorgelegt, und er emigrierte noch vor Öffnung der Mauer in den Westen, wo er in München einen Verlag gründete, in dem jetzt das Werk des Meisters erscheint. Der Name „Edition Arnshaugk“ gehört ins Zentrum von Schillings Privatmythologie. „Arnshaugk“ ist wie das „Holde Reich“ Chiffre für die Landschaft zwischen Harz und Kyffhäuser, „wo der ganze Palimpsest von deutschem Mythos, Traum und Wahn zum Erbe gehört“, gleichzeitig in platonisierender Romantik das Reich des Ewigen Deutschen, das es niemals gegeben hat und das es niemals geben darf. Für Schilling ist Dichtung „nicht Erfahrung, sondern Prophetie“, die sich aber nirgendwo als Innen erfüllt. Der Traum vom Reich, den nach der Sage Kaiser Barbarossa in seiner Kyffhäuserhöhle träumt, ist nicht von dieser Welt.
Schillings Dichtung basiert auf einer Zwei-Reiche-Lehre. Jeder Ganzheitsideologie fern, trennt er Dichtung und Leben. „Es gibt keine Lösung, vor allem keine endgültige. Wir müssen die Spannung von Innen und Außen, zwischen Geist und Macht, zwischen Kunst und Leben aushalten, in ihr existieren auf Gedeih und Verderb.“ In diesen Sätzen werden sich viele Kritiker der Moderne wiederfinden können, und auch der Rückblick auf die Vergangenheit gehört zum Grundbestand einer humanistischen Kultur der Memoria, wenn er jeder Generation von Lesern vor Augen stellt, „was menschenmöglich ist und menschengemäß, allem Furchtbaren zum Trotz: Goethe und Hölderlin, Novalis, Kleist, Schopenhauer, Franz Schubert und Anton Bruckner, Wagner und Nietzsche und all die anderen – sie haben gelebt, unwiderruflich, haben ihr Werk vollbracht in Zeiten, die nicht besser waren als die unsere.“
Wer möchte leben ohne den Trost der Bücher? Daß Rolf Schilling durch sie seine Identität als Dichter bewahren konnte, ist offenkundig. Ob sein lyrisches Werk mit der Welt, gegen die er sich hermetisch abdichtete, untergehen wird oder ob es als Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber der Tyrannis die Macht der Sprache anschaulich dokumentiert, wird sich zeigen. Als Verächter des sekundären Diskurses wird Schilling davon ungerührt bleiben: „Der Dichter braucht keine Rezensenten, sondern Mäzene.“
Aus einem Gespräch mit Jonas Maron
(Anbruch – Magazin für Kultur und Künftiges. 3. März 2020)
1.) Wie und durch wen wurden Sie zuerst aufmerksam auf Schillings Person und Werk, welche Verse oder Gedichte kamen Ihnen als erste unter und welchen Eindruck hinterließen sie?
Dr. Heimo Schwilk, der junge Literaturredakteur des Rheinischen Merkur, fuhr in den Jahren vor der Wende regelmässig in die DDR, berichtete über junge Autoren und gab ihnen ein Forum in seiner Wochenzeitung. Zu ihnen gehörte Rolf Schilling, der mich durch seinen eigenen Ton und seine Unabhängigkeit vom Zeitgeist in Ost und West unmittelbar ansprach: Da war ein Dichter, ein Seher, ein Berufener. 1984 schrieb Schilling den „Questen-Gesang“. Die Eingangsworte führten mich in eine mythisch-zeitlose Welt. Sie sind meine Lieblingsverse geblieben und lauten:
„Geschieden du vom Questen-Kranz,
Geschieden du vom Licht:
Wo sind die Götter dieses Land?
Fahr hin und frage nicht.
Nur wenn dein Mund, gewahr des Banns,
Die Siegel Schweigens bricht,
Hellt noch ein Hauch vom alten Glanz
Dein sinkendes Gesicht.“
2.) Wann, wo und in welchem Kontext trafen Sie Schilling zuerst persönlich und welchen Eindruck hinterließ wiederum dieses Kennenlernen?
Heimo Schwilk wohnte damals mit seiner Familie in Bonn. Hier besuchte ihn Schilling mit seiner Muse Sylvia. Ich traf sie beim Schachspiel. Später kamen weitere Gäste und Schilling rezitierte aus dem Gedächtnis einige seiner Gesänge. Dabei saß Sylvia zu seinen Füßen. Sie war es, die uns durch ihre Hingabe diese Stunde des Wortes schenkte. Ein Jahr später traf ich Rolf Schilling in Hannover und besuchte ihn in seinem Heimatdorf. Gemeinsam bestiegen wir den Questenberg.
3.) In seinen Tagebüchern erwähnt Schilling 1995 ein Streitgespräch während einer Gedicht-Lesung zwischen Ihnen und Ulrich Wanner - mit Heimo Schwilk als moderatem Dritten: Woran entzündete sich der Streit und wer vertrat welche Positionen zu Schillings Werk und/oder Vortragsweise?
Ulrich Wanner, ein guter Freund Rüdiger Safranskis, war damals Redakteur der „Lutherischen Monatshefte“ mit Sitz in Hannover. Ich schrieb regelmässig für sein Blatt. Meine Begeisterung für das hohe Pathos von Schillings Ton löste Wanners Widerspruch aus. Nicht dass er bei der Beschwörung der alten Götter Germaniens oder Griechenlands Völkisches witterte, aber Ulrich Wanner sah in Rolf Schilling einen Epigonen, ja, einen selbstverliebten und selbstherrlichen Schriftsteller, der sein Anderssein inszenierte. Heimo Schwilk, der in gewisser Weise Rolf Schilling für den Westen entdeckt hatte, versuchte den diskussionswütigen Wanner zu besänftigen. Vergeblich. Wanner wurde später sogar handgreiflich und forderte Heimo Schwilk zu einem Ringkampf heraus. Das war aberwitzig nicht nur als Stilbruch in der Streitkultur, sondern vor allen Dingen ein Akt der Selbstüberschätzung. Denn Schwilk hatte eine Einzelkämpferausbildung bei der Bundeswehr absolviert und war Besitzer mehrerer Auszeichnungen als Fallschirmjägeroffizier.
4.) Erhofften oder erwarteten Sie nach der Wende eine umfangreichere Würdigung Schillings oder ahnten Sie damals bereits, dass dieses Werk an den Kulturbetrieb der Bundesrepublik beinah ebenso schwer anschlussfähig sein würde wie an den der DDR?
Wie ein Mensch sich und seiner Berufung treu bleibt - darauf kommt es letztlich an. In Rolf Schilling begegnete ich einem Menschen, der unangefochten von Zeit und Not seinen Weg in der DDR gegangen war. Ich dachte nach der Wende, dass Schillings Werk in Westdeutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz eine entsprechende Anerkennung finden würde. Meinen Beitrag leistete ich, indem ich Würdigungen in verschiedenen überregionalen Zeitungen veröffentlichte. Doch ich musste lernen, dass ich - wie auch Schillings Bewunderer Ernst Jünger - mit meiner Begeisterung weitgehend allein blieb.
5.) Von Ihnen stammt einer der weitaus besten Essays über Schilling als Schriftsteller der inneren Emigration, der unter anderem in der NZZ erschien (1990). Was glauben Sie: Könnte heute noch oder wieder ein Stück zu Schilling in der NZZ erscheinen? Und wenn nein, wem oder was ist das eher geschuldet, Schillings eigenem Weg oder der kulturellen Diskursverschiebung seither?
Nach 1989 herrschte eine Stimmung gespannter Erwartung auf die „Schubladenliteratur“ der DDR. Daher hatte die NZZ, für die ich ebenfalls schrieb, Interesse an Rolf Schilling. Damals war Martin Meyer Chef des Feuilletons. Die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt. Rolf Schilling ist sich treu geblieben. Der Diskurs aber hat sich verschoben. Wir erleben einen Verlust an Bildung, eine geistige Klimakatastrophe, ein Aussterben der Vielfalt und eine Monokultur der Ideologen.
6.) Ist Ihr Lob für Schilling ein ungeteiltes oder gibt es auch Kanten in seinem Werk, an denen Sie persönlich sich stoßen (seien es formale oder motivische bis hin zu weltanschaulichen)?
Rolf Schillings Werk findet meine ungeteilte Zustimmung. Aber ich habe gelernt, dass sich an Schilling die Geister scheiden - wie etwa an dem Werk der Agnes Miegel. Sie ist Ehrenbürgerin der Stadt Bad Nenndorf. Hier hat sich eine ANTIFA gebildet, die sich erfolgreich dafür engagierte, dass das Denkmal der Miegel aus dem Stadtpark entfernt wurde. Jürgen Uebel, der Führer dieser ANTIFA, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Vielleicht steht Rolf Schilling ein ähnliches Schicksal bevor, und die ANTIFA marschiert zu seiner Lesung auf.
7.) Seit George, so schreiben Sie in Ihrem NZZ-Essay, sei in deutscher Sprache nicht mehr so gedichtet worden wie Schilling es tue. Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten und Gleichklänge zwischen Schilling und George, wo etwaige Unterschiede?
Stefan George ist gendertauglich. Rolf Schilling ist es nicht. Er lässt sich von niemandem vereinnahmen. Er ist im Sinne Ernst Jüngers der Anarch, der Einzelne. George wollte der Meister in der Mitte eines Kreises sein. Schillings Berührung mit George erlebe ich unmittelbar, wenn ich „Komm’ in den totgesagten Park“ lese. Herrlich!
8.) Als zeitgenössische Referenz-Literaten, deren Schaffen und Zugang zumindest von fern dem Schillingschen verwandt sei, nannten Sie damals Jünger, Paz und Aitmatov. Da diese drei in der Zwischenzeit verstorben sind: Ist Schilling heute wirklich der allerletzte Überbliebene oder sehen Sie irgendwo neue Triebe in seinem Sinne sprießen?
Rolf Schilling ist der letzte Dichter seiner Art. Die große Nacht ist gekommen und das große Vergessen, eine an Erstickung grenzende Armut der Sprache. Wer Rolf Schilling liest, erfährt noch „einen Hauch vom alten Glanz“.
9.) In Ihrem Essay heißt es gegen Ende: "Wer möchte leben ohne den Trost der Bücher? Daß Rolf Schilling durch sie seine Identität als Dichter bewahren konnte, ist offenkundig. Ob sein lyrisches Werk mit der Welt, gegen die er sich hermetisch abdichtete, untergehen wird oder ob es als Zeichen der Selbstbehauptung gegenüber der Tyrannis die Macht der Sprache anschaulich dokumentiert, wird sich zeigen." Sehen Sie hierzu nun, 30 Jahre später, bereits eine Tendenz? Hat sich in dieser Frage bisher etwas gezeigt - und wenn ja, was?
Wir leben in einer Zeit der Atemlosigkeit. Wir wollen alles sofort, hier, heute, jetzt. Die Dichtung aber hat einen sehr langen Atem. Wir leben auch in einem Zeitalter der Meinungsdiktaturen: Viele große Dichter sind heute vergessen, verdrängt, verpönt aus unterschiedlichen ideologischen Gründen: Der christlicher Dichter Edzard Schaper zum Beispiel. Er wurde von Hitler und Stalin zum Tode verurteilt, 1944 von den Schweden als Doppelagent verhaftet, später in der Schweiz rehabilitiert. Sein Roman „Der vierte König“ ist ein Jahrhundertwerk. Doch wer kennt Edzard Schaper? Aber, wer weiß, ob dieser Dichter der Passion und des Kreuzes nicht wiederentdeckt werden wird, wenn die Katastrophen zunehmen werden?
Von Rolf Schilling kann unsere Zeit die Unbekümmertheit um den Ruhm und die Zukunft lernen. Wahre Dichtung kann niemals endgültig verlorenen gehen. Wenn meine Enkelkinder im Jahr 2080 auf die Literatur des 20. Jahrhunderts zurückblicken, dann wird vielleicht aus dem Bereich der ehemaligen DDR allein Rolf Schillings Werk noch bekannt sein. „Fahr hin und frage nicht“, rät der Meister. Recht hat er!