Zu Drogen fühlte ich mich nicht hingezogen. Aufgewachsen im katholischen Münster hinkte ich dem Zeitgeist der Blumenkinder ein wenig hinterher. Onkel Johannes kam jedes Jahr zu Besuch aus San Francisco und brachte aus der Bay Area die neuesten Produkte der Hippie-Kultur in mein Elternhaus. Schallplatten von Greatful Death und Country Joe and the fish und ein buntes Badehandtuch in psychedelischen Farben. Ich nahm es mit in die Badeanstalt Stapelskotten an der Werse, legte mich drauf und schaute den Mädchen zu, wie sie sich gegenseitig den Rücken mit Piz Buin oder Niveau einölten. Das Leben war herrlich und manchmal wie ein unschuldiger Rausch. „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein“, sagt der alte Goethe. Er musste es wissen.

Auf dem Handtuch stand ein anderer Spruch. Ich kannte ihn, konnte ihn auch übersetzen, verstand ihn aber nicht: „Turn in, tune on, drop out“. Das waren drei Imperative: Angehen, Aufdrehen, Aussteigen. Ich bezog sie auf die Musik und meinen DUAL-Plattenspieler. Für ihn hatte ich vier Wochen der Sommerferien geopfert und als Gärtner im Garten der Offiziers-Messe der britischen Besatzungsarmee gearbeitet. Die „Tommis“ sind ins Königreich heimgekehrt. Wo damals in der York Kaserne von Münster-Gremmendorf ihre Vorgesetzten im Casino feierten, wird heute gelegentlich Tango getanzt. 

 

 

Die berühmte Anleitung zum Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben und zum Einstieg in eine andere Wirklichkeit mit Hilfe von LSD stammt von dem amerikanischen  Guru Timothy Leary. Ein gefährlicher Spinner und Verführer, wie wir heute wissen. Denn LSD gehört zu den gefährlichsten das Bewusstsein verändernden Drogen. Vor achtzig Jahren wurde LSD (Lysergsäurediäthylamid) von dem Naturmittelchemiker Albert Hofmann (1906-2008) entdeckt. Als Mitarbeiter des Basler Sandoz Konzerns versuchte er aus dem Mutterkorn (Secale cornutum) eine den Kreislauf stimulierende Substanz zu gewinnen. Das Mutterkorn ist ein Pflanzenparasit. Kommt er in die Nahrung, so entfaltet er im Körper eine verheerende Wirkung. Matthias Grünewald hat auf seinem Isenheimer Altar einen durch das Mutterkornalkaloid entstellten Körper als Symbol der Passion gemalt. 

Albert Hofmann tastete sich in Selbstversuchen an die Wirkung  der Droge heran, erst allein, dann mit Ernst Jünger und Rudolf Gelpke. Diese Versuche sind in die Literatur eingegangen. Jünger beschreibt sie in „Drogen und Rausch“ und in literarischer Verdichtung in seiner Erzählung „Besuch auf Godenholm“, Albert Hofmann in seinem Buch „LSD - Mein Sorgenkind“. Ein Sorgenkind wurde LSD nicht nur aus Gründen des Missbrauchs durch amerikanische Seelenfänger. Ein Schweizer Chemiker von Rang sucht nicht die bald verbotene Droge, sondern ein wirksames Naturheilmittel, das ihm als Patent ein sorgenfreies Leben beschert. 

LSD wurde von vielen Musikern als Vehikel einer Reise in die Anderwelt gepriesen. In Anspielung an „Alice im Wunderland“ sang Grace Slick von der Gruppe Jefferson Airplane vom „White Rabbit“ (1967), Jim Morrison forderte mit „Break on through to the other side“ (1967) zu einer Fahrt auf die andere Seite des Bewusstseins auf. Seine Gruppe nannte sich nach einem Buchtitel des drogenkundigen Schriftstellers Aldous Huxley „The Doors“. Auf dem Cover ihrer berühmten Schallplatte „Sergeant Pepper“ (1967) zeigen sich die Beatles in Phantasieuniformen vor ihren Idolen, darunter Albert Hofmann. Ich besaß die Platte. Das Lied von der verlorenen Tochter („She’s leaving home“) inspirierte uns damals zu einem Jugendgottesdienst über die moderne Schwester des verlorenen Sohnes aus dem Lukasevangelium. Wir waren bester Stimmung und beflügelt vom Geist der Erneuerung. Die Jazz-Dance Formation von Günter Rebel tanzte in einem Gottesdienst den Sonnengesang des Heiligen Franz von Assisi. Erkannten wir, was uns ergriffen hatte? Die Texte vieler Lieder waren allzu kryptisch.  „Lucy in the sky with diamonds“ - Lucy im Himmel mit Diamanten! Unser Pfarrer war ökumenisch jugendbewegt und wollte mit dem Aggiornamento aus Rom mithalten. Aber vor der absoluten Metaphorik dieses Liedes kapitulierte er. Erst Albert Hofmann entschlüsselte mir diesen Beatles-Titel. Als ich ihn im August 1999 auf der Rittimatte im Baseler Land besuchte, gab er mir einen Schlüssel zu diesem Lied. Lucy - Sky- Diamonds - LSD. Ging es in diesem Song wirklich um die Beschreibung eines LSD-Trips? Nicht nur die Texte der Pop-Musik sind seit jeher Flächen für Projektionen. Je kryptischer der Vers, je steiler die Metaphorik, desto mehr kann aus dem Text gelesen werden. 

Albert Hofmann war ein Augenmensch mit einer hohen Sensibilität für die verborgene Seite der Wirklichkeit. Er glaubte an Gott als Schöpfer des Lebens. Deshalb war ihm die Welt ein Buch und Zeugnis seiner Schöpferkraft. Obwohl aufgewachsen in einer durch die reformierte Tradition der Schweiz geprägten Familie hatte er wie sein Freund und Konvertit Ernst Jünger einen Blick für die Spuren Gottes im Garten. Diese natürliche Theologie oder Spiritualität der Natur steht der reformierten Auffassung von dem unendlichen Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf diametral entgegen. Als ich mit meinem Freund Heimo Schwilk von der Rittimatte im Leimental über die Berge ins benachbarte Frankreich schaute, erfüllte mich ein erhebendes Gefühl: Dies ist ein herrliches Land! Es schien beseelt wie eine Art heiliger Raum. Meine Äußerung war der Schlüssel zu den folgenden Gesprächen. Denn der jugendliche 93-jährige Chemiker freute sich, dass wir sahen, was anderen verschlossen blieb. „Viele Besucher stehen hier oben auf dem Berg, schauen über die Hügelkette und - sie sehen nichts!“, sagte Hofmann. 

Unsere Zeit leide an einem Verlust der Wahrnehmung. Es gebe Menschen, die jagen blind durch die große Herrlichkeit der Blumen und Blüten, der Gräser, Sträucher und großen Bäume. „Die Schöpfung kann nicht von selbst entstanden sein. Ich weiß als Chemiker, dass die Moleküle von Gesetzen bewegt werden. Es muß also einen ersten Beweger geben. Es braucht einen Plan, und in den Chromosomen ist dieser Plan enthalten. Ein Plan aber ist Geist. Und dieser Geist ist auch in uns“, sagte Hofmann. „Der liebe Gott spricht zu uns nicht in Worten, sondern in der Sprache der Natur. Allem Heiligen liegt die Schönheit zu Grunde. In allem Schönen suchen wir die Vollkommenheit. Gott ist die Schöpferkraft.“

Hofmann war alles andere als ein Drogenapostel. Aber er glaubte, dass ein verantwortlich begleiteter Umgang mit LSD durch einen Priester zu einer Initiation in das Geheimnis von Gottes Gegenwart in der Natur und in der eigenen Seele führen könne und damit zu einer neuen Religiosität. Einige Propheten und Heilige hatten Visionen. Sie schauten Gott in seiner himmlischen Herrlichkeit und vernahmen unaussprechliche Worte. Woher kamen diese Eingebungen? Kannten sie die geheime Wirkung pflanzlicher Stoffe? Das sei zu vermuten, meinte Albert Hofmann. Für ihn war das Christentum eine Mysterienreligion. In seiner Mitte steht das Paradox des Kreuzes als Symbol für Tod und Auferstehung. Von diesem Zusammenprall der Gegensätze lebe auch die hohe Dichtung wie Goethes „Marienbader Elegie“. Beim Rundgang durch den Bungalow mit seinem vom Hausherrn täglich genutzten Schwimmbad und anschließendem Kaffee im Beisein seiner Frau Anita erfuhren wir, dass Hofmann im Besitz der Handschrift sei. Natürlich wollten wir Goethes großes Liebesgedicht auf Ulrike von Levetzow sehen. Doch erfuhren wir, dass Autographen von diesem Rang nicht im Haus aufbewahrt werden. Vielleicht hielt Hofmann uns junge Spunte eines Blicks in dieses Mysterium jugendlicher Greisenliebe für nicht würdig. 

Beim Besuch eines Freundes in Mexiko im Jahr 1992 habe er während einer Mondnacht zum letzten Mal LSD genommen. LSD mache für andere Dimensionen der Wirklichkeit empfänglicher. Die Psychedelika seien Drogen, die eine ganz andere Wirkung als die übliche Rauschgifte haben. Sie schenkten eine metaphysische Erfahrung. Sie seien aber sehr gefährlich, wenn sie im falschen Rahmen genommen werden. Bei falschem Gebrauch schädigten sie die Seele. Deshalb benutzte man Drogen dieser Art zum Beispiel bei den Mysterien von Eleusis im alten Griechenland nur unter Führung des Priesters. „Ich habe von Anfang an vor dem Missbrauch von LSD gewarnt. Ich war sozusagen meine eigene Kassandra.“ 

Noch heute ist der Gebrauch von LSD verboten. Allerdings gibt es Modellversuche in der Schweiz. In ihnen arbeiten Psychiater wie Peter Gasser mit Menschen in Krisen- und Grenzsituationen. Vielleicht kann LSD schwere Krebsleiden lindern helfen oder die letzten Stunden eines Lebens erleichtern. Die Forschung ist noch immer auf dem Weg. Die Kirche bezeugt eine andere sakramentale Wirklichkeit im Geheimnis der Eucharistie. Ignatius von Antiochien verglich die Wirkung dieses Kult-Mysteriums mit einer heilsamen Medizin. Er nannte die Hostie „Heilmittel der Unsterblichkeit“ („Pharmakon Athanasias“). Bei unserem Abschied von der Rittimatte schenkte mir Albert Hofmann eine Ausgabe seines Buches „LSD - Mein Sorgenkind“. Als Widmung zeichnete er die Formel für LSD und schrieb in das Buch eine mir bislang unbekannte Lesart der drei Buchstaben: „LSD kann auch heißen: Liebe Sucht Dich!“ Darüber lohnt es sich noch heute nachzudenken.