
Eine beflügelnde Sendung:
Deutschlandfunk: Tag für Tag am 17.11.2025
Redaktion: Andreas Main
Moderation: Andreas Main
Der Dichter Rainer Maria Rilke und die Engel - Gespräch mit Autor Uwe Wolff
Am 4. Dezember würde Rainer Maria Rilke 150 Jahre alt. Rilke hat gerade Konjunktur. Er scheint
überall zu sein. Und doch: Wer versteht ihn wirklich? Der Theologe Uwe Wolff sagt, auch er sei noch
längst nicht mit ihm fertig. Obwohl er gerade ein Rilke-Buch veröffentlicht hat und seine
Antrittsvorlesung den Titel hatte: „Rainer Maria Rilke und die Welt der Engel“. Wolff bezeichnet sich
als „Engelforscher“. Engel sind auch allgegenwärtig in den Gedichten Rilkes – aber welche Engel sind
es? Sicher nicht die kitschigen …
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Ein weiteres Gespräch über Rilkes Engel
https://www.radiomaria.at/audio/?rtid=40489
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Nach Vollendung der Elegien ließ Rilke die Kapelle der Hl. Anna renovieren.
Seine Mutter stiftete diese Laterne, die einst an Rilkes Elternhaus hing.
(Photo: Bernhard Gerth)
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LOGBUCH LXXXII (4. Dezember 2025). Von Daniel Zöllner
Wenn ein Autor, der sich selbst als „Engelforscher“ versteht, eine Rilke-Biographie schreibt, dann ist ein Werk zu erwarten, das die Konventionen des Genres sprengt. Denn die Engel sind nun einmal Wesen, die das Menschliche und Irdische sprengen und übersteigen. Und tatsächlich ist mit Tausend Nächte tief ein Buch entstanden, das zwar nicht den Anspruch einer „vollständigen“ Biographie und Werkinterpretation erheben kann, sich dafür aber in erhellender Weise dem Unsagbaren nähert, das für Rilke in Leben und Dichten die Engel verkörperten. Uwe Wolff erschließt die Engel als das Lebensthema Rilkes, von dessen Kindheit bis zu seinem leidvollen Sterben, vom Frühwerk bis zu den Duineser Elegien.
„Vieles ist zu zart um gedacht, noch mehres um besprochen zu werden“, schreibt Novalis in der Aphorismensammlung „Blüthenstaub“, und es gilt nicht zuletzt für die Engel: Deren Dasein ist von solch zarter Art, daß es sich dem verdinglichenden Zugriff entzieht. „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, bekennt Rilke in einem sehr frühen Gedicht – vielleicht auch deshalb, weil das verdinglichende Wort das Singen der Engel zum Schweigen bringt. Dementsprechend hat Wolff eine verknappte Prosa gefunden, die sich in meist kurzen Sätzen andeutend zart dem Unsagbaren anschmiegt, statt es zu zerreden.
Im Titel seiner Biographie zitiert Wolff aus „Der Schutzengel“, einem Gedicht des frühen Rilke. Darin lauten die ersten Verse:
„Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.“
Wüßte der Dichter den Namen des Schutzengels, so könnte er über diesen verfügen. Doch über Engel läßt sich nicht verfügen. Sie entziehen sich durch ihre Ungreifbarkeit, ihre Höhe und ihre Tiefe. Das wußte bereits der frühe Rilke, und auch die Duineser Elegien (1923) sind durchdrungen von diesem Bewußtsein – wenn es etwa sowohl in der ersten als auch zu Beginn der zweiten Elegie heißt: „Jeder Engel ist schrecklich.“ Die Engel sind faszinierend, aber zugleich erschreckend – ein mysterium fascinosum et tremendum, wie Rudolf Otto das Heilige charakterisiert hat.
Wolff bezeichnet Rilkes Elegien als „Engeldichtung“. In ihnen gelangt Rilkes Lebensthema zur reifsten Ausgestaltung, ja zur Vollendung. „Lebensthemen sucht sich niemand aus. Sie sind einfach da und mit der Geburt als Auftrag gegeben. Manchmal wirken sie still im Verborgenen, manchmal werden sie drängend und verlangen nach rascher Klärung. Sie wollen geleistet werden.“ Es ist bewegend, anhand von Wolffs Prosa zu verfolgen, wie Rilke seinem Lebensthema gerecht zu werden versucht, mit dem „Engel der Berufung“ ringt und schließlich mit den Duineser Elegien den Durchbruch erzielt. „Rilkes Elegien sind eine Art Requiem, das nach der Beschreibung des Verlustes der Engel in schrittweiser Heimholung zu ihnen zurückführt.“ Damit spiegeln sie auch ihren Entstehungsprozeß wider, der sich von den ersten Fragmenten bis zum vollendeten Zyklus über zehn Jahre hinweg erstreckt.
Wolff kennt die Literatur über Rilke, setzt aber auch eigene Akzente. Der Biograph ist sich bewußt, daß alle Zeugnisse über den Dichter und alle Erinnerungsberichte von Begegnungen mit ihm mit Vorsicht zu genießen sind. „Aber irgendetwas ist in den meisten Fällen doch wahr und wird zu einem Pixel im Gesamtbild.“ In vielen Fällen vermag Wolff ein schiefes Bild von Rilke zurechtzurücken, etwa wenn er dem Vorurteil vom pathetisch-ernsten Dichter ein Zeugnis von Rilkes großer Gönnerin und Freundin Nanny Wunderly-Volkart entgegenstellt: Rilke habe „hell, glockenklar und warm“ gelacht, in einer unvergeßlichen und manchmal geradezu ausgelassenen Weise. Seine Freunde hätten seinen Humor gekannt und geliebt. Auch das gängige Bild von Rilkes Mutter versucht Wolff zu korrigieren. Sophie Rilkes intensive katholische Frömmigkeit habe immer wieder Anlaß zum Vorwurf der Bigotterie gegeben. „Rilkes Biografen haben aus Unverständnis gegenüber dieser so fremd gewordenen religiösen Kultur die katholische Frömmigkeit seiner Mutter als bigott oder wunderlich abgetan. Deshalb konnten sie auch Rilkes Glauben an die Engel nicht ernst nehmen.“ Hier vermag Wolff als religiös hochmusikalischer Mensch und überzeugter Katholik Aspekte in Rilkes Dasein zu erkennen und darzustellen, die vielen anderen Biographen fremd und unverständlich bleiben mußten.
Das wird ebenfalls deutlich bei den kurzen, aber gehaltvollen Blicken, die Wolff auf die wichtigsten Werke Rilkes wirft. Bereits im frühen Stunden-Buch (1905 erschienen) werden die Engel gepriesen. Der Gedichtband Das Buch der Bilder (1906) enthält neben dem bereits zitierten Gedicht „Der Schutzengel“ noch weitere Engelgedichte. In den Neuen Gedichten (1907/08) findet man Gedichte, die Engel-Erlebnisse darstellen (etwa „Tröstung des Elia“), während in dem Gedicht „Der Ölbaum-Garten“ gerade das Ausbleiben des Engels, der Jesus tröstet, den originellen Aspekt bildet. Wie ein Präludium zu den Duineser Elegien erscheint Rilkes Gedichtzyklus Das Marien-Leben (1912), in dem die Engel eine große Rolle spielen – wie angesichts einer dichterischen Darstellung des Lebens der Muttergottes auch zu erwarten.
Wolff zeigt überdies auf, daß nicht nur im Werk Rilkes, sondern auch an biographisch entscheidenden Stellen die Gestalt der Engel auftaucht: In den Augen seiner Verlegerin Katharina Kippenberg erscheint Rilke als ein „engelhafter“ Mann. Der Dichter übersetzt gemeinsam mit seiner Gönnerin und Freundin, der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, die Göttliche Komödie Dantes, wo im „Paradiso“ die Chöre der Engel erklingen. Die Fürstin habe Rilke – halb scherzhaft – den Namen „Doctor Seraphicus“ (nach dem Engelschor der Seraphim) gegeben. An seine Geliebte Lou Albert-Lasard schreibt Rilke jene Worte, die Wolff seinem Buch als Motto vorangestellt hat: „Einzeln sind wir Engel nicht; zusammen bilden wir den Engel unsrer Liebe.“ Eine andere Geliebte Rilkes, die russische Dichterin Marina Zwetajewa, spürt, wie sie in einem Brief an Boris Pasternak bekennt, den toten Rilke als Engel hinter sich. Bei Rilkes Beisetzung glaubt Katharina Kippenberg beim Zerreißen der Wolken einen „riesigen Engel“ am Himmel zu erkennen.
Zweifellos kann man all das abtun als bloße Zufälle und bloße Metaphorik. Eine Zeit wie die unsere, der jedes Pathos fremd ist und die alles in das Säurebad des Zweifels wirft, kann wohl nicht anders, als das Geheimnis, das die Engel verkörpern, zu zerreden. Vermutlich hat sie gerade deshalb die Erinnerung Uwe Wolffs besonders nötig, wenn er schreibt: „Wer Geheimnisse erklären will, hat Rilkes Engel nicht verstanden und wird auch keinen Zugang zu ihnen finden. Das Geheimnis will, so wie es der Dichter durch seine Mutter kennengelernt hat, kniend bezeugt, angebetet und gepriesen sein.“
Uwe Wolff: Tausend Nächte tief: Rilke und die Engel seiner Dichtung. Die Biografie. Ostfildern: Patmos 2025. 160 S. 18 Euro.
Der Dichter Rainer Maria Rilke und die Engel – Ein Gespräch mit Uwe Wolff vom 17.11.2025 (Deutschlandfunk)
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Muzot in der Nacht vom 4. Dezember 2025
(Photo: Bernhard Gerth)
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„Nach 45 Jahren forschender und publizistischer Arbeit kann Uwe Wolff aus dem Vollen schöpfen. Von Hans Blumenberg kommend und von dessen grundstürzender Neugier infiziert, kamen die Engel zu ihm und ließen ihn nicht mehr los. Schon das weiße Cover mit den goldenen Lettern, darauf die opaken Flügel, signalisiert das Luftige, das Ephemere, das Erhebende des Textes. (…)
Hat man einmal die Optik auf die lichtvollen Gestalten eingestellt, dann beginnen sie tatsächlich in Rilkes Leben und Werk überall zu erscheinen. Zuerst natürlich in seiner Dichtung, vor allem in seinem Lebenswerk, den „Duineser Elegien“, die laut Wolff ein Gebet sind, das sich an die Engel richtet. Rilkes Engel sind keine rein religiösen oder konventionellen Figuren, sondern tragen eine tiefere, lebensnotwen- dige und fast metaphysische Bedeutung. Er beschreibt den Engel als eine überwältigende, fast unerreichbare Präsenz, die die Grenzen menschlicher Existenz über- schreitet: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ – so die berühmten Eingangszeilen. Sie sind Wesen von höchster Vollendung und Intensität, schön und schrecklich zugleich, nah und unnahbar, beseelend und fordernd und doch ganz prosaisch „Urbild einer aller materiellen Sorgen enthobenen Dichterexistenz“. Mehr als zehn Jahre rang Rilke mit ihnen und also mit seiner Dichtung, die ihm als Offenbarung kam, als großes Versprechen, aber langer Zeit bedurfte, um ausgesprochen, aufgeschrieben werden zu können. Erst am „Kraftort Schloß Duino“ wollten die Engel sich zeigen und dann mit aller Wucht. „Dichtung ist unverfügbar wie die Gnade. Engel erscheinen nicht auf Kommando. Doch gilt es, sich für ihre Ankunft bereitzuhalten und dem Wunder die Hand auszustrecken.“ In so einem Satz hat man den ganzen Wolff in nuce. (…)
Kein Wolff-Leser beendet ein Buch ohne eine Liste von unverhofften Lese- und Denkinspirationen. Wer eine herkömmliche Rilke-Biografie sucht, wird bei Wolff nicht fündig: Hier wird evoziert, verzaubert, wiederverzaubert. Gleichsam mit Engelsflügeln schwebt Wolff lautlos in diesem Leben und Werk umher, taucht mal hier, mal da auf, er webt ein luftiges Netz darum, mit vielen Fäden, Andeutungen, Querverweisen. Das zeigt sich auch in einer ephemeren, zarten Prosa, die so leicht ist, wie es zu diesem Dichter passt. Rilke schrieb für empfindsame Geister – Wolff tut das auch.“
Jörg Seidel in „Die Tagespost“ vom 6. November 2025
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"Er ist im katholischen Glauben aufgewachsen, empfand ihn aber zeitlebens als Zwang. Bereits als junger Mann löste er sich von kirchlichen Dogmen und vom kirchlich geprägten Glauben. Uwe Wolff gelingt es in seiner – wie er es selbst nennt – spirituellen Biografie über Rainer Maria Rilke, ihn nicht nur als bedeutender Lyriker und Romancier, sondern auch als Mensch voller Sehnsucht darzustellen. „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein“: Rilke war kein praktizierender Christ und stand der Institution Kirche kritisch gegenüber. Dennoch blieb Rilke zutiefst religiös im weiteren Sinn: Sein gesamtes Werk ist durchzogen von Fragen nach Sinn, Transzendenz, Tod, Ewigkeit und der Sehnsucht nach dem „Göttlichen“."
https://www.firstlife.de/rainer-maria-rilke-wie-engel-mit-der-biografie-des-dichters-verbunden-sind/
Matthias Chrobok
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„Rainer Maria Rilke und Engel – dies sind zwei Themen, die den Bad Salzdetfurther Autor und Theologen Dr. Uwe Wolff durch sein Leben begleiten. Und weil das so ist und die Zeit nun reif dafür war, hat der als Engelsforscher bekannte Wolff ein Buch mit dem Titel „Tausend Nächte tief – Rilke und die Engel in seiner Dichtung“ geschrieben. Damit hat er sich selbst ein Geschenk gemacht, zu seinem 70. Geburtstag.“
Andrea Hempen, HAZ 11. November 2025
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„Mehr als der Autor das Thema,
erwählt bei wirklich tiefgründigen Büchern das Thema seinen Autor.
Uwe Wolff hat wahrhaft eine Berufung für das biographische Schreiben,
und sein Blick auf Menschen und ihre Schicksale
bewegt sich frei und vertraut zwischen Himmel und Erde.“
Barbara Hallensleben
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"Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ....... Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.
Rilke IX. Elegie"
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Lebensthemen sucht sich niemand aus.
Oft wirken sie im Verborgenen, manchmal werden sie drängend und verlangen nach Klärung.
Sie wollen geleistet werden, wusste Rainer Maria Rilke (1875–1926).
Dass bislang niemand eine Biografie über Rilke und seine Engel geschrieben hat, ist erstaunlich.
Offenbar fliegen Engel unter dem Radar der Wahrnehmung.
Den Wissenschaften sind sie zu flatterhaft, den Kirchen zu esoterisch.
Rilkes Freundinnen aber nahmen die Engel als sein Lebensthema ernst.
Dem gehe ich in dieser spirituellen Biografie nach.
Ich erzähle von Rilkes innerem Leben und von jenen Frauen,
die seinen Weg zur Vollendung der »Duineser Elegien« begleiteten,
seiner größten Dichtung – mit ihrem Leitmotiv: den Engeln.

„Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.
Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehen oder Toten. Die ewige Strömung
reißt durch beide Bereiche alle Alter
immer mit sich und übertönt sie in beiden.“

„Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,
wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig
ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest
bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.“

Undine von der Lamme vor Rilkes Grabstein
