So idyllisch geht es auf Ar-Men nicht zu

 

Die ersten Jünger waren keine Hochseefischer. Ihre Netze warfen sie in einem Binnengewässer aus. Paulus hatte auf seinen Missionsfahrten die Gefahren des Meeres erleben müssen, als er vor Malta Schiffbruch erlitt. Sturmfluten und Sturzregen schenken uns eine Ahnung von dem Respekt, mit dem nicht nur die frühen Christen dem Meer begegneten. In den Katakomben zeichneten sie Leuchttürme des Glaubens als Orientierungspunkte im Meer der Welt. Die neue Schöpfung aber braucht keine Ozeane und Leuchttürme mehr. In der Vision vom himmlischen Jerusalem ist daher vom Meer und Sintfluten nicht mehr die Rede: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ (Apk 21.1)

In Küstennähe drohen Untiefen durch Sandbänke und Felsen. Doch auch im Meer der Seele lauern Gefahren. Leuchttürme als Licht des Glaubens bewahren vor dem geistlichen Schiffbruch. Sie sind keine romantischen Orte, sondern wie der Turm der Heiligen Barbara Stätten des Widerstandes gegen dunkle Mächte von Innen und Außen, Klausuren der Selbst- und Gottesbegegnung. Deshalb entschied sich der französische Dichter und Katholik Jean-Pierre Abraham (1936-2003) für das Exerzitium eines Aufenthaltes in einem der entlegensten Leuchttürme der Welt. Sein Buch „Der Leuchtturm“ gehört zu den Klassikern der spirituellen Weltliteratur wie „La noche oscura del alma“ des Heiligen Johannes vom Kreuz. Jeder Satz dient der Annäherung an ein Geheimnis, das im Letzten unsagbar bleibt. „Glaube ohne Zuckerguss“ sucht der junge Autor. Mit einem Bildband über die Baukunst der Zisterzienser zog er sich Ende der Fünfziger Jahre auf den Leuchtturm Ar-Men zurück. 1967 erschien sein Logbuch der Seele in Frankreich. Jean-Pierre Abraham hatte eine Berufung zum mönchischen Leben verspürt. Nun wurde der Leuchtturm in dem Archipel vor dem westlichsten Punkt der Bretagne zu seiner Einsiedelei. „Mich dünkt, ich hatte einst alle Voraussetzungen, die simple Zuversicht dieser Mönche zu erlangen. Was habe ich daraus gemacht? Ich bin mir sicher, dass sie dank ihrer Art, ungestalte Steine aneinanderzufügen, um das Licht einzufangen, es darin kreisen lassen, Gott schauten: sie zwangen ihn, seine Größe und Unergründlichkeit, sein unvermitteltes Antlitz zu offenbaren.“ 

Der Leser darf also keine seichte Meditation vom Meer erwarten - bei einem Glas Entre deux mers zu gegrilltem Fisch. Erst recht keines jener Erbauungsbüchlein, mit denen Anselm Grün seit Jahrzehnten seine Leserinnen trunken macht. Als echte Esoterik ist das Buch ein sperriger Abstieg in die Tiefen der Seele und ein Aufstieg ins Licht. In beidem wohnt Gott. Der Leuchtturm Ar-Men liegt dreißig Kilometer vom Festland entfernt am äußersten Punkt der Chaussée de Sein. Erbaut wurde er auf einem winzigen Felsen, der ihm seinen Namen gab. „Ar-Men“ ist ein Wort der bretonischen Sprache und bedeutet, was die Insel mit ihrem Leuchtturm für den Gottsucher ist: Der Fels. Der erste Fischer, der mit seinem Bruder Andreas dem Herrn folgte, wurde ebenfalls „der Fels“ genannt. Auf diesem Felsen wurde die Kirche errichtet, von er es hieß, die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.  Das gilt gerade heute in den Brandungszonen des Zeitgeistes. Der Leuchtturm Ar-Men wurde 1867-1881 in unendlicher Mühsal errichtet. Kein Boot kann hier landen. Der Leuchtturmwärter wird mit Hilfe einer Winde auf den Felsen gezogen. Die Tür zu seiner Klause muss er nicht verschließen, denn niemand legt hier an, um den Einsiedler zu besuchen. Nur der Eine kommt, und er braucht keine Tür. 

Jean-Pierre Abraham hat das Logbuch der Seele seiner Mutter gewidmet. Ihr verdankt er die Liebe zum Meer und den katholischen Glauben, ihr weiss er sich im Rhythmus der Feste des Kirchenjahres über den Raum des Atlantiks verbunden, gerade dann, wenn er wegen zu hoher Brandung den regelmäßigen Erholungsurlaub auf dem Land nicht antreten kann. Der Leuchtturm muss bedient und gewartet werden. Zwei Wächter wechseln sich in dieser Arbeit ab. Der eine arbeitet tags, der andere nachts. Gelegentlich nehmen sie gemeinsame karge Mahlzeiten ein. Gespräche führen sie kaum. Wer das Unsagbare sucht, verliert sich nicht in Worten. Wahrhafte Einsamkeit ist Einssein mit Gott, „über die es nichts mehr zu sagen gibt.“ 

Es gehört zu den Kennzeichen der Mystiker aller Zeiten, dass sie wortreich über das schreiben, was sich nicht in Worte fassen lässt. Jean-Pierre Abraham ist mit seiner sehr sparsamen Prosa dieser Versuchung nicht erlegen. Deshalb ist sein Buch kein Bestseller geworden, sondern ein Geheimtipp unter jenen Eingeweihten und Berufenen geblieben, den „electis dilectis“ (1. Thessaloniker 1.4), denen Hans Urs von Balthasar sein „Das Herz der Welt“ (1945) widmete. Sie bilden seit jeher den Kern der Kirche. Gerade in unserer Zeit des Traditionsabbruchs kommt es auf diese Einzelnen an. Sie knicken nicht ein vor dem Zeitgeist, sie sind wie Paulus und Petrus Männer und nicht Memmen. Wie die wahre Kirche, so ist der Leuchtturm von Ar-Men ein Ort des Widerstandes. Dreißig Meter hohe Wellen, höher als der Leuchtturm, brechen sich zuweilen in den Stürmen der Zeit an seinen Mauern und tauchen ihn in die Gischt. Immer wieder wundert sich Jean-Pierre Abraham, dass die Mauern standhalten. Neben den Erfahrungen von Licht und Herrlichkeit lernt er die abgrundtiefe Angst und das Erschaudern vor dem Erhabenen kennen. Dann wiederum fühlt er sich wie Jona im Bauch des Wales, während draußen die Pforten der Hölle geöffnet werden und die Sturzfluten toben. Ausgesetzt auf den Wellen des Meeres erreicht er inmitten der Stürme Gelassenheit: „Selbst in den schlimmsten Momenten ist mir klar: Nichts in der Welt könnte mich zur Abreise zwingen. Eines nämlich bleibt stets gleich: das Gefühl, hier an meinem wahren Platz zu sein. Der Rest ist Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die mich fortan unbeirrt leitet. Die sich nicht mit unnützen Worten vollkleistert, nicht herumkriegen lässt. Immerzu verspüre ich den Stachel. Gewiss ist alles einfacher, als ich es mir vorstelle.“ 

Der Einsiedler von Ar-Men lernt das Meer der Seele mit seiner bisher nicht gekannten Dünung kennen. Wellenkamm und Wellental markieren seine Stimmungsumschwünge, das Auf und Ab seiner Seele, die Angst vor den Strudeln und das erhebende Gefühl ins Licht getaucht zu werden. Von dieser Glaubenserfahrung als Schöpfungserfahrung ist das verbürgerlichte ökologische Christentum meilenweit entfernt. Die Schöpfung ist nicht das Gute, sondern das Ganze. Und die Erfahrung von Ar-Men ist kein Badeurlaub auf Sylt. Das ökologische Zeitalter hat Angst vor der Schöpfung. Es weiß nichts mehr von dem Gott der Tiefe, der auch die Ungeheuer des Meeres geschaffen hat, dass sie darin spielen. Als am Heiligen Abend die Stürme toben, sodass der Leuchtturmwärter nicht an Land gehen kann, um mit seiner Mutter die Christmette zu besuchen, da erfährt er das Wunder der Schöpfung als Befreiung von der Angst. Es sind Worte des großen Lobpreises, in den Engel und Kirche einstimmen: „Ihr Seeungeheuer und Tiefen der Meere, Feuer, Hagel, Schnee, Nebel, du Sturmwind, der sein Wort vollzieht, all ihr Berge und Hügel, Bäume, Zedern; ihr wilden Tiere und alles Vieh, kriechend Gewürm und gefiederte Vögel: Lobet ihn.“  (Psalm 148.7)

Wo sind diese Männer des Glaubens geblieben? Wir brauchen Leuchttürme in den Gemeindegremien und Bischofskonferenzen. Jean-Pierre Abraham lebte drei Jahre in dem feuchten und nicht beheizten Turm der Beständigkeit. Hier fand er seinen Glauben, der wie jeder Glaube nicht aus eigenem Tun und Wollen lebt, sondern aus der Gnade desjenigen, der in ihm glaubt: „Der Glaube ist stärker als ich.“ Wie wahr!  Wir suchen Gott, der uns schon gefunden hat.

Ein Filmteam besuchte 1962 den Schriftsteller. Die Ausstrahlung der Reportage fand in vielen Zuschriften ihren Widerhall. Unter den Briefeschreibern befand sich eine junge Frau. Die beiden werden heiraten und gemeinsam mit ihren drei Söhnen ein Leben in der Abgeschiedenheit führen. Leuchttürme des wahren Lebens gibt es überall - auch in den Städten und Wäldern oder in der Trappistenabtei Notre-Dame du Port-du-Salut im Département Mayenne, in die sich Jean-Pierre Abraham bei Gelegenheit zurückzieht, um ein neues Buch zu schreiben. Wir verdanken die Begegnung mit diesem Autor seiner Entdeckerin und Übersetzerin Ingeborg Waldinger. Sie wohnt in Wien und bringt gelegentlich durch einen Austriazismus österreichisches Flair in den bretonischen Leuchtturm, wenn die beiden Männer eine „Jausenwurst“ verspeisen. Herrlich!

 

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Jean-Pierre Abraham. Der Leuchtturm. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ingeborg Waldinger. Jung und Jung Verlag. Salzburg 2024. 187 Seiten. 22 Euro.