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„Guten Abend, gut’ Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck’:
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.“


Im Abendlicht von Berghuse/Dänemark:
Ingrid Wolff, geb. Moeck (*1931) mit Undine
(15. August 2021)




„Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“, haben ihre Mütter gesungen. Wenn Gott will. Gott wollte nicht. Warum wollte Gott nicht? An diesen Erfahrungen scheiden sich die Geister. Die einen wachsen im Glauben, die anderen zerbrechen. Niemand kennt den Grund. Grenzerfahrungen sind nicht mitteilbar. Deshalb haben die Flüchtlinge geschwiegen. Aber es gab die Stimme der Dichterin. In ihr wurde das Unaussprechliche ins Bild gehoben und blieb zugleich im Geheimnis.



„Alle Bewohner unseres Hauses befanden sich bereits im Keller. Eine Tasche stand immer gepackt in der Wohnung. Auch Decken lagen immer griffbereit. Im Keller standen Wassereimer. Dann schlägt im Nebenhaus eine Brandbombe ein. Wir spüren die Erschütterung. Mit der nassen Schutzdecke fliehen wir aus dem Keller. Ich verliere meine Eltern und meinen Bruder. Ich renne. Am Haus der Technik bleibe ich stehen. Wartete vergeblich auf die Eltern und den Bruder. Finde sie nicht unter den Hunderten von Menschen. Ich irrte herum: Suche sie in den nächsten Tagen in Schulen, großen Häusern und anderen Sammelplätzen. Draußen vor den Gebäuden war jeweils angeschrieben, wer in ihnen Zuflucht gefunden hatte. An der Mädchengewerbeschule entdecke ich die Namen der Mutter und des Bruders. Die Freude riesengroß. Aber Papa fehlt. Innenstadt brennt. 30000 Tote gibt es in dieser Nacht. Dann gehen wir um die Stadt herum zu Tante Lina – und treffen hier die Verwandten und den Vater. Das war ein Schlüsselerlebnis: Alles war weg und doch ist alles da, was du zum Leben brauchst! Ich erlebte zum ersten Mal das ungeheure Erlebnis: Du hast alles verloren und bist überglücklich: Wir waren in diesem ganzen Chaos als Familie geborgen.“
Frauen und Kinder fliehen aus der Stadt. Im Dezember sinken die Temperaturen auf -15 Grad. Königsberg ist von sowjetischen Truppen umkreist. Ende Januar können letzte Trecks mit Müttern und Kindern Königsberg verlassen. Am 26. Januar 1945 beginnt die Beschießung der Stadt. Am 27. Februar wird die Bevölkerung evakuiert.
Auf die Flucht über das Baltische Meer nimmt Agnes Miegel drei Dinge mit: Das Neue Testament, das ihr einst der Vater für die Reise nach Bristol schenkte. Ein Bild der Sixtinischen Madonna von Raffael und ein Bildnis der Heiligen Agnes von Jusepe de Ribera. Die Heilige Agnes war eine virgo consecrata, die immer wieder den Missbrauchsversuchen der Männer ausgesetzt war und schließlich als Märtyrerin starb. Agnes Miegel hat ihren Namenstag (21. Januar) stets gefeiert.
Als sich im Spätsommer die Tore des Lagers öffnen, spricht Agnes Miegel gegenüber einer Freundin aus, was niemand schärfer sieht als sie: "Deutschland ist Fremde für mich, das heißt keine Heimat mehr." Erlebnisse auf der Flucht über die Ostsee beschreibt sie in den Erzählungen "Christoffer auf dem Flüchtlingsschiff" und "Im Morgenrot". Im weißen Morgennebel hatte die "Jupiter" Rügen und die Kreidefelsen der Stubbenkammer passiert:
"Und diese Küste leuchtete in unirdischem Glanz, angestrahlt von rötlich goldenem Morgenlicht auf ihren weißen Hängen,- schönste, letzte, ersehnteste Küste des Vaterlandes, heilig auch für meine Augen, Gruß und Abschied des deutschen Ostlandes, jäh wieder im Nebel versinkend - für immer."
Dann werden die Vertriebenen entlassen. Dankbar schaut Agnes Miegel auf die Zeit in Oksbøl zurück: "Oksbøl ist das weitaus beste und größte aller Lager, auch das klimatisch u.s.w. gesündeste, bietet Weiträumigkeit und dank der Flüchtlingsbetreuung auch viel Geistiges (Theater, Kino, gute Musik - alles, was ich sonst nie mehr haben werde) reichlich tägliches Brot und gutes warmes Essen und im Winter warme Stube und eigenes Bett - drüben wartet auf uns Beide: Hunger, Frieren, Not, Einsamkeit."
Über Kolding reisen Agnes Miegel und ihre Lebensgefährtin nach Lüstringen/Osnabrück und weiter in den Raum Bad Nenndorf. Sie wohnen eine Zeit auf Burg Apelern, lehnen das Angebot ins Kloster Wülfingshausen einzuziehen ab. Ihre letzte Bleibe finden sie in einer Mietwohnung in einem Nachkriegsbau. Zur Grundsteinlegung schreibt Agnes Miegel:
"Agnes Gustavstochter, die Letzte der Ihren,
Die ehrfürchtig das Lied der Heimat gesungen..."
Agnes Miegel war die letzte ihrer Art. Klarer als ihre Verehrer sah sie, dass sich ihr Auftrag erfüllt hatte und "dass für mich weder als Mensch noch Dichter mehr ein Platz ist, am allerwenigsten in Deutschland." Aber wahre Dichter haben ein langes Nachleben. Agnes Gustavstochter Miegel wurde zur Dichterin in einer Welt voller Flüchtlinge. Deshalb plant man in Dänemark ein neues Flüchtlingsmuseum zu errichten, in dem deutsche Vergangenheit und internationale Gegenwart Raum finden. Es geht nicht mehr um Erinnerungsarbeit an Königsberg, sondern um ein bleibendes Menschheitsschicksal, besonders der Frauen wie etwa die Geschichte der Jesiden, das "Volk eines Engels" (https://www.youtube.com/watch?v=CeStNetPTeg), zeigt.
Meine Mutter hatte als Vollwaise den Krieg überlebt. Und Königsberg? Feuer vom Himmel war gefallen aus britischen Brandbomben. Die Düne aus Schutt und Asche deckte die Stadt zu.
Und die Düne deckte ihn zu: Mein Großvater Hermann Moeck (1894-1945)
Der Besuch im Flüchtlingslager Oxbøl inspirierte mich, wieder Agnes Miegel zu lesen. In den deutschen Antiquariaten fand ich viele ihrer Bücher angeboten, darunter die sechsbändige Ausgabe des Diederichs Verlages. Der Händler verlangte 85 Euro. Ich bot 52 Euro und erhielt die in taubenblaues mit goldenen Fäden durchwirkten Leinenbände. Das wäre keiner Erwähnung wert, wenn der Fahrer des Hermes-Paket-Dienstes, der mir das Päckchen freundlich lächelnd überreichte, nicht ein Flüchtling aus Afghanistan gewesen wäre. Das konnte kein Zufall sein, dachte ich. Wir kamen in ein Gespräch über den Khyber Pass und Jalalabad. Dann verabschiedeten wir uns. "Khoda Hafez!", sagte ich. Er antwortete: "Auf Wiedersehen!" Agnes Miegel gehört zu den Frauen, die eine Tiefenschicht berühren. Auch deshalb ist sie der westfälischen Sibylle Annette von Droste-Hülshoff zur Seite gestellt worden.
Königsberg, seine Geschichte und seine Menschen wurden durch Befehl der Besatzer der damnatio memoriae unterworfen.
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Eine sehr frühe Würdigung der "Gedichte" (1901) findet sich in den
Sozialistischen Monatsheften Juni/1904. S. 448-453.
Arthur Schulz schreibt über die 22jährige Dichterin:
"Eine höhere Cultur der Sprache und des Verses ist in Deutschland wohl nur noch bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal zu finden." Miegels Gedichte seien "nach Inhalt und Form unschätzbare Documente eines weiblichen und höchstpersönlichen Liebesgefühls (...) wie hinübergerettete Klänge aus den eleusinischen Mysterien." "Das Leitmotiv all dieser Balladen ist eine gegen die Gitter und Schranken des grauen Daseins stürmisch andrängende Sehnsucht nach Schönheit, Grösse und Lebensfreude. Über ihren Verse liegt eine im Sinne Nietzsches dionysische Grundstimmung, wie trunkenes Sonnenlicht, gebreitet."
http://library.fes.de/cgi-bin/somo_mktiff.pl?year=1904&pdfs=1904_0448x1904_0449x1904_0450x1904_0451x1904_0452x1904_0453&verz=1904/1904_06
„Agnes Miegel steht als Dichterin des zwanzigsten Jahrhunderts auf eigenem Grund. (…) Ihr Werk ist dichterisches Zeugnis einer antipodenhaften Wirklichkeit, die heute nur noch im Spektrum des Geistes faßbar ist, denn Ostpreußen und seine Landschaft, Haff und Seen, das Gutshaus und seine Linde, Düne und Meer haben die lebendige Beziehung mit den früheren stillen Bewohnern des Landes verloren. Sie sind zum dichterischen Bezug geworden im Lande ‚Nimmermehr‘ und im Reiche ‚Nirgendwo‘. Auf merkwürdige tragische Weise folgte und entsprach der Untergang der ostpreußischen Seinswelt dem vornehmlich schicksalsträchtigen Grundton dieses Werkes, das immer wieder an die Vergänglickeit alles Lebens erinnert.
Es hat in dem langen Leben Agnes Miegels nicht an Versuchen gefehlt, sie wegen ihrer tiefen Verbundenheit mit Ostpreußen als enge Heimat- oder gar Blut- und Bodendichterin in jenem Berühmt-berüchtigten Sinne abzutun und damit in der Literaturwissenschaft den Stab über sie zu brechen.“
Heinz-Georg Kyritz. Das Unbewußte im Dichtungserlebnis Agnes Miegels. In: The German Quarterley. Vol. 44, No. 1 (Jan., 1971), pp 58-68. p. 58.
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Господь мій і Бог мій забери від мене все, що не пускає мене ближче до Тебе
Господь мій і Бог мій
даруй мені все
що наближає мене до Тебе
Господь мій і Бог мій
Забери мене від мене
І зроби мене цілковито Твоїм
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Literatur zur Kurischen Nehrung und Dänemark
Richard Pietsch (1915 in Nidden geboren - 2007. Er war verheiratet mit Edith Amtsberg, der Tochter von Ulla Schulze-Resas) Fischerleben auf der Kurischen Nehrung. Dargestellt in kurischer und deutscher Sprache. Berlin 1982.
Martin Kakies (Nachbar unserer Urgroßmutter in Schwarzort. Der Elchphotograph der Nehrung). Elche am Meer. Leer 1954.
Willy Dähnhardt/Birgit S. Nielsen. Geflüchtet unter das dänische Strohdach. Schriftsteller und bildende Künstler im dänischen Exil nach 1933. Boyens & Co Verlag 1988. Kapitel: Deutsche Flüchtlinge in Dänemark 1945-1949. S. 216-234.
Jef Jefsen. Deutsche Nachrichten/ Zeitung für deutsche Flüchtlinge. In: Willy Dähnhardt/Birgit S. Nielsen. Exil in Dänemark. Verlag Boyens & Co. 1993. S. 659-701.
Dargestellt ist hier das dänische Flüchtlingslager Oxbøl