Die Tür zur Mutter:
Bruder Gerold Zenoni OSB ist Hüter der Kleiderkammer der Maria
Kloster Einsiedeln oberhalb des Zürcher Sees gehört zu den bedeutendsten Wallfahrtsorten Europas. Auch in der Schweiz lebende Tamilen pilgern zur schwarzen Madonna. Einsiedeln gilt unter ihnen als buddhistisches Heiligtum. Mit dem Jesuskind auf dem Arm begrüsst Maria jeden Menschen, der zu ihr kommt. Wie eine Perle liegt ihre kleine Kapelle in der opulent bemalten Barockkirche. Seit dem Jahr 1580 gibt es nachweislich den Brauch, die schwarze Madonna mit Festkleidern in den Farben des Kirchenjahres zu schmücken. Ich bin nach Einsiedeln gekommen, um ihren Garderobier und Meister der Kleiderkammer zu treffen. Niemand kommt der Muttergottes näher als Bruder Gerold Zenoni OSB. Er bestimmt, was die schwarze Madonna trägt. Seine Buchführung ist lückenlos. Etwa zwanzig Mal im Jahr findet der Kleiderwechsel statt. Wer sich nicht mehr erinnert, welches Kleid die Muttergottes bei seinem Besuch getragen hat, kann bei Bruder Gerold Auskunft finden. Kleider sind eine wahrhaft königliche Angelegenheit.
Ich nähere mich der Muttergottes über die Pferdeställe des Klosters. An der Hofpforte nahm ich eine blaue Parkbewilligung der Verwaltungsdirektion in Empfang. Hinter dem Marstall mit den „Cavalli della Madonna“ werde ich einen großen Misthaufen sehen, hieß es. Dahinter dürfe ich meinen Wagen parkieren. In Einsiedeln wird Pferdezucht betrieben. Bruder Kaspar Braun von Bregenz entwarf 1765-67 jene Pläne für die Stallungen, die wegen ihrer Akustik gerühmt wurden. Das Wiehern der Pferde bekam eine neue Qualität, wenngleich es an die Hymnen der Mönche und Engel nicht heranreichte. Einsiedeln gilt als eine Gründung der Engel. Kirchen werden von Bischöfen geweiht. Als Bischof Heinrich im Jahr 948 seines Amtes walten wollte, teilten ihm die himmlischen Hierarchien im Traum mit, dass sie diese Aufgabe bereits übernommen hatten.
Engel gehen vor! Da Maria die Königin der Engel ist, leuchtete dem ehemaligen Abt des Klosters der Vorgang ein, Otto I. war ebenfalls überzeugt und ließ Leo VIII. die Engelweihbulle anfertigen. In Erinnerung an das Wunder gehört das große Engelweihkleid von 1685 zu den Kostbarkeiten der Kleiderkammer. Einst war es überreich mit Perlen bestickt. Doch am 3. Mai 1798 zeigten Napoleons Truppen, was sie unter Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verstanden und plünderten nicht nur das Kloster, sondern stahlen die berühmten Zuchthengste.
Am Misthaufen vorbei gehe ich zum Hofladen und kaufte zwei Flaschen Pinot Noir aus der Kellerei des Klosters. Dann werde ich hinter der Klosterpforte vom Gastpater empfangen. Wir schreiten durch lange Flure an vielen Zellen vorbei. Über den Eingängen befinden sich Schnitzereien mit biblischen Motiven. Jakobs Traum von der Himmelsleiter inspirierte Benedikt zu seiner Lehre von den Stufen der Demut. Die Tür mit der Engelsleiter ist durch einen Fahrstuhl ersetzt worden. Hier gehe es direkt in den Himmel, scherzt der Gastpater. Dann kommen wir in den Klausurbereich. Es herrscht Schweigen. Nach dem Mittagsgebet werde ich in den Speisesaal geführt. Schweigend nehmen wir die Mahlzeit ein und lauschen dem Vorleser.
Endlich treffe ich Bruder Gerold. In Schweizer Künstlerkreisen ist der Journalist, Fotograf und Autor des Bildbandes „Madonnas Fashion“ ein begehrter Gesprächspartner. Unter vielen Kulturträgern und Politikern gilt er als Botschafter seines Klosters. Auf verschlungenen Pfaden führt mich Bruder Gerold zu einer Tür. Irgendwo muss der Habit des schlanken Gottesmannes eine geheime Tasche haben. Denn plötzlich hält der Wächter der Kleiderkammer ein großes Schlüsselbund in der Hand. Einige Stufen führen hinab zu einem Raum mit einem großen Tisch in der Mitte. Ich sehe Schmuckstücke und drei Kronen für die Himmelskönigin und das Jesuskind. Die kostbarste ist mit einer schwarzen Perle geschmückt, die Kaiser Karl I. auf dem Altar in Einsiedeln niederlegte.
Die Besucherliste ist sehr lang. Hans Christian Andersen gehört dazu. Muss man wie der Dichter der kleinen Meerjungfrau ein Liebhaber der Schönheit sein, um Freude am Farbenspiel der Kleidung zu haben? Bruder Gerold ist handwerklich begabt wie der große Däne. Unter der Anleitung der Mutter gestaltete er mit viel Liebe zum Detail die Kasperlifiguren, den Polizisten, den Doktor und den Räuber. Diese Figuren sind noch immer vorhanden wie der Teddybär, für den die Mutter eine Latzhose genäht hat. Kreative Menschen bewahren sich die Kindheit.
Doch wo sind die prägenden Kulturtechniken des Stickens und Gestaltens geblieben? Früher wurde das Fach „Werken und Handarbeiten“ in den Schulen unterrichtet, heute gehen die Kinder zur Ergotherapie. Nicht nur Pflanzen stehen auf der Roten Liste. Der Besuch der Kleiderkammer führt zu einer Begegnung mit beinahe ausgestorbenen Fingerkünsten. Weben ist ein altes Symbol für das schöpferische Handeln Gottes. Er webt die Muster des Lebens in ihrer unerschöpflichen Vielfalt. Marias Kleider sind ein Spiegel dieser Schönheit. In zwei großen Schränken befinden sich viele Schubladen und in jeder ein Kleid. Ich möchte das Engelweihkleid sehen.
Einst war das alte Engelweihkleid mit hunderten von Perlen bestickt. Wo sind sie geblieben? Die Mönche retteten die Muttergottes und ihre Kleider vor dem Franzoseneinfall. Das Kleid kam später ohne Perlen, Goldblättchen und Edelsteine zurück und die Muttergottes mit aufgefrischter schwarzer Hautfarbe. Ursprünglich war ihr Antlitz weiß und wurde im Laufe der Zeit vom Rauch der Kerzenopfer geschwärzt wie die Bauernstuben vom Rauch des Kamins. Die schwarze Madonna atmet Geschichte. Das spürte auch der Restaurator und widerstand der Versuchung, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Kirche lebt aus der Tradition. Diese ist von Traditionalismus als sturem Festhalten am Vergangenen zu unterscheiden. Tradition ist das Webmuster des Gewordenseins und Werdens. Hochzeitskleider wurden für die Muttergottes umgearbeitet. Muslime und Frauen aus Asien stifteten Kleider. Zum Kleiderfundus gehören auch Farben, die nicht zum liturgischen Jahr passen. Wer Wurzeln hat, scheut nicht die neuen Triebe am alten Stamm und ist offen für Begegnungen.
Kirche und Kunst gehören zusammen, seit der Evangelist Lukas die Mutter Jesu ins Bild gesetzt hat. Bruder Gerold fühlt sich in beiden Welten wohl wie die vielen Photos von Prominenten, deren er begegnete, dokumentieren. „Ist das nicht Winnetou?“, frage ich. Natürlich, der echte und einzige, verkörpert von Pierre Brice. Der edle Häuptling war einst für jugendliche Leser ein Symbol für friedliche Konfliktlösung. Karl May, der auch für katholische Verlage aus Einsiedeln schrieb, gehört ebenfalls zu den Besuchern der Muttergottes. Er hat sogar ein „Ave Maria“ komponiert.
Zum Beten ist im Kloster immer Zeit. Wir brechen auf. Die Tür zum Geheimnis der Kammer wird sorgfältig verschlossen. In der mit hunderten von Engel ausgemalten Kirche knien viele Pilger bereits vor dem Muttergottes. Einige berühren mit ihren Händen den kühlen Marmor der Kapelle. Im Marienmonat Mai trägt die Himmelskönigin statt des Zepters eine goldene Rose. Rosa aber scheint ihre Lieblingsfarbe zu sein. Es ist Muttertag. In diesem Moment erinnert er mich an die überwältigende Bedeutung, die Mütter einst für die religiöse Prägung ihrer Kinder hatten. Aus dieser Einheit von Kopf, Herz und Hand, aus Zärtlichkeit, Nähe und Gebet bestand der Nährboden für den Priesternachwuchs.
Ich darf das Innere des Gnadenortes betreten. Meine Verbeugung gilt an diesem Tag auch meiner eigenen Mutter. Aber das weiß nur die hohe Dame im schönen Kleid. Heute ist es das meerblaue und weiße Damaszener-Kleid mit orientalischen Perlen und roten Korallen. Selbstverständlich ist alles echt. Darauf darf die Gemeinde vertrauen, die nun ihre Stimme zur mystischen Rose und dem Meerstern über den Wellen des Lebens erhebt. Sie hat manche Ehe gestiftet. Vielleicht dürfen auch wir eines Tages aus dem Brautkleid meiner Frau ein weiteres Gewand stiften?