Wer singt noch Hymnen an die Kirche? 

Gertrud von le Fort: 
Eine biographische Spurensuche bis zu ihrer Konversion


 


„Alles, was reifen soll, braucht langes Ruhen.
Alles, was zur Tiefe drängt,
braucht die Behütung eines gütigen Abseits.“

Gertrud von le Fort. Mein Elternhaus

 

 

 

Vor einhundert Jahren wurde zum letzten Mal in der Geschichte des Christentums ein Loblied auf die Kirche angestimmt. Die legendären „Hymnen an die Kirche“ (1924) von Gertrud von le Fort waren schon im Jahr ihres Erscheinens etwas aus der Zeit gefallen, gerade weil sie so genau in die Zeit der großen Illusion einer Erneuerung der Kirche passten. Man las Søren Kierkegaard und entdeckte den Einzelnen, man las Meister Eckhart und spürte mystische Glut unter der Asche des Glaubens, man stimmte mit dem Heiligen Franz einen Lobgesang auf die Schöpfung an und glaubte den bösen Wolf umarmen zu können, man übersetzte John Henry Newman und öffnete die Tore für kommende Konvertiten.

Eine Urfassung der „Hymnen an die Kirche“ erschien im Münchener Theatiner Verlag als vierter Band der Theatinerdrucke. Sie ist heute ein Rarissimum. Karl Muth brachte im „Hochland“ (10. Heft. Juli 1923/24) einen Vorabdruck von drei Hymnen. In ihnen ringe die Seele mit Gott wie einst Jakob im nächtlichen Kampf mit dem Engel, schreibt er in einer redaktionellen Notiz. Die Zeit dränge „zum hymnischen Ausdruck religiöser Erschütterung“. In welche hymnischen Höhen sich der Geist aufschwingen kann, hatte Rainer Maria Rilke mit seinen „Duineser Elegien“ (1922) und den „Sonetten an Orpheus“ (1922) vorgemacht: „Rühmen, das ist’s!“

Wandervogel und Bündische Jugend, katholische Jugendbewegung und Pilgerreisen von Schriftstellern nach Moskau. Reich Gottes oder Rotes Reich: Höchst widersprüchliche Suchbewegungen prägten die Zwanziger Jahre. Romano Guardini hatte der pfingstlichen Erwartung beispielhaften Ausdruck verliehen, als er vom Erwachen der Kirche in den Herzen der Gläubigen sprach. In dieser jugendbewegten Stimmungslage erschienen die Hymnen an eine mystische Kirche, die durchaus nicht identisch mit der römisch-katholischen Kirche ist, sondern ein Ausdruck jener evangelischen Katholizität, die der Marburger Religionswissenschaftler Friedrich Heiler in seiner monumentalen Studie „Der Katholizismus - seine Idee und seine Erscheinung“ (1923) beschrieben hatte. 

Mit fast fünfzig Jahren war Gertrud von le Fort zwar jugendbewegt, aber nicht mehr ganz jugendlich. Sie war eine theologisch gebildete Autorin und hatte den von Kierkegaard über Nietzsche bis zur liberalen und dialektischen Theologie beschriebenen Prozess der sterbenden Kirche in eigener Seele erlebt. Unsere Zeit ist geschichtsvergessen und lebt in einem Absolutismus des Gegenwärtigen, als gäbe es keine Vergangenheit und keine Zukunft.

Sechs Jahre war die kleine Baroness alt, als Nietzsche vom Tod Gottes sprach und die Konsequenzen beschrieb: „Was sind denn die Kirchen anders als Grüfte und Grabmähler Gottes?“ Gertrud von le Fort hatte in ihrer Kindheit und Jugend genügend Predigten vor leeren Kirchenbänken erlebt. Die geistliche Leere und Einsamkeit der Seele in der Kirche ist nicht erst eine Erfahrung der Frommen unserer Zeit. Wir stehen am Ende eines sehr langen Prozesses der Erosion. Das spüren alle, egal welche Position sie beziehen. Daher die Gereiztheit und Unerbittlichkeit in den Diskussionen, daher das Schweigen vieler Bischöfe, daher der verzweifelte Versuch durch Anpassung an den Zeitgeist etwas zu retten, was seit dem Ende des 19. Jahrhunderts längst verloren ist. Karl Rahners Blick auf die sterbende Kirche war ehrlicher, wenn er in seinem Aufsatz „Der Christ und seine ungläubigen Verwandten“ (1954) von der Diasporasituation in der eigenen Familie als einer „Art des Martyriums“ sprach. Wie Joseph Ratzinger hatte er wenig Hoffnung auf eine Änderung der Lage. „Das Heidentum sitzt heute in der Kirche selbst“, schrieb Ratzinger in seinem programmatischen Aufsatz „Die neuen Heiden und die Kirche“ (1958). 

Gertrud von le Fort wollte mit ihren Hymnen nicht die Kirche reformieren, die Glaubensspaltung überwinden oder die Massen zur Messe führen. Sie hatte die kleine Schar der Erwählten vor Augen, um die es auch heute allein geht. Alle Erneuerung aber beginnt beim Einzelnen. Wenn Gertrud von le Fort von dem Geheimnis der Gottesbegegnung spricht, benutzt sie zwei Symbole der mystischen Überlieferung. Gott ist die Mutter und das Meer: 

„Mutter, ich lege mein Haupt in Deine Hände: Schütze mich vor Dir! Denn furchtbar ist das Gesetz des Glaubens, das Du aufrichtest.“  

Die „Hymnen an die Kirche“ sind ein Zeugnis der Erfahrung des Heiligen als Mysterium tremendum et fascinosum (Rudolf Otto) und das Bekenntnis einer im Meer von Gottes Gegenwart zu wahrer unio mystica versunkenen Seele. 

„Wie das Meer eine Insel verschlingt, so habe ich dich verschlungen, daß ich dich hinausschwemmte ins Ewige.“

Die Konversion war weder Bruch mit ihrer Herkunft noch markiert sie einen Wendepunkt. Sie war auch nicht Folge einer religiösen Entwicklung, sondern die Gestaltwerdung und Freisetzung ihrer Sendung als Dichterin. Sie fand Erfüllung im Lobpreis einer ozeanischen Erfahrung des Katholischen. Um die „Hymnen an die Kirche“ schreiben zu können, bedurfte es eines langen Weges durch vielfältige Krisenerfahrungen. Dies zeigt der Blick auf ihr Elternhaus, ihre lyrischen Anfänge und ihre weitere religiöse Entwicklung.

 

 

Elternhaus und Prägungen: 
Mutter und Meer


Drei Jahre nach der Eheschließung von Elsbeth, geborene von Wedel-Parlow (1842-1918) und Lothar Freiherr von le Fort (1831-1902) kommt Gertrud in Minden zur Welt. Mit 34 Jahren ist die Mutter für die damalige Zeit eine Spätgebärende. Der  Beruf des Vaters als preußischer Offizier fordert einen häufigen Wohnortswechsel. Von Minden zieht die Familie nach Berlin, Koblenz, Hildesheim und schließlich auf den Familiensitz Gut Boek am Müritzsee. Das Gut liegt im einst evangelisch geprägten Mecklenburg vierzehn Kilometer östlich von Vipperow. Heute beherrbergt es eine Gaststätte, das Dorfmuseum und ein Zinnfigurenmuseum. Die Geschwister Elisabeth (1880-1972) und Stephan (1884-1954) kommen im Vierjahresrhythmus zur Welt. Sie werden von Ammen gestillt, denen die Mutter zeitlebens freundschaftlich verbunden bleibt.

Die Baronin war eine gute Vorleserin und Rezitatorin. Eine kirchliche Bindung besaßen beide Eltern nicht, doch verweigerten sie sich nicht dem gelegentlichen Besuch eines lutherischen Gottesdienstes. Dann nahm selbst der Vater am Abendmahl teil. Die Familie gehörte zu den Stillen im Lande. Herzensfrömmigkeit aus der Tradition der Waldenser und Herrnhuter braucht keinen Pfarrer, steht doch die Seele unmittelbar vor Gott. Auch die „Hymnen an die Kirche“ kommen ohne einen Priester und ohne die Eucharistie aus. Für die gelebte spirituelle Praxis ist die Hausandacht wichtiger als der Besuch einer Kirche. Sie versteht sich nicht als Opposition oder Protest, sondern versucht die Leere lutherischer oder reformierter Predigt zu kompensieren. Seelenfrömmigkeit entsteht, wenn das Wort von der Kanzel seelenlos geworden ist. Gertrud von le Fort erlebt Kirche in der geistlichen Gestalt einer innigen familiären Feier. Ihr steht die Mutter jeden Morgen vor. Die Mutter ist Kirche. Daran wird auch die Konversion nichts ändern. Die Morgenandachten der Mutter orientierten sich am „Geistlicher Liederschatz. Sammlung der vorzüglichsten geistlichen Lieder für Kirche, Schule und Haus und alle Lebensverhältnisse“ (1832) des Johann Gottlob Samuel Elsner (1778-1856). Elsner gehörte zu jenen evangelikalen Geistern, die Theodor Fontane in „Irrungen und Wirrungen“ (1888) mit der Gestalt des Fabrikmeisters und Predigers Gideon Franke respektvoll beschreibt. Sie werden Konventikler nach dem lateinischen Wort für eine religiöse Zusammenkunft außerhalb der Kirche („conventus“) genannt. Der Gründervater des Pietismus, Philipp Jakob Spener, nannte diese Hauskreise „Collegia Pietatis“.

Der Berliner Erweckungsprediger Elsner war Mitglied der Böhmischen Brüdergemeinde der Herrnhuter, deren Losungen auch Elsbeth von le Fort begleiten. Elsner verweist im Vorwort seines „Geistlichen Liederschatzes“ zu Recht auf das Lied als genuine Hervorbringung evangelischer Frömmigkeit: „Man hat es seit der Reformation als eine ganz besondere Gnaden-Vorsorge Gottes für seine Evangelische Kirche betrachtet, daß aus derselben ein so großer und theurer Schatz geistlicher und erbaulicher Lieder hervorgegangen ist.“ In dieser pietistischen Tradition stehen die „Hymnen an die Kirche“ mit ihrem „geistlichen Liederschatz“ mystischer Gespräche zwischen Gott und der Seele. Ihr Katholizismus ist nicht nach Rom ausgerichtet. Kirche ist für Gertrud von le Fort der überkonfessionelle Raum, wo Gott gegenwärtig ist. Das wird sie noch einmal in ihrer letzten Erzählung „Der Dom“ (1968) ausführen. Die religiöse Empfindsamkeit und Empfänglichkeit der Mutter besaß in der Bibel, der „Nachfolge Jesu“ des Thomas a Kempis und den Liedern Paul Gerhardts weitere unerschöpfliche Quellen. „Befiehl du deine Wege“ gehörte zu ihren liebsten Liedern. 

Die Kirche ist für Gertrud von le Fort mütterlich und innerlich. Eine Kirche der glaubenden Herzen und der Innigkeit. Eine Frauenangelegenheit. Die Mutter hatte ein zärtliches Verhältnis zum Glauben. Diese Innerlichkeit war seit jeher ein Kennzeichen der Frommen und Stillen im Lande, die bei Gerhard Tersteegen ein überkonfessionelles Christentum fanden. Aus eigener Erfahrung kannte die Mutter die Schattenseiten der Seele, die Schwermut und das tragische Lebensgefühl der Heimatlosigkeit, das in den Liedern Gerhardts aufgehoben und verwandelt wurde. Die Mutter konnte zeitweise geradezu in Schwermut versinken. So erscheint sie auf dem bekannten Portrait: Hager, traurig, nachdenklich mit einem Rosenkranz um den Hals. Ist das ein Zeichen für Ökumene oder Aberglauben?

Die älteste Tochter musste sich dem mütterlichen Erbe der Schwermut immer wieder stellen. Bilder des Unbehaustseins eröffnen die „Hymnen“: „Ich bin ein Reis aus entwurzeltem Stamm“, „Ich bin eine Schwalbe, die im Herbste nicht heimfand“, „ich bin eingeschlossen in mein ewiges Allein!“ Doch kann Gott Einsamkeit und Schwermut wandeln. Seine Gegenwart in der Seele wird als Wunder erfahren: „Wie bist du herein gekommen, du Stimme meines Gottes?“ Nur weil Gott gekommen ist, kann die Seele sprechen. Das Hohelied und die Mystiker wie Bernard von Clairvaux haben es schon immer gewußt: Die Seele würde Gott nicht suchen, wenn er sie nicht bereits gefunden hätte. 

Im späten Alter von beinahe siebzehn Jahren ließ sich Gertrud von le Fort in der Hildesheimer Lambertikirche konfirmieren. Sie wählte einen Konfirmationsspruch, in dem ihr Wesen Ausdruck fand: „Der verborgene Mensch des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geist - das ist köstlich vor Gott!“ (1. Petrus 3.4) Gertrud von le Fort ist die Dichterin des verborgenen Lebens. Im Gedicht kann sie sich offenbaren, ohne sich enthüllen zu müssen. Einige der frühen Gedichte sind im Kreuzgang des Hildesheimer Domes neben dem tausendjährigen Rosenstrauch entstanden. Drei Tage vor ihrer Konfirmation notiert sie:

„Erwacht! 
Nun möcht ich singen und sagen davon,
Doch find ich nimmer den rechten Ton.
Was also mächtig das Herz durchzieht,
Das sagt kein Wort, das sagt kein Lied.“

Der Konfirmandenunterricht und der Besuch der Gottesdienste dürften wenig erbaulich gewesen sein. Das Gedicht „Kirchenschläfchen“ zeigt einen lutherischen Pfarrer, der vor leeren Bänken über die Listen des Teufels predigt. Die Ausführungen sind so belanglos und fern jeder Lebenswelt, dass die Konfirmandin in friedlichen Schlummer fällt:

„Der Pfarrer hat just keine Eile,
Und auf den Zehen an der Wand
Schleicht langsam hin die Langeweile.
Das ganze Kirchlein liegt gebannt
In wunder-wundersüßer Ruh,
So recht von aller Welt geschieden -
Die Augen fall’n mir sachte zu,
Und leise kommt - der Gottesfrieden.“

Wenn kirchlicher Unterricht und Predigt wenig erhebend sind, dann muss sich die fromme Seele selbst helfen. Der Hauskreis kompensiert den Mangel an spiritueller Ausstrahlung und emanzipiert sich gezwungener Maßen von der lutherischen Pastorenkirche. Der Glaube der jungen Baronin braucht keine Kirche. In der Tradition der Waldenser stehend hält auch der Vater Distanz, wenngleich er als preußischer Offizier jeden Bruch mit dem Luthertum, das gleichsam zur Staatsreligion geworden ist, vermeidet.

Die prägenden Erweckungserlebnisse hat Gertrud von le Fort in der Natur. Überwältigt ist sie vom Meer, dessen Rauschen aus der Brandungszone sie bei geöffneten Fenstern in den Schlaf begleitet, wenn sie ihren Großvater besucht. Er besaß in Misdroy (Międzyzdroje), 40 Kilometer östlich von Usedom, ein Haus am Meer. Hier verbrachte das Kind jedes Jahr die langen Sommerferien. In ihren Erinnerungen mit dem Hölderlin-Zitat „Hälfte des Lebens“ (1965) im Titel offenbart die neunzigjährige Dichterin ein Erweckungserlebnis von sakramentaler Intensität:

„Das Meer übte eine ungeheure, ernste und ergreifende Wirkung auf mich aus. Ich erinnere noch einen Abend, als ich mich, überwältigt von dem Anblick der im Meer untergehenden Sonne und der ganz in Glanz getauchten Unendlichkeit, in die Knie warf und die Hände faltete. Eine fremde Dame beugte sich zu mir nieder und fragte mich, wie ich heiße. Ich konnte nur meinen Vornamen stammeln - die Majestät des Alls war über mir, beseligend und zugleich zermalmend. Ich habe nur noch einmal die gleiche Ekstase erlebt - wieder war es eine untergehende Sonne, die mich in die Knie warf - das erschaffene Licht als Symbol des Unerschaffenen.“

Das Meer ist der Ort einer Epiphanie. So wird dieses Schlüsselerlebnis zu einem Leitmotiv in Gertrud von le Forts Lyrik, einem Ort der Meditation und der wiedergefundenen Seelenruhe. „Meerabend“ aus dem Zyklus „Lieder und Legenden“ (Fritz Eckhardt Verlag. Leipzig 1912) gehört zu den vielen vertonten Gedichten der Baronin:

„Das Meer ist weiß wie Seide und wie im Dämmern ein Stern, 
nur die kleinen Wellen am Ufer singen noch süß und fern.
Sie singen: ‚Friede! Friede über der starken See!’
Und sie singen: ‚Leise! Leise!’ als schliefe am Strand ein Weh. 
Ich liege im Gras der Dünen wie im tiefen Meer: 
Tag und Traum und Tränen das ist lange her,
Mein Herz ist wie eine Muschel, es sagt kein Wort mehr dazu, 
Es ist ganz voll Rauschen — voll Rauschen und Ruh.“ 
Symbole sind vielschichtig und mehrdeutig. Das Meer ist Kirche, ist Mutter und gelegentlich auch ein Bild für die entgrenzte Seele, die Halt im Aufgehen in einem Größeren findet. So heißt es im Prolog der „Emigranten-Gedichte“ (1905) in Vorwegnahme der „Hymnen an die Kirche“:
„Was sucht des Meeres ewges Wogensenden,
Sucht es sein Ufer oder seine Schranken?
Erlösung heißt: vor einem Größren enden.“
„Mutter“ und „Meer“ sind auch in dem Zyklus „Frauenliebe und Leben“ (1935), vertont von Oskar von Pander, Synonyme:

„O meine Mutter,
Früheste, zarteste Wohnung des träumenden Kindes!
Wie in der Muschel das Meer,
So klang mir in deinem Schoße zärtlich und sanft
Des Lebens unendliche Woge -
Bis sie mich brausend ergriff  - -

Du meine Muschel und dann meines Meeres
Erstes liebliches Antlitz
Meines Schicksals:
Aus deinem Schoße, Mutter glitt ich in deine Arme!“

Schon als Kind fühlte sie sich zu Menschen mit besonderer Begabung für das Paranormale hingezogen. Zu ihnen gehört Onkel Egon. Er soll die Gabe des Zweiten Gesichtes besessen haben. „Spökenkieken“ (1907) - wie der Titel einer frühen Erzählung - nannte man diese Empfänglichkeit im Westfälischen. Die naturmagischen Balladen der Annette von Droste-Hülshoff und der Agnes Miegel berichten von Erfahrungen aus diesem Grenzbereich. In ihrer Fragment gebliebenen Autobiographie berichtet die Baronin von einem familiären Umfeld, das für Paranormales empfänglich war: Eine weise Frau, die Wunden besprechen („böten“) und so das Blut stillen konnte. Sie machte dazu aus Strohhalmen ein Kreuz, ließ das Blut darauf tropfen und murmelte geheimnisvolle Worte. Zu den Grenzphänomenen gehörten auch Erlebnisse mit Zigeunern. Plötzlich stand ein Zigeuner im Salon der Tante, obwohl das Haus von drei scharfen Hunden bewacht wurde. Der Onkel begleitete den Eindringling wieder hinaus, vorbei an den Bestien, die ängstlich den Kopf duckten und den Schwanz einzogen.

„Man sagte uns die Zigeuner hätten ein Zeichen, womit sie die Kreatur bannen könnten. - Es war dies eines der irrationalen Erlebnisse meines Lebens, deren ich einige wenige gehabt habe und die sich in der heutigen Welt wohl recht fremdartig ausnehmen. Aber dies bedeutet nicht die Überwindung eines Aberglaubens, sondern nur eine weithin vom Äußerlichen gefangene Menschheit, die durch die ungeheuren Erfolge der Wissenschaft und Technik für eine im letzten doch geheimnisvolle Welt verschlossen ist.“

Kindheitserfahrungen sind nicht kindisch. Denn „tatsächlich bleibt ja in einem tieferen Sinne alles erhalten, was wir je geträumt.“ Diese früh erfahrene Einheit der Wirklichkeit hat den Weg der Dichterin entscheidend geprägt. Ihre Genialität wurde auch nicht wie bei vielen Kindern durch die Schule gebrochen. Wie die religiöse Erziehung nicht den Pfarrern überlassen wurde, so setzte man im Haus le Fort die Töchter nicht den Lehrern aus. Der Vater hielt nichts vom deutschen Schulsystem und übernahm selbst den Unterricht seiner Töchter. „Diese Unabhängigkeit von der Schule bedeutete natürlich ein sehr großes Maß von Freiheit, Sorglosigkeit und Ferien. Wir waren zuweilen monatelang auf dem Lande.“ („Mein Elternhaus“) Den eigenen Leidenschaften folgend, setzte der Vater einen Schwerpunkt im Fach „Geschichte“. Die Inhalte präsentierte er einem biographischen Ansatz folgend als Familiengeschichte.  Wohin der Blick in die Geschichte sich auch richtete, immer trat ein Baron von le Fort in Erscheinung. Weltgeschichte als Familiengeschichte: Gertrud von le Fort hing ihrem Vater an den Lippen. Die Familie gehörte zu den Freiherrn des alten Reiches. Diese Verortung schuf eine natürliche Distanz zu aller Zeitgenossenschaft. Der Vater wird als Sturkopf beschrieben. „Um seiner Überzeugungen willen konnte mein Vater schroff und heftig werden, es war nicht leicht, seine Verzeihung zu finden, wenn man ihn erzürnt hatte.“ Die Mutter habe eine „innere Jugendlichkeit“ ausgestrahlt. „Zu der Unerschöpflichkeit ihrer mütterlichen Liebe - sie ging ganz in ihren Kindern auf - kam die Unerschöpflichkeit ihrer künstlerischen Anlagen, durch die sie uns entzückte und verwöhnte.“

Erst in der Hildesheimer Zeit (1888-1898) wird die Vierzehnjährige in das Institut von Fräulein Hern eingeschult. Die Elisabethschule in der Moltkestraße war dem Goethegymnasium angegliedert und lag in unmittelbarer Nähe zum Elternhaus in der Steingrube 12. Ein Herr Jahns vom gegenüberliegenden Knabengymnasium erteilte den Geschichtsunterricht. Natürlich das Lieblingsfach der Baronin, die unter der Anleitung des Vaters die Bücher Leopold von Rankes las. Ihr Zeichentalent findet professionelle Förderung durch den Privatunterricht bei Friedrich Küsthardt (1830-1900).

Im Fach „Rechnen“ versagte sie völlig. Hier waren die erheblichen Defizite durch keine pädagogische Kunst mehr aufzuholen. Was tun? Gedeckt durch den überragenden Vater floh Gertrud von le Fort in die Krankheit. Man sprach von labiler Gesundheit. Diese Diagnose reichte aus, um die Tochter vom Mathematikunterricht freizustellen.

Gedichte (1900)

Das in dem Schweriner Friedrich Bahn Verlag erschienene Bändchen „Gedichte“ (1900) ist heute ein Rarissimum, seltener noch als die Erstauflage der „Hymnen an die Kirche“ oder die wenigen Exemplare der Erstausgabe des Inselbändchens Nr. 210 „Das Gericht des Meeres“ (1943). So weit ich sehe, gibt es nur noch das Exemplar der Schweriner Landesbibliothek.

Die Gedichte erzählen von Liebe und Liebesleid, von Verletzungen und Enttäuschungen und immer wieder von der großen Sehnsucht nach dem Allumfassenden, dem „Dom“, der sich über dem gebrochenen Leben wölbt. Über das Liebesleben der jungen Dichterin wissen wir nichts. Ihre spätere Neigung gilt den verheirateten Männern wie Ernst Troeltsch und Friedrich Gogarten. Da fühlt sie sich sicher und findet Familienanschluss.

Im Vergleich zu der überbordenden Lebenslust der jungen Agnes Miegel dichtet Gertrud von le Fort keusche Jungmädchenlyrik voller Entsagungen. Folgt man den Gedichten, so gab es Enttäuschungen und Verletzungen. „Einst wollte ich glücklich sein“, heißt es. „Ich bin eine Prinzessin vom Walde,/ Mich küßte der Mondenschein“, die Menschen sind „irrende Königskinder./ Wir haben den traurigen Königssinn,/ Und das Heimweh zieht immer vor uns hin/ Wie glühende Abendröte.“ „Ich spinne mich in erträumtes Glück/ Mit Liedern und Märchen ein“. „fiebernd Lebensglühn“ nennt die Dichterin diese unerfüllte Sehnsucht. An einem Kreuzweg begegnet ihr die personifizierte Minne. Sie klärt die sieche Seele über das Wesen der Liebe auf. Wer lieben will, muss auch leiden können. Dann entzieht sich die Liebe der Seele und es bleibt allein ihre Schwester, das Leid. Warum die Liebe der Dichterin keine Erfüllung findet, wird in dem „Lied einer Stolzen“ angedeutet. Das Gedicht „Allein“ berichtet von einem einsamen Gang in den tiefen Wald und einer Versöhnung mit der Erfahrung, ein Einzelner zu sein:


„Einst ging ich durch den tiefen Wald,
Und niemand war bei mir,
Und immer weiter drang ich ein
Ins duftige Revier.

Da endlich blieb ich stille stehn
In grüner Einsamkeit,
Und dachte, wie die Menschen wohl
Mir alle nun so weit.


Hoch über mir im lichten Blau
War Gottes Himmelszelt,
Im Herzen drinnen Gottes Ruh’
Und um mich Gottes Welt.

Es fiel durchs grüne Blätterdach
Der Sonnenglanz herein;
Mir zog es wonnig durch den Sinn:
‚Wie bin ich so allein!‘ - - - -

Die Zeit, sie kam, die Zeit sie ging,
Bracht Sturm und Sonnenschein,
Sie führte mitten in die Welt
Mich eines Tages hinein.

An fremden Menschen ohne Zahl
Mein Blick vorüber glitt:
Man lachte und man scherzte viel, -
Ich lacht’ und scherzte mit.

Da fiel der Tag im grünen Wald
Mir plötzlich wieder ein, -
Wehmütig klang es in mir nach:
‘Wie bin ich so allein.’“

Von Sand, Sinnen und Seligkeit dichtet Agnes Miegel. Die junge Baronin träumt von rosenumrankten Schlössern. Die Dichterin bricht auf, findet das „wunderschöne Schloß“, muss aber erkennen: „War alles, wie ich’s einst geträumt,/ Nur - war das Schloß nicht mein.“ Was tun? Die Dichterin greift zur Laute und singt „von jenem Schloß ein Lied“: „Und wie ich sang und wie es klang,/ Da - war das Schlößlein mein.“ Lyrik als Ersatz für ein gelebtes Leben.

In ihrer Autobiographie berichtet die Baronin von einer Engelvision im Kleinkindalter. Der Engel trug ein lichtblaues Gewand und „hielt eine lange Blumengirlande in den Händen - sein Antlitz, ein leuchtendes Kindergesicht, strahlte mich an, und wir haschten einander rund um den großen Esstisch meines elterlichen Hauses. Diese Vorstellungen waren so lebendig, dass meine Mutter mir nach meiner Beschreibung einen kleinen Engel malte, der dann die Erinnerung an die himmlische Begegnung wach erhielt.“  Mit dem  merkwürdigen Gedicht „Schutzengel“ und dem Berufswunsch „Engel“ schließt das Bändchen der 24jährigen Dichterin.


„Ich wollt’, ich wär’ im Himmelreich
Und allen lieben Engeln gleich,
Hätt’ abgethan der Sünden Kleid,
Und trüg’ zwei Flügel licht und breit.
Dann wollt’ zum lieben Gott ich gehn
Und bitten ihn recht fromm und schön:
Herr, laß zurück ins Erdenthal
Als Engel mich ein einzig Mal!
Ich hatt’ ein Menschenkind dort gern,
Das ist dir, lieber Gott, noch fern.
O laß mich seinen Engel sein,
Ich will dir’s hüten treu und fein.
Mit meinem gold’nen Flügelpaar
Will ich’s beschützen vor Gefahr.
Will’s führen auf dem rechten Pfad,
Will’s weisen auf des Heilands Gnad’!
Will halten ihm die Augen zu,
Daß es nichts Böses seh’ noch thu.
Und schickst du ihm ein Herzeleid,
Schließ’ ich es in die Arme beid’,
Und mach’ das kranke Herze still,
Und tröst’ es, wenn es weinen will.
So halt’ ich still und unerkannt
Es lebenslang an meiner Hand,
Und einst in seiner letzten Pein
Will ich sein Todesengel sein.
Mein Mund nimmt ihm des Lebens Zier,
Der letzte Kuß, er kommt von mir!
Ich führ’s zur Himmelsthür hinein,
Und, Herr, dann laß mich selig sein.“

 

 

Studium der Theologie

1899 hatte Ernst Troeltsch in Heidelberg die Zulassung von Hörerinnen durchsetzen können. Statt eines Reifezeugnisses legte die Baronin dem Prorektor und Mediziner Albrecht Kossel (1853-1927) ihre Gedichtbände vor und bekam so den Status einer Gasthörerin. Hans von Schubert (1859-1931) erneuerte später als Prorektor diese Erlaubnis. Gertrud von le Fort wurde eine Langzeitstudentin der Evangelischen Theologie. Ein Abschluss war weder vorgesehen noch möglich. Erst in den Siebziger Jahre setzte sich in einem schleichenden Prozess die Frauenordination in der Evangelischen Kirche durch. Bereits Onkel Egon von Wedel-Parlow hatte Theologie studiert. Ihn interessierten vor allen Dinge jene Grenzbereiche, die von der akademischen Theologie recht fahrlässig den Anthroposophen und Okkultisten überlassen wurden.

„Ich wurde nicht müde, Onkel Egon zuzuhören, wenn er von dem prähistorischen Engelsturz und dem Abfall Satans sprach. Auch seine eschatologischen Aspekte prägten sich mir erschütternd ein, und mein späteres Studium der Theologie wurzelt weithin in Onkel Egons Einfluß. Im übrigen stand hinter jenen theologischen Spekulationen meines Onkels eine sehr tiefe stille Frömmigkeit.“

Die „Hymnen an die Kirche“ richten den Blick auch auf die unsichtbare Kirche der Engel. Zu ihr gehörten einst die gefallenen Engel. Gertrud von le Fort nennt sie „Wildlinge aus der Engel Saal“ und „Bote(n) des Abgrunds“ (III. Hymne). Wahre Engel bleiben Hymniker. Sie sind erfüllt vom großen Lob Gottes und preisen seine Herrlichkeit. Das Lob der Dichterin ist eine Einstimmung in das nie unterbrochene Te deum laudamus der Himmlischen und daher Dank „bis an die Chöre deiner Engel“. Zu den Chören der Engel gehören im höchsten Rang die Seraphim und Cherubim. Sie sind Teil der unsichtbaren Kirche des Himmels und Vorbilder entflammter und entflammender Gottesliebe:

„Feuer! Feuer! Es brennen die Gefieder der Engel!
Es brennen die Schwerter der Cherubime!
Es brennen die Gezünde der Himmel!
Es brennen die Tiefen der Erde!
Gestein und Gestirn flammt!
Es brennt die Sehnsucht aller Kreaturen!
Es brennt der Geist im Dunkel der Menschenwipfel!
Von der Liebe ist alles genommen, zu Liebe muß alles werden:
rauscht heilig, heilig, heilig, ihr Flammen der Seraphime!“


Die Heidelberger und Marburger Studentin der Evangelischen Theologie suchte Familienanschluss und fand ihn bei ihrem Lehrer Ernst Troeltsch, später bei der jungen Familie Friedrich Gogartens. Sie wird Patin seiner zweiten Tochter Marianne,  die wie in Kreisen der evangelischen Theologie damals üblich einen Theologen heiraten wird, den Neffen von Rudolf Bultmann. Im Rückblick schreibt Gertrud von le Fort an Marianne Bultmann, erkennbar um Harmonisierung der nicht zu übersehenden Gegensätze bemüht: 

„Mein Weg war ja im Grunde immer nur das Suchen nach der Vereinigung der getrennten Christen, und je weiter mein Leben vorgeschritten ist, umso tiefer ist die Sehnsucht nach solcher Vereinigung. Ich habe schon in meiner Heidelberger Zeit das Verlangen nach Vereinigung gefühlt, die ja längst hätte zustande kommen müssen, denn – sobald wir in die Tiefen des Glaubens geraten, werden die Trennungen nebensächlich – eine Sache der Dogmatiker, nicht der lebendigen Seelen.“ (9. Februar 1968)

Gertrud von le Fort hat es an Bewerbern nicht gefehlt. Aber sie wollte keine eheliche Bindung. Die zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen dem Witwer Rudolf Günther und der bald vierzigjährigen Baronin können nicht der Grund gewesen sein, warum sie Marburg panikartig verließ, als ihr der Theologe einen Heiratsantrag machte. Er war ein berühmter Mann in seiner Zeit und profilierte sich auch als Herausgeber des Werkes seiner verstorbenen Gattin Agnes Günther. Aus ihrem Nachlass veröffentlichte er den Roman „Die Heilige und ihr Narr“ (1913), der mit 140 Auflagen zum Bestseller jener Frauenliteratur wurde, in der sich Gertrud von le Fort als Romanautorin versuchte. Im April 1915 floh sie ins Mecklenburgische auf das Familiengut Boek und widmete sich der Pflege ihrer Mutter bis zu deren Tod (1918). Treu verbunden blieb sie der Familie von Troeltsch und trug erheblich zu ihrer Versorgung mit Lebensmitteln bei. 

 

Konversion

Die lutherische Kirche war für die Dichterin zu keinem Zeitpunkt Heimat gewesen. Gertrud von le Fort entstammte einem alten Waldenser Geschlecht, das aus Glaubensgründen seine Heimat verlassen hatte. In religiösen Dingen scheint der Vater das Gefühl der Fremdheit geradezu kultiviert und zu einem elitären Bewusstsein der Erwählung stilisiert zu haben. Die Familie gehörte zu den Auswanderern, Flüchtlingen, deren Schicksal Gertrud von le Fort in dem Zyklus „Die Emigranten“ (1905) beschrieb. Sie preist hier „das trotz’ge Waldensergewissen“:

„Wir sind von einem edlen Stoff genommen, 
Der Leid verlangt,
Wir sind auf dunklen Pfaden hergekommen, 
Davor euch bangt. 
Wir hielten einst ein Vaterland umfangen,
Gott riß uns los,
Wir sind durch Feuer und durch Blut gegangen verbannt und bloß! 
Uns winkt hier nie mehr Heimat wie euch andern, uns hält kein Pfand,
Gott riß uns los — wir werden wandern — wandern Von Land zu Land! 
Durch jede Form wird unsre Sehnsucht gehen nach ew’gem Sinn —
Wir mußten einmal diese Welt verschmähen, sie ist dahin! 
Ziel eures Hasses oder eures Spottes, Was macht es aus?
Wir sind die Heimatlosen unsres Gottes Jenseits zu Haus!“

Ihre Konfirmandenzeit in St. Lamberti hatte sie angeödet. An der geistlichen Leere, die sie damals in ihrem Gedicht vom „Kirchenschläfchen“ beschrieb, hatte sich nichts geändert. Ihr Freund Friedrich Gogarten berichtet aus seinem Vikariat in Bremen:

„Die kirchlichen Verhältnisse in Bremen sind so, daß man fast vor leeren Bänken predigt. Nun ist meine Kirche ganz ohne Andacht, ein richtiges Greuel, groß, und dann wenige Menschen, mit denen man wegen der Größe und Andachtslosigkeit des Raumes in kein inneres Verhältnis kommt. Da ist es oft mühselig, aus seiner Kanzeleinsamkeit in die Leere hinauszureden.“ (10. März 1916 an Gertrud von le Fort) 

Von ihrem Gut Bök an der Müritz empfiehlt die Baronin Ergebenheit in den Willen Gottes wie es Paul Gerhardt gelehrt und gelebt hatte. Es sei nun einmal so, dass „schließlich den Menschen nichts bleibt als die reine Innerlichkeit. Und dann mag wohl wieder die Stunde der Kirche schlagen, die Sie ersehnen. Bis dahin ist es mir immer, wenn auch kein Trost, so doch eine Ruhe, daß wir eben wirklich nichts ‚machen‘ können noch sollen. Wir können nur unsrer tiefsten Stimme folgen, alles andre muß gegeben werden. Und es wird doch auch oft gegeben, ohne daß ein Mensch darum weiß – trotz ganz frostiger, andachtsloser Kirchen wie die, die Sie mir schildern.“ (18. Juni 1916 an Friedrich Gogarten) 

Der werdende Vater der dialektischen Theologie aber ist untröstlich. Stille Ergebenheit in den unerforschlichen Willen Gottes und Ausharren in Geduld können nicht die Sache eines jungen Pfarrers sein: 

„Ich habe viel hier in Bremen gelernt, wo man ja wohl am ‚fortschrittlichsten‘ ist in Religionsangelegenheiten. Aber es ist zum Verzweifeln, wenn die Religion dem Fortschritt ausgeliefert wird. Dann wird das ‚Wort Gottes‘ zum Feuilleton, und die ‚Neuigkeiten‘ zu Offenbarungen. Als die gute Lily Braun gestorben war und ihr ‚letzter Wille‘ mit seinen Binsenwahrheiten taktlos genug in die Tageszeitungen kam, da predigte am nächsten Sonntag einer der beliebtesten Kanzelredner darüber. Könnte ich Reime machen, ich hätte schon längst eine Satire über die Bremer Kirchen und Gemeinden gemacht. Meine Prosa ist zu schwer dazu. Schade.“ (12. Mai 1917 an Gertrud von le Fort) 

Gogarten sieht in der desolaten Lage der Kirche ein Strafgericht Gottes. Während er vor leeren Bänken predigt, wenden sich nicht nur die Bremer esoterischen Strömungen und der Anthroposophie zu. Die Baronin hat Rudolf Steiner einmal erlebt: 

„Ich habe Steiner einmal persönlich sprechen hören und eine sonderbar starke Abneigung gegen ihn empfunden, deretwegen ich mich ein wenig schämte, denn ich weiß, daß er Vielen wohltut und ihnen zum Frieden hilft. Aber selbst in diesem Frieden scheint mir ein wenig von derselben Gewaltsamkeit zu liegen, die Steiners aus allen möglichen Richtungen zusammengeholtes System alleine zur Einheit verbindet – etwas fast Krampfhaftes scheint in diesem Frieden zu liegen, so als würde er nur mit ungeheurer Anstrengung bewahrt. Man sieht das auch an dem eigentümlichen, allen Steinerschen Menschen mehr oder weniger gemeinsamen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dieses, daß Steiner und seine Jünger nichts wissen von dem ‚von Gottes Gnaden‘. Und darum ist wohl religiös dies ganze Gebilde ein Irrtum, philosophisch aber sträubt sich nun schon alles in einem dagegen. So bliebe wirklich nur das traurige ‚Gericht über unsre Theologie und Kirche‘, wie Sie es nennen.“ (2. Februar 1918 an Friedrich Gogarten) 

Auf dem mecklenburgischen Gut lebt die Baronin in großer spiritueller Einsamkeit. Dazu kommen familiäre Probleme. Die Schwester hat ein uneheliches Kind zur Welt gebracht, wird krank und muss für vier Monate in eine Klinik. Der Bruder engagiert sich politisch im Kapp-Putsch. Es kommt zu Schießereien, Toten und der Enteignung. Doch will die Baronin auch diesen Erfahrungen einen Sinn abgewinnen: 

„Ich glaube, all’ die schweren Ereignisse, die mir die letzte Zeit brachte, haben mich viel tiefer mit unserer Zeit verknüpft. In meinem Leben ist eigentlich alles weggerissen worden, was mir von Kind auf fest zu stehen schien: mein Bruder und meine Schwester sind beide Halbentwurzelte, der Boden unseres alten Familiengutes wankt, das Vermögen ist beschlagnahmt – so mancher meiner Verwandten oder Freunde, auf die ich gezählt, versagt angesichts wirklichen Unglücks. Ich habe viele Stunden hinter mir, denen ich nicht gewachsen war. Aber ich sehe doch schon jetzt, daß es alles gut war. Ich würde mich ohne diese Erlebnisse nie ganz von manchem, was man ‚Tradition‘ nennt, gelöst haben. Nun bin ich einfach gelöst worden mitten in das Chaos hinein. Und darum kann ich mit Ihnen gehen, wenn Sie ihm froher und getroster entgegen schreiten als andere.“ (3. September 1920 an Friedrich Gogarten)

Im bayerischen Tutzing begibt sie sich in ärztliche Behandlung. Sie beschreibt ihren Zustand so: „Aber es hat sich doch wohl alles lange schon vorbereitet, ich fühlte es immer von Zeit zu Zeit wie ein Netz, das mir über den Kopf geworfen sei und sich eines Tages zuziehen würde. Dann wieder schien es mir törichte Einbildung. Nun ist es tageweise so, daß ich eine Art von Traumzustand habe, in dem ich nichts von mir weiß und niemand recht kenne. Es dauert oft nur ganz kurz, aber es ist doch so, daß mir der Arzt sagt, es sei unmöglich zu reisen, bevor ich diese Zustände nicht ganz verloren hätte. Er schiebt alles auf die vielen unverarbeiteten Erlebnisse der letzten aufregungsvollen Jahre und meint, daß alles sich wieder verlieren werde, wenn ich Geduld und Ruhe hätte.“ (26. Juni 1921) Dann begibt sie sich nach Feldafing in das Sanatorium Dr. Brendel. Hier äußert sie sich im Sommer 1922 nach der Lektüre von Gogartens Vortrag „Die Krisis der Kultur“ (1920) und des Buches „Die religiöse Entscheidung“ (1921):

„Ich bin viel länger und viel ernster krank gewesen, als ich wußte – die Überschrift meines Briefes sagt Ihnen, daß ich noch immer im Sanatorium bin, aber nun wohl endgültig in der Besserung. Es war eine schwere Zeit, obwohl ich sie nicht aus meinem Leben streichen möchte – vielleicht kann Ihre Frau, die einmal ähnlich krank war, mich verstehen. Jedenfalls hat mir diese Krankheit unter vielem andren auch Ihr Buch noch in einer ganz andren Weise nahe gebracht, als es sonst geschehen wäre. Denn sehen Sie, wenn man durch seelisches Kranksein in ein ganz großes Dunkel gerät, so wird das, was Sie an unsrer Frömmigkeit und Theologie bekämpfen, plötzlich noch in einem furchtbareren Sinne Ohnmacht, als vordem. Denn jedes subjektive Erlebnis von Wert ist ja dann fortgenommen, und all’ die feinen und klugen Dinge, mit denen man uns Gott verweben möchte, sind gar nicht mehr zugänglich für einen getrübten Geist. Auch Krankheit kann so etwas, wie eine ‚Krisis der Kultur‘ bedeuten. (…)

Ich habe eigentlich gar kein Vertrauen mehr zu dem, was man protestantische Kirche nennt, und was wohl eigentlich kaum noch Kirche zu nennen ist. Ich habe immer stärker das Gefühl, daß alles das, um was es Ihnen in Ihrem Kampf zuletzt geht, viel eher seine Heimat in der katholischen Kirche findet, die mir hier – und auch vielfach durch mein Kranksein – auf eine bedeutsame Art nahe kam. Wollen Sie glauben, daß ich vielfach Ihr Buch erst durch den Katholizismus verstehen lernte, und umgekehrt diesen durch Sie? Vielleicht werden Sie das gar nicht einleuchtend finden, denn die Dinge sind ja, eingeschlossen in fremden schwer verständlichen Symbolen, nicht ohne weiteres erkennbar. Dennoch ist es mir nicht mehr zweifelhaft, daß die katholische Kirche sich ein tieferes Wissen um die göttlichen Dinge bewahrt hat, als – wenigstens zur Zeit – unsre Kirche. In ihr ist tatsächlich der Mensch nichts und Gott alles, es gibt vom Menschen her nichts wie Anbetung, und die Tat ist einzig bei Gott, für uns freilich ein wenig fremd in einen ungeheuren Kirchenbegriff gehüllt. Es gibt schließlich keine geschwätzigen Diskussionen und keine Subjektivitäten, sondern über allem steht das furchtbar still machende ‚per saecula saeculorum‘. Das alles rührt irgendwie sehr stark an Ihr Buch und – ich kann mir nicht helfen – ich empfinde es freudig. Denn ist es nicht zuletzt gleichgültig, wo das Leben wohnt? 

Ich möchte noch schrecklich viel sagen und fragen, zumal ich die ganze Zeit über mir bewußt bin, alles sehr unzulänglich ausgedrückt zu haben, vielleicht weil ich gar nicht mehr gewohnt bin, über solche Dinge zu schreiben – ja kaum noch darüber zu sprechen. Denn ich bin hier im Sanatorium innerlich ebenso allein wie äußerlich von Menschen umgeben. Und doch wird die hiesige Gegend vermutlich meine künftige Heimat werden. Sie wissen, daß ich einmal daran dachte, nach Jena zu ziehen, aber Sie schrieben mir damals über Ihr eigenes Bleiben dort so unsicher, daß einer der Hauptgründe, die dafür sprachen, mindestens sehr zweifelhaft wurde. Auch hätte ich irgendwo in der Fremde aus gesundheitlichen Gründen sehr schwer Wohnung suchen können. Hier steht mir mein Arzt sehr freundlich zur Seite, und ich kann vom Sanatorium aus alles leichter erreichen. So wird mein Heim wohl Ober-Baiern werden! Ich suche nach einem ländlichen Haus nicht allzu fern von München, und wenn sich etwas passendes findet und ich ganz gesund bin, werde ich nach Norden gehen, um meine Sachen zu holen.“ (17. Juni 1922 an Friedrich Gogarten)
Mit der Veröffentlichung der „Hymnen an die Kirche“ kommt es zum Bruch der Freundschaft, den auch ein werbender Brief der Baronin nicht mehr kitten kann. „Ich weiß wohl, daß Sie mir manches über die Hymnen zu sagen haben, und wenn Sie einmal dazu kommen, werde ich mich freuen. Denn ich habe die Überzeugung, daß, trotz allem Anders–sein, doch viel in dem Buch ist, was Ihnen nahesteht. Ich wollte, meiner inneren Stellung gemäß, die Kirche verherrlichen, aber ich wollte nicht nur das, sondern ich wollte auch das. Denn auch wenn ich es gar nicht gewollt hätte, so würde ich doch als Bildnis und Einkleidung für das, was ich wollte, nur zur Kirche haben greifen können, denn sie allein erhebt in allen Erscheinungen hienieden den Anspruch des Absoluten. Sie werden diesen Anspruch bestreiten, aber als Dichter ist man unweigerlich an die Erscheinung gebunden.“ (29. März 1925 an Friedrich Gogarten)
Mit den „Hymnen an die Kirche“ und weiteren Veröffentlichungen im „Hochland“ fand sie schnell Kontakt zum katholischen Milieu. Sie hatte diese Nähe nicht gesucht und wurde ihr bald überdrüssig, weil sie das Alleinsein störte. Die Baronin wollte nicht als katholische Autorin instrumentalisiert werden. Dennoch ließ sie sich auf Zeitgenossenschaft ein, die ihrer labilen psychischen Stabilität nicht gut tat. Sie hatte immer irgendetwas und das ein langes Leben lang: chronische Bronchitis, Blinddarmreizung, Nierenbeckenentzündung, schwere langwierige Grippe, Sehstörungen, chronischer Stirnhöhlenkatarrh - alles überforderte sie, auch jener Dresdener Rezitationsabend beim Verein Katholischer Akademiker im Herbst 1924, wo sie bei der Lesung der „Hymnen an die Kirche“ ohnmächtig wurde. In ihrer neuen bayerischen Heimat nahm sie Konvertitenunterricht. Auch hier passierten merkwürdige Dinge, folgt man dem Bericht von Maria Eschbach. Die Germanistin und spätere Deutschlehrerin hatte über die „Hymnen an die Kirche“ promoviert und war der Baronin zeitlebens freundschaftlich verbunden. Maria Eschbach berichtet: „Der sie unterweisende Geistliche fiel von der Kirche ab. Der Name des Priesters wurde nie bekannt.“ (Glauben heißt der Liebe lauschen. S. 32) 
Pater Erich Przywara SJ wird ihn sicherlich gekannt haben. Er wird auch gewusst haben, worin der Abfall von der Kirche bestanden hat. Mit Przywara traf die Baronin eine verwandte Seele. Der zölibatär lebende Priester wurde das Gegenstück zum evangelischen Familienvater der Heidelberger und Marburger Zeit. Przywara war Denker von Format und Verseschmied. Er schrieb in monomanischer Produktivität Gedichte. Wie die Baronin war er ebenfalls psychisch instabil, wurde von Angstzuständen und Panikattacken heimgesucht. Sie sollten sich im Lauf der kommenden Jahre steigern und schließlich im Baseler Haus der Adrienne von Speyr eskalieren. Hans Urs von Balthasar, der nach dem Krieg die Baronin vom Insel Verlag für seinen neu gegründeten Johannes Verlag abwerben wollte, holte den befreundeten Pater nach Basel. Doch hier im Dunstkreis der Seherin brach Erich Przywara vollends zusammen. Die „unglückselige Allianz von Dr. Balthasar und Kaegi, die mich von den verunglückten Tagen in Basel her mit einer ‚visionären Diagnose‘ verfolgte“ (Brief vom Frühsommer 1949 an Gertrud von le Fort. Lochbrunner. S.68f.) führte zu langen klinischen Aufenthalten. Der Freiburger Psychiater Kurt Beringer attestiert dem Pater in seinem Gutachten vom 1. Februar 1949 „Antriebsmangel, Angst, Gequältheit, Unfähigkeit zu spontaner Reaktion und Entschlussfassung“, „Schwermutszustände“, „eine Reihe von sensitiven Anankasmen von Angst und Zwangsvorstellungen“. Die Leiden seien familiär bedingt. Es seien „ja mehrfach Geisteskrankheiten und Gemütsleiden aufgetreten“. (Lochbrunner S. 34-27)
Erich Przywara traf für Gertrud von le Fort die Entscheidung, das bayerische Milieu zu verlassen und sich auf einen erneuten römischen Aufenthalt einzulassen. Die frühen römischen Aufenthalte (1909, 1907, 1908, 1909, 1913) der Baronin dürfen auch als Kulturprogramm gesehen werden. Rom war allemal eine wiederholte Reise wert, und zu einem Besuch der Stadt gehörte unabhängig von der Konfession eine Audienz beim Papst. Auch die Mutter von Ernst Jünger wird mit ihrem Sohn Friedrich Georg darum bitten. Gertrud von le Fort folgte dem Brauch und legte den schwarzen Schleier an. Nun wurde sie in Rom von Prälat Joseph Leufkens (1879-1962) in die katholische Kirche aufgenommen. Auch hier wissen wir nicht, wie sich die Konversion im einzelnen vollzog. Für die Autorin war sie ein Gewinn. Denn nun gewann sie ein Profil. Bislang hatte sie ein verborgenes Leben als Romanautorin geführt. Ihre Romane der ersten Lebenshälfte erschienen unter Pseudonym und sind heute vergessen. Nun veröffentlichte sie auch Prosa unter ihrem Klarnamen. 
In ihrer Einleitung zur Heidelberger Lesung aus den „Hymnen“ sprach Gertrud von le Fort von „dem eigentlichen Fundament meiner ganzen Dichtung. Sie [die Hymnen] haben in ihren Anfangsteilen noch ganz individuelles Gepräge, ihr Sinn aber ist die Überwindung der individuell bestimmten einsamen Religiosität in die überpersönlich gebundene der Kirche.“ Das Katholische war für sie das Ganze, das Allumfassende, der große Ozean, weshalb sie in ihrer Konversion keinen Bruch mit ihrer Lebensgeschichte sehen wollte. Wie alle Flüsse ins Meer, so münden die Rinnsale des Lebens in Gottes Ozean. Auch die frühe Mädchenzeit am Meer mit ihrer Erfahrung des Heiligen ist in den „Hymnen an die Kirche“ aufgehoben. 

„Ich will mit meinem Lied ins Meer deiner Herrlichkeit springen: unterjauchzen will ich in den Wogen deiner Kraft!
Du goldener Gott deiner Sterne, du rauschender Gott deiner Stürme, du flammender Gott deiner Ähren und deiner wilden Rosen;
Ich danke dir, daß du uns erweckt hast, Herr, ich danke dir bis an die Chöre deiner Engel,
Sei gelobt für alles, was da lebt!“ 
(Te deum)

Gott fährt auf „unter Jauchzen“ (Psalm 47.6), weiß der Psalmist. Mit Jauchzen stürzen sich Kinder in die Wellen des Meeres, tauchen ein in die Gischt, werden überflutet und tauchen aus dem Wasser wieder hervor. „Unterjauchzen“ nennt die Dichterin diese Erfahrung der Einswerdung für einen Augenblick. Von ihr spricht seit jeher die Mystik und bedient sich wie Gerhard Tersteegen der Wassersymbolik:

„Meer ohn Grund und Ende,
Wunder aller Wunder,
ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir,
du in mir,
lass mich ganz verschwinden,
dich nur sehn und finden!“


Der Glaube ist ein Geschenk. Der Glaube ist Gnade. Die Seele antwortet darauf mit Beten, Dichten und Danken: Vom Geheimnis der Liturgie als gemeinsamer Lobpreis von Mensch und Engel weiß der Katholizismus der Gegenwart wenig. Wo erklingen noch Hymnen an die Kirche? Statt Harmonie herrscht Kakophonie. Das hat seine Gründe. Sie wollen gesehen und beachtet werden. Die „Hymnen an die Kirche“ berühren das Geheimnis der Kirche. Kirche ist da, wo Lobpreis erklingt.


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"Die Reise auf dem Köfferchen in Gesellschaft der unbekannten Zeitschrift wurde mir zu einem wunderbar beglückenden Erlebnis. Denn ich befand mich da mit dieser Zeitschrift wirklich in einer Welt, die weder an den 'Untergang des Abendlandes' noch an den unseres Volkes glaubte, sondern an deren Auferstehung und Erneuerung - ich befand mich in einer christlichen Welt. Ich befand mich - das war mir natürlich sehr bald klar geworden - im geistigen Raum einer katholischen Zeitschrift, aber gleichzeitig doch in meiner eigensten Heimat, und zwar nicht nur deshalb, weil darinnen auch nichtkatholisches Geistesgut in weiter Schau erblickt und gewürdigt wurde, sondern vielmehr weil die ganz Haltung dieser Zeitschrift meine teuersten Besitztümer, das Erbe meines frommen, protestantischen Elternhauses gleichsam mit einzuschließen schien. Ja, gerade dieser Eindruck des Einschließenden - ich entsinne mich dessen genau - war das eigentliche Wesen dieser unvergesslichen Begegnung!...Ich erlebte also damals das Wesen des wahrhaft Katholischen überhaupt.“ 
Gratulationsbrief zum 70. Geburtstag von Carl Muth am 31. Januar 1937