Alle Welt kennt Bernadette Soubirous (1844-1879). Sie ist die erste Heilige, von der es Photos gibt. Doch wer spricht von Marie Dominique Peyramale? Er war der Pfarrer von Lourdes im Département Hautes-Pyrénées. Die Pyrenäen bilden ein großes Quellgebiet. Über und unter den Felsen sprudelt das Wasser. Im 19. Jahrhundert entstanden Kurorte. Manchmal gab es überraschende Heilungen und gelegentlich sogar Erscheinungen. Von Lourdes fährt heute der Skibus zu den Thermalquellen von Cauterets und weiter in höhere Regionen, wo elf Schneekanonen auch im Zeitalter des Klimawandels für fahrbare Pisten sorgen. Im Nationalpark Pyrenäen entspringt auch der Gave de Pau, durch dessen eiskaltes Wasser Bernadette nach der ersten Begegnung in der Grotte von Massabielle watete. Es war ihr fast zu warm, so erfüllt war sie von der Gegenwart der schönen Dame mit den gelben Rosen zwischen den Zehen. Die Erscheinungen zwischen dem 11. Februar und dem 16. Juli 1858, ihre Folgen für die Entstehung des Marienwallfahrtsortes Lourdes sind oft beschrieben worden. Nicht nur von französischen Autoren wie Emile Zola und Joris-Karl Huysmans, sondern auch von dem dänischen Konvertiten Johannes Jörgensen.
Der Heilige ist der Mensch in der Unmittelbarkeit Gottes. Er ist der Einzelne in seiner Berufung. Deshalb hatte nur Bernadette die schöne Dame gesehen und ihren Auftrag vernommen. Ihren Namen kannte sie nicht und hätte ihn auch nicht erfragt. Erst durch den Widerstand ihres Pfarrers wuchs diese intimste aller Begegnungen über Bernadette hinaus und wurde zum Wunder von Lourdes. Ein Rosenwunder hatte Peyramale (1811-1877) gefordert. Nicht gerade originell. Die Muttergottes ließ sich nichts vorschreiben. Sie schenkte ein Quellwunder und zeigte durch die Heilung eines Augenleidens, worum es in der Wunderfrage gerade heute geht: Der Mensch soll wieder sehend werden!
Durch Peyramales Initiative erfuhr Bernadette auch den Namen der Dame. Natürlich in der Sprache der Region. „Qué soy ér Immaculada Counceptiou“. Papst Pius IX. hatte vier Jahre zuvor das Dogma der „unbefleckten Empfängnis“ („Immaculata Conceptio“) verkündet. Bernadette konnte davon keine Kenntnis besessen haben, meinte der Pfarrer von Lourdes. So hielt er nun seine Hände über das Mädchen und stellt sich schützend vor sie. „Meine Herren, laden Sie scharf, denn nur über meine Leiche geht der Weg!“, läßt Franz Werfel (1890-1945) ihn sagen. Sein Roman „Das Lied der Bernadette“ (1943) geht bekanntlich auf ein Gelübde zurück, das er in Lourdes abgelegt hat. Bernadettes Sendung richtet sich damals wie heute gegen „den offiziellen Deismus und inoffiziellen Nihilismus des Zeitalters“.
In Amerika angekommen, schrieb Werfel von Januar bis April 1941 auf 600 Seiten die Geschichte der Bernadette. Das Buch erschien in einer Startauflage von 200000 Exemplaren und wurde auf Anhieb „National Bestseller Number One“. Es ist das meistgelesene Werk der Exilliteratur.
„Das Buch ist die Geschichte des Kindes, das mehr als andere sieht“, schreibt Werfel über Bernadettes Sendung. „Ihr größtes Verdienst ist, dass sie ihren Augen traut und sich nicht einreden lässt, dass sie verrückt ist.“ Über seine Sendung als Autor sagt er: „Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens.“
Bereits 1943 wird der Roman von Henry King verfilmt. Die Rolle der Bernadette spielt Jennifer Jones (1919-2009) und wird dafür mit einem Oscar und dem Golden Globe ausgezeichnet. Den Pfarrer Peyramale verkörpert Charles Bickford, ein Mann mit geradezu archaischem Gerechtigkeitssinn. Als neunjähriges Kind erhielt Bickford eine Anklage wegen Mordversuches. Ein Autofahrer hatte seinen Hund totgefahren. Dafür sollte er büßen. Heilungen von jugendlichen Gewalttätern werden aus Lourdes nicht berichtet. Doch ist die wunderbare Wirkung der Quelle, die Bernadette einst auf Anordnung der Muttergottes freigelegt hatte, zuverlässig dokumentiert. Die klassischen Pilgerberichte beschreiben ausführlich die Leiden der Hilfesuchenden. Huysmans Buch überspannt dabei gelegentlich den Bogen in geradezu expressionistischer Detailverliebtheit in das Grauenhafte. Der Film „Lourdes“ (2009) von Jessica Hausner wurde am Originalschauplatz gedreht. Er zeigt am Beispiel einer Pilgergruppe aus Deutschland sehr einfühlsam die Erwartungen und Enttäuschungen.
150 Jahre nach der Verkündung des Dogmas der Immaculta Conceptio brach der schwer erkrankte Papst Johannes Paul II. nach Lourdes auf. Gezeichnet von Arthritis und der Parkinsonschen Krankheit wurde er selbst zu einem bewegenden Gleichnis aller Menschen, die seit den Visionen der Bernadette Heilung an Geist, Seele oder Körper in Lourdes suchten. Am Fest der Assumptio Mariae 2004 verwies er auf den untrennbaren Zusammenhang beider Dogmen. Knieend vor der Grotte von Massabielle sprach der Papst von der Heiligkeit des Ortes. Bernadette hatte die Grotte stets barfuß betreten wie einst Moses den heiligen Boden. Der Papst aber sprach von einer anderen Begegnung mit dem Heiligen. Er erinnerte an die Höhle auf dem Berg Horeb, wo Elija Gott begegnete, der in seinem sanften leisen Säuseln zu ihm sprach (1. Könige 19.12).
Was in der Grotte von Massabielle geschah, war keine reine Angelegenheit unter Frauen. Die Muttergottes hatte einige Aufträge an die gesamte Kirche mitteilen lassen. Anderes war nur für Bernadette bestimmt und blieb auch vor Peyramale ihr Geheimnis. Ein Papst, der sein ganzes Pontifikat unter den Schutz der Maria gestellt hatte („totus tuus“), war natürlich höchst sensibel für die besondere Berufung der Frau und ihre einmalige Rolle in der Kirche. Bernadette hatte als Einzige gesehen, was später viele glaubten. Nicht jeder erlebt Schauungen und Wunder. Aber jeder kann den Ort besuchen, an dem das Unsichtbare sichtbar geworden ist. An diese Hüter des Unsichtbaren wendet sich Johannes Paul II. mit den Worten:
„Von dieser Grotte aus richte ich einen besonderen Appell an euch Frauen. Durch ihre Erscheinung an diesem Ort hat Maria ihre Botschaft einem Mädchen anvertraut, gleichsam um die besondere Sendung der Frau in unserem Zeitalter zu betonen, das durch den Materialismus und die Säkularisierung versucht wird. Diese Sendung besteht darin, in der heutigen Gesellschaft Zeuginnen jener grundlegenden Werte zu sein, die sich nur mit den Augen des Herzens erkennen lassen. Ihr Frauen sollt Wächterinnen des Unsichtbaren sein!“
Vielleicht wäre der begeisterte Sportler in jungen Jahren von Lourdes mit dem Skibus ins Gebirge gefahren. Vielleicht hätte er eine Wundergeschichte auf die Bühne gebracht oder ein Lourdes-Gedicht geschrieben. Nun war er so schwach wie viele Lourdespilger, aber ungebrochen im Geist und in der Liebe. Noch immer besaß er ein sicheres Gespür für die kleine Geste am rechten Platz. Bernadette hatte von den gelben Rosen an den Füßen der Muttergottes berichtet und alle Geistlichen außer Peyramale hatten sich darüber lustig gemacht. So ist es noch heute, dass Menschen die Herrlichkeit nicht sehen und darüber noch lachen! Ein Hauch von spanischer Lebensfreude kommt durch die gelbe Rose in die Grotte von Lourdes. Die Muttergottes hatte, wie es im Flamenco alter Brauch ist, eine Rose geworfen und der Papst fing sie auf. Er trank aus der heiligen Quelle und legte in der Grotte eine goldene Rose nieder. Das konnte nur er, der große Liebende. Pfarrer Marie Dominique Peyramale hatte ein Rosenwunder gefordert. Es hatte sich schon längst ereignet, nur waren seine Augen gehalten. Dann aber wurde auch er sehend.