Hieronymus, Marcella und Paula:
Erziehung gegen die Mittelmäßigkeit

 


Manchmal leiten Schicksalsschläge eine Lebenswende ein: Marcella (330-410) gehörte zur alten römischen Aristokratie. Unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters starb ihr Mann nur sieben Monate nach der Hochzeit. Rasch versuchte ihre Mutter eine neue Ehe mit Naeratius Cerealis zu arrangieren. Der Konsul des Jahres 358 war einige Jahrzehnte älter. Zu alt, fand Marcella, die das Schicksal doppelter Witwenschaft nicht heraufbeschwören wollte. „Da gab er ihr zu bedenken, dass auch Greise lange leben und junge Leute schnell sterben könnten.“ Marcella aber zog ein einfaches Leben auf dem Land vor, um sich ganz ihren Studien zu widmen. Ihre große Bibliothek zog bald die Gelehrten an. Zu ihnen gehörte Hieronymus (347-420).

Der hochgebildete und sprachbegabte Jüngling aus Kroatien machte schnell Karriere und zählt heute neben Ambrosius von Mailand, Gregor dem Großen und Augustin von Hippo zu den vier lateinischen Lehrern der alten Kirche. Er konnte wie ein Löwe zupacken, aber er schätzte noch mehr die Einsamkeit der Studierstube. Als „Hieronymus im Gehäus“ ist er von Albrecht Dürer und unzähligen Künstlern dargestellt worden. Der Philosoph Hans Blumenberg fühlte sich diesem Kirchenvater besonders verbunden und hat seine Briefe an Marcella gerne gelesen.

Hieronymus erfreute sich der Förderung seiner Arbeit durch Marcella und Paula (347-404). Nach dem Tod ihres Mannes Julius Toxotius erlebte die Mutter von vier Töchtern einen Nervenzusammenbruch. Sie entschied sich für ein asketisches Leben. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Marcellas Landgut dem späteren Übersetzer der biblischen Schriften in die lateinische Sprache (Vulgata) begegnete. Zu dem Kreis hochgebildeter Frauen um Marcella gehörten auch Paulas Töchter. Alle Frauen waren erfüllt von einem unbändigen Bildungshunger und einer Sehnsucht nach dem Reichtum des inneren Lebens. Sie hatten genug vom oberflächlichen Kulturleben, den Maskeraden der Eitelkeit, der vorgetäuschten ewigen Jugendlichkeit, den nichtigen Sensationen des Tages. Sie suchten ein christliches Leben aus dem Wesentlichen. Das gefiel dem römischen Salonklerus in keiner Weise. Marcella und Paula waren nicht zufrieden mit der Bildung aus zweiter Hand, mit seichten Predigten über Tagesaktualitäten, mit dürftigem Moralismus und Populismus. Sie suchten in der unmittelbaren Begegnung mit der biblischen Überlieferung auch das geistige Abenteuer.

Wo ist diese Verbindung von Christentum und Bildung geblieben? In seinem apostolischen Schreiben zum 1600. Todestag des heiligen Hieronymus beklagte Papst Franziskus den dramatischen Verlust religiöser Bildung. Der Besuch einer Buchhandlung zeige den marginalen Platz, den religiöse Bücher heute einnehmen. Der minimale Bestand „enthält auch keine gehaltvollen Werke.“ Ein Analphabetismus habe sich ausgebreitet: „Es mangelt an hermeneutischen Fähigkeiten, die uns zu glaubwürdigen Auslegern und Übersetzern unserer eigenen kulturellen Tradition machen.“

Hieronymus war ein entschiedener Gegner der Mediokratie. „Denn der Erlöser liebt nichts Mittelmäßiges“, betonte er, und machte sich damit nicht gerade beliebt. Das römische Reich war wie unsere Zeit dem Untergang geweiht. Hieronymus spricht vom „Grab des Weltgeistes“ und Frauen, die sich „vor der Schar ihrer Enkel wie zarte Jüngferchen herausputzen“. Mit dem asketischen Leben richteten die Frauen um Marcella ihre Blicke auf das Bleibende. Sie lernten Griechisch und Hebräisch bei Hieronymus. Paulas Tochter Blesilla war die Eliteschülerin des Meisters. Der Tod der jungen Witwe nach einem dreißigtägigen Fieberleiden löste in Rom eine antiasketische Stimmung aus. In seinem Beileidsschreiben an Marcella rät Hieronymus zur Gelassenheit: „Mögen sie ruhig noch schlimmere Spottreden führen, mögen die Dickwanste und vollgepfropften Schmerbäuche gegen uns hetzen! Unsere Blesilla wird darüber nur lachen und die Lästerreden dieser geschwätzigen Frösche unbeachtet lassen.“ Paula tröstet er mit der Gewissheit, dass ihre Tochter schon jetzt mit den Engeln im Himmel weile. Ihr Gedächtnis aber werde er durch seine wissenschaftliche Arbeit bewahren. „Keine Seite werde ich schreiben, die nicht Blesillas Namen enthält. Mit Christus weilt sie im Himmel, aber auch in der Menschen Mund wird sie weiterleben.“ Das religiöse Buch unserer Zeit weiß nichts mehr von jener Autorschaft im Dienst der Memoria.

Paula und ihre Tochter Eustochium kehrten Rom den Rücken. Mit Hieronymus begaben sie sich auf eine Reise über das Mittelmeer und ließen sich in Bethlehem nieder. Hier übernahmen sie die Leitung eines neu gegründeten Frauenklosters. Paulas Sohn blieb in Rom und heiratete Laeta, die Tochter eines Konsuls aus Numidien. Als sie nach vielen Fehlgeburten Eltern einer Tochter wurden, gaben sie ihr den Namen der Großmutter. Um die Erziehung der kleinen Paula war Hieronymus sehr besorgt. Denn Mittelmäßigkeit ist auch eine Folge vernachlässigter Bildung und Erziehung im Kleinkindalter. Hier wird mit Förderung und Forderung die Leselust als ein Weg zum selbstbestimmten Leben gepflegt. Gerade deshalb kommt dieser Grundlegung besondere Bedeutung zu. „Es ist schwierig, später auszumerzen, was der jugendliche Geist in sich aufgenommen hat.“

Hieronymus’ pädagogische Briefe haben sich erhalten und geben einen seltenen Einblick in die Erziehungspraxis der christlichen Elite jener Zeit. Mit Buchstaben aus Holz oder Elfenstein solle das Kind seinen Namen und dann weitere Wörter lernen. Aus ihnen könne es kleine Verse legen. Von elementarer Bedeutung ist auch die Leseerziehung. Das Wort will im schönen Klang gehört werden. In einer Kultur vor der Erfindung des Buchdrucks werden Bücher mit der Hand kopiert. Keine Frage, dass den ersten Versuchen des Kindes, mit dem Griffel auf der Wachstafel zu schreiben, besondere Begleitung zukommt. Kleine Geschenke für große Leistungen beflügeln die Motivation ebenso wie der geistige Wettstreit in einer Lerngruppe. „Man muß vor allem vermeiden, dass Paula Widerwillen gegen das Lernen faßt.“

Mittelmäßigkeit in der Lese- und Rechtschreibkompetenz sind auch eine Folge mittelmäßiger Lehrer, schreibt Hieronymus in seinem pädagogischen Ratgeber für Paulas Mutter. Nur die besten Lehrer sollten Lernanfänger begleiten dürfen! Jungen Lehrern fehle die notwendige Erfahrung für diese Aufgabe. Doch nicht jeder Gebildete ist auch ein guter Erzieher. Die christliche Pädagogik ist eine eigene Berufung. Sie setzt Wissen und Weisheit voraus und den Mut zum Widerspruch gegen Schludrigkeit und Tagesmoden. Bildung hat einen Wert in sich selbst. „Trage daher auch Sorge, dass deine Tochter sich nicht der törichten Manier gewisser Frauen anpasst, indem du sie etwa gewöhnst, die Worte nur halb auszusprechen und mit Gold und Purpur zu spielen.“

Hieronymus hat auch die Gefahren der Pubertät im Blick. „Dulde nicht, dass ein jugendlicher Windbeutel sie anlächelt.“ Die gebildete Seele bedarf auch des geschützten Raumes. Nicht an Edelsteinen und Seide solle sich die junge Frau erfreuen, sondern am Studium der heiligen Schriften. „Ihr Interesse wende sich vielmehr der Treue des Textes und seiner kritischen Behandlung zu!“

Im vorderen Orient erreichte Paula, Eustochium und Hieronymus die Nachricht vom Untergang Roms. In seinem Nachruf auf Marcella berichtet der Freund und Förderer von Hungersnot und Kannibalismus in der belagerten Stadt. Zustände wie sie beim Untergang Königsbergs wiederkehren werden. Auch die Greisin Marcella wird Opfer des Missbrauchs, mit dem Alarichs Horden in Rom wüten. Sie stirbt in den Armen ihrer Freundin Principia. „Sie verschied in deinen Armen und gab unter deinen Küssen ihren Geist auf, und während du weintest, lächelte sie im Bewusstsein, gut gelebt und ewigen Lohn verdient zu haben,“ schreibt Hieronymus in seinem Trostbrief an die Freundin. Die Briefe Marcellas und aller anderen Frauen haben sich nicht erhalten.