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Drei sehenswerte Filme, in denen Engel eine Rolle spielen:
Frank Capra: Ist das Leben nicht schön?
Nicht nur die Filmliste des Vatikans lobt dieses Meisterwerk von Frank Capra (1897-1991). „Ist das Leben nicht schön?“ (1946) ist eine Meditation über die Erfahrung des Sinnverlustes. Eine Krise kommt selten allein: George Bailey (James Stewart) gerät in den wirtschaftlichen Bankrott, verliert die Nerven, wird unduldsam gegenüber seinen Kindern und seiner Frau (Donna Reed), zweifelt an allem und geht schließlich auf eine Brücke, um sich in den Fluss zu stürzen. An dieser Stelle könnte der amerikanische Titel des Filmklassikers, der von vielen Kritikern als bester Film aller Zeiten gepriesen wird, geradezu zynisch wirken. „It’s a wonderful life“ klingt für unsere Ohren allzu sehr nach Hollywood-Propaganda. Für George Bailey ist das Leben nicht mehr schön.
Der Suizid galt über Jahrhunderte als Todsünde. Denn das Leben ist unverfügbar. Ein Geschenk Gottes. Er allein ist Herr über das Leben. Noch Goethes evangelisch getaufter Werther wird nach seinem Freitod am Rande des Friedhofes und ohne Begleitung durch einen Geistlichen beigesetzt. Der moderne Hiob auf der nächtlichen Brücke hat alle menschlichen Beziehungen hinter sich gelassen. Kein Trost nirgends. Das ist die erzählerische Spannung, wie sie christliche Legenden und Film-Legenden vor dem Auftritt des Erlösers aufbauen. Wie rettet man einen Menschen jenseits aller Grenzen? Nur noch durch einen Einsatz von außen! George Bailey ist der erlösungsbedürftige Mensch. Sein Suizidversuch stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Francesco Rosario Capra, wie seine Taufnamen lauteten, war getragen von seinem katholischen Glauben. Seit früher Kindheit in Sizilien kannte der Sohn eines Obstpflückers dramatische Verstrickungen des Lebens. Frank Capras Familie versuchte der Armut durch eine Auswanderung nach Amerika zu entfliehen. Die Schrecken der mehrtägigen Überfahrt im Bauch des Schiffes, die Begrüßung der Freiheitsstatue als Zeichen der Hoffnung, die Jahre der äußersten Armut und des Überlebenskampfes haben Capra geprägt, aber sein Gottvertrauen nie gebrochen. Capra war sich nicht zu schade, jede Form der Arbeit anzunehmen. Er machte sich schließlich einen Namen, drehte viele Filme, hatte große Erfolge und gehörte 1936 zu den bestbezahlten Regisseuren in Hollywood. Doch nie vergaß er die Prüfungen auf seinem Lebensweg.
Dieser Optimismus, diese strahlende Zuversicht eines sizilianischen Auswanderers ist letztlich ein Gottesgeschenk. Deshalb kommt die Rettung für den am Leben Verzweifelten auf der Brücke direkt aus dem Himmel. Die Größe des Films besteht in seiner Freiheit von allem Moralismus. Capra schickt keinen evangelikalen Prediger vom Himmel und keinen Priester, der George Bailey einen Vortrag über Todsünden hält. Der Einsatz eines Engels im Pensionsalter mit von Lachfalten zerfurchtem Gesicht, eines Engels ohne Flügel, aber mit viel Humor, war Frank Capras genialer Einfall. James Stewart und für die weibliche Hauptrolle Donna Reed waren leichter zu finden, als ein Darsteller des Engels Clarence. Capra fand ihn in einer verwandten Seele. Henry Travers (1874-1965) hatte irisch-katholische Wurzeln. Früh machte er auf den Bühnen Amerikas Karriere, drehte Stummfilme und war auch im Tonfilm ein beliebter Schauspieler. Die Rolle des Engels Clarence gilt als Höhepunkt seiner Karriere.
Der Film atmet höhere Heiterkeit. Sie ist Frank Capras Antwort auf die Sinnfrage. Gerade in dem Augenblick, da sich George Bailey in die Fluten stürzen will, fällt der Engel Clarence vom Himmel und landet im Wasser. Er gilt als „Engel zweiter Klasse“ und muss sich durch diesen Einsatz seine Flügel verdienen. Das klingt so haarsträubend, dass ihm der Verzweifelte kein Wort glaubt. Der vom Himmel gefallene Engel steigert sogar die Verzweiflung des Verzweifelten. Bailey wünscht, nie geboren worden zu sein. Diesen Wunsch nimmt der Engel ernst und beweist nun seine himmlische Begabung, indem er vor dem Suizidanten und den Zuschauern einen alternativen Film von George Baileys Lebens laufen lässt. Wie wäre das Leben der anderen Menschen ohne George Bailey verlaufen?
In der Kleinstadt Bedford Falls hatte Bailey eine kleine familiär geführte Bank geleitet. Sie vergab attraktive Bau-Darlehnen für die gering verdienenden Familien. Ihr Gegenspieler ist ein Mr. Potter. Der Film im Film zeigt nun den unaufhaltsamen Aufstieg dieses Kapitalisten. Wäre Bailey nie geboren worden, so hätte niemand diesem Gierschlund die Stirn geboten. Der Sinn des Lebens beruht im Dienst für andere Menschen. So lautet die Lektion des Engels in tätiger Nächstenliebe. Diese erschöpft sich nicht in Demut und Duldung. Sie verlangt Stärke, Widerständigkeit und Kampfgeist. Der Film endet mit einem Wunder an Menschlichkeit. Ins Leben zurückgekehrt, wird der Bankier Bailey von seinen Gläubigern unterstützt. Das genossenschaftliche Engagement ist bei vielen Banken in kirchlicher Trägerschaft verbreitet. Damals erregte es die Aufmerksamkeit des FBIs. „Ist das Leben nicht schön?“ stand unter dem Verdacht kommunistischer Propaganda. Der Film wurde zuerst kein Erfolg. Dann aber fand er seine Zuschauer.
Am Ende des Film zieht sich der Engel Clarence nach erfolgreicher Mission zurück in den himmlischen Ruhestand. Jeder Erfolg ist ein Geschenk. Aber Ruhm und Ehre bleiben ein flüchtiges Gut. Frank Capra stand mitten in den Dingen, aber die Dinge standen nicht über ihm. Er konnte, was wenige Menschen vermögen: fröhlich Abschied nehmen, mit dem Erreichten zufrieden sein und sich am Leben der anderen freuen. Nach 54 Filmen ging Frank Capra im Jahre 1964 in den Ruhestand. Damals war er 67 Jahre jung und lebte in voller geistiger Frische und Lebensfreude bis zu seinem 94. Lebensjahr. Wie Capra sah Henry Travers den Sinn des Lebens nicht im Filmemachen. Er beendete, nachdem er sich die Flügel verdient hatte, seine Karriere und führte über Jahrzehnte ein glückliches und erfülltes Leben an der Seite seiner jungen Frau. Auch er überschritt heiter sein 90. Lebensjahr. Das Leben ist schön. Nicht nur, wenn es sich so vollendet. Schön und voller Wunder ist es auch in den Krisen.
Ingmar Bergmann: Fanny und Alexander
Tiefer hätte Ingmar Bergmann (1918-2007) mit seinem letzten Film „Fanny und Alexander“ (1982) die lutherische Staatskirche Schwedens nicht treffen können als durch die Erfindung eines wahrhaft diabolischen Pfarrers, den er ausgerechnet auf dem höchsten Bischofssitz des Landes in Uppsala setzt. Bischof Edvard Vergérus (Jan Malmsjö) heiratet die verwitwete Schauspielerin Emilie Ekdahl (Ewa Föling). Mit ihren Kindern Fanny und Alexander zieht sie in das Bischofshaus mit den vergitterten Fenstern. Die Gitter wurden nach dem Selbstmord der ersten Gattin des Bischofs und ihrer Kinder angebracht. Wie ein Sektenführer verlangt der Bischof nach erfolgter pietistischer Gehirnwäsche von seiner neuen Familie die völlige Aufgabe allen Besitzes und sämtlicher familiärer Bindungen zu der ganz anderen Welt ihrer Herkunft: einer großbürgerlichen und großzügig denkenden Hausgemeinschaft von drei erwachsenen Brüdern mit ihrer verwitweten Mutter Helena (Gunn Wållgren), von deren Geld alle leben. Emilie Ekdahls Mann war Schauspieler und führte mit seinem Bruder Gustav Adolf das Familientheater.
Bergmanns Film ist als Pubertätsparabel auch eine Abrechnung mit seiner eigenen Kindheit im evangelischen Pfarrhaus. Die Gestalt des sadistischen Bischofs von Uppsala wirkt wie ein ins Diabolische gesteigertes Bild seines eigenen Vaters. In seiner Autobiographie „Mein Leben“ („Laterna Magica“, 1987) erinnert er sich: „Unsere Erziehung beruhte hauptsächlich auf Begriffen wie Sünde, Bekenntnis, Strafe, Vergebung und Gnade“. Vergehen wurden mit Kinoverbot, Essenverbot, Verbannung ins Bett, Stubenarrest, Strafarbeiten im Fach „Rechnen“, Schläge auf die Hände mit dem Teppichklopfer oder Reißen an den Haaren geahndet. Der Vater war in allen Sanktionen so erfinderisch wie die Filmfigur des Bischofs. Ingmar Bergmann reagiert ähnlich wie sein Spiegelbild Alexander mit Lügen und Verstellungen. Er wurde zum Bettnässer, entwickelte ein Reizdarmsyndrom und litt unter Schlaflosigkeit. Traumatisierend wirkte auch das Verhalten der Mutter. „Was ich mit Sicherheit sehe ist, dass unsere Familie aus Menschen guten Willens bestand, die durch ein katastrophales Erbe mit übertriebenen Forderungen, schlechtem Gewissen und Schuld belastet waren.“
Über dieser Familienaufstellung wölbt sich in dem Film der gnädige Himmel des Theaters. Die erste Einstellung im Prolog zeigt den jungen Alexander vor seiner eigenen kleinen Kinderbühne. „Ei blot til lyst“ - „Nicht nur zum Vergnügen“ liest der Zuschauer und erkennt darin die Inschrift am Proszenenium des Royal Danish Theatre in Kopenhagen wieder. Das Leben ist ein Spiel, großes, oft schmerzvolles Welttheater voller Abschiede, Brüche, voll Scheitern und doch voller Liebe und Zuwendung der Liebenden, eben wunderbar und herrlich in seinem Geheimnis. Von diesen Wundern und Rätseln des Lebens versteht die kleine Schwester noch nichts. Sie bleibt Zuschauerin der Leiden ihrer Bruders Alexander. Seine Mutter ist viel zu sehr mit sich und später mit dem Sterben ihres Mannes Oscar beschäftigt, als sie die Verwirrungen ihres pubertierenden Sohnes überhaupt wahrnimmt. Die überragende Muttergestalt auch für Alexander ist Großmutter Helena Ekdahl. Noch im hohen Alter nicht frei von weiblicher Eitelkeit flirtet sie jetzt in keuscher Weise mit dem einstigen Liebhaber ihrer Jugend. Es ist der jüdische Antiquitätenhändler Isaak Jacobi (Erland Josephson). Mit ihm hebt Ingmar Bergmann seine Pubertätsparabel auf eine mystische Ebene. Wie ein chassidischer Wunderrabbi vermag Isaak Jacobi die Gesetze von Zeit und Raum aufzuheben. Nachdem alle Versuche der Befreiung aus der Hölle des lutherischen Bischofs gescheitert sind, löst er die Schreckensbande durch eine Bilokation wie sie auch in den Legenden einiger Heiliger bezeugt wird.
Die Kinder wohnen nun in Jacobis Kuriositätenkabinett. Hinter Gittern verschlossen lebt hier ein Neffe des Händlers. Die Begegnung mit Ismael Retzinsky sei gefährlich, heisst es. Alexander drängt es dennoch zu diesem androgynen Wesen, das von der Schauspielerin Stina Ekblad (*1954) verkörpert wird. Ismael kann Alexanders Gedanken lesen, kennt daher seine mörderische Wut auf den Bischof. Mit den Worten „Ich bin dein Engel, der dich beschützt!“, gibt sich Ismael als Alexanders Schutzengel zu erkennen. Bald erweist er sich als Engel der Rache. Durch seine Unterstützung gelingt es Alexander in reiner Übertragung der Gedanken ein Feuer im Bischofshaus zu entzünden, in dessen Flammen der Unhold umkommt. Mutter und Kinder kehren in den Schoß der Großfamilie zurück und nehmen die Arbeit am Theater wieder auf.
Eine Laterna Magica zur Erzeugung bewegter Bilder gehörte zu Alexanders frühen Besitztümern. Hier werden die Wirklichkeitsebenen im spielerischen Ernst überschritten. Überwirklich wie die Engel sind auch die Erscheinungen des verstorbenen Vaters, die Alexander in seinem Weg des Erwachsenwerdens begleiten. So bezeugt der Film ein Grundvertrauen in die guten Mächte, ohne das Böse zu leugnen. Ingmar Bergmann hat „Fanny und Alexander“ ursprünglich in einer Langfassung (326 Minuten) für das Fernsehen gedreht und aus diesem Material eine Kinofassung (188 Minuten) erstellt. Er wusste, dass er dieses Werk nicht mehr überbieten könnte und widmete sich in den ihm verbleibenden fünfundzwanzig Lebensjahren wieder dem Theater und der Pflege seines Nachruhmes. Mit seiner Kindheit im schwedischen Pfarrhaus hat er sich nie aussöhnen können. Das Leben seiner Eltern hat er in dem Drehbuch zu Bille Augusts Film „Die besten Absichten“ (1991) erzählt. Warum viele skandinavische Regisseure Bergmanns Bild vom lutherischen Pfarrhaus gefolgt sind, wäre eine Erörterung wert. Vielleicht ist es der Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit, vielleicht sind es übertriebene moralische Erwartungen, vielleicht aber auch eine fehlende Gelassenheit in der Beurteilung der Diener Gottes. Wie es um Ingmar Bergmanns Glauben steht, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist er selbst nicht nur der junge Alexander, sondern zugleich sein Schutzengel Ismael. Und darin liegt das Geheimnis dieses Glaubensfilmes.
Wim Wenders: Himmel über Berlin
Wim Wenders (*1945) Film „Der Himmel über Berlin“ (1987) erzählt von der Menschwerdung eines Engels. Märchen oder Sage nannte man früher Geschichten, in denen sich himmlische Mächte und Männer unsterblich in eine höchst irdische Frau verliebten. Peter Handke, der mit Wim Wenders am Drehbuch arbeitete, griff auf die biblische Geschichte vom Engelsturz (Genesis 6.1-4) zurück. Die Grenzüberschreitung einiger „Gottessöhne“ hatte ein sexuelles Motiv, weshalb Augustin den logischen Schluss zog: Es können keine Engel gewesen sein, die auf die Erde kamen, um mit den Frauen die Beine zu kreuzen. Nur Teufel machen so etwas. Im Judentum gibt es eine breite Wirkungsgeschichte dieser merkwürdigen Grenzverletzung. So entnimmt Leo Perutz der Engelehe ein Verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit, das sich keineswegs im Sexuellen erschöpft.
Bruno Ganz und Otto Sander spielen die beiden Engel Damiel und Cassiel. Vor dem Mauerfall kommen sie nach Babylon-Berlin und bewegen sich für Menschen unsichtbar durch den Moloch. Einige Menschen spüren ihre Gegenwart durch eine geistige Nähe oder einen Moment der Inspiration, finden durch die Auflegung der Hand eines Engels Trost. Andere bleiben in ihrer Einsamkeit oder Gefahr allein. Wenders Engel sind nicht allmächtig. In dem Film gibt es Berufene mit einer besonderen Affinität zu den Engel. Zu ihnen gehören die Kinder. Sie haben den Engelblick und schauen die Schutzengel von Angesicht zu Angesicht. Bei den Dreharbeiten zu einem Film über die braune Vergangenheit der Stadt begegnet Damiel an einer Currywurstbude einem Engel, der bereits Mensch geworden ist. Dieser Engel wird von Peter Falk dargestellt. Er spürt Damiels Anwesenheit, kann ihn aber nicht sehen. In einem Monolog preist Peter Falk die Freuden des irdischen Lebens. Es sind die kleinen Dinge des Alltags, das Lesen einer Zeitung, die Fütterung einer Katze und all’ jene vergänglichen Dinge, die kein Engel kennt. Wie Rilke will Damiel eintauchen in die Schöpfung mit ihrer Einmaligkeit und Vergänglichkeit. Er wird Mensch, während Cassiel in seiner Rolle als Zuschauer zum irdischen Leben Distanz hält. Cassiel bleibt Beobachter, Damiel sucht nach einer Erfahrung, die nur dem möglich ist, der sich der Welt aussetzt. Auf einem Konzert mit Nick Cave lernt er die Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) kennen. Nick Cave spielt „From here to eternity“. Damit endet der Film. Der menschgewordene Engel weiß jetzt, was kein Engel weiß.
Wenders Film macht aus dem Engelsturz einen Inkarnationsmythos. Der Himmel kommt auf die Erde. In den großen schwingenden Bewegungen am Trapez steigt der Künstler in gegenläufiger Bewegung zum Himmel auf. So ist der Film auch eine Anleitung zur Transzendierung. Es schildert viele stille Momente, in denen sich Menschen durch die Gegenwart des Engel emporgehoben fühlen, etwa beim Studium von Büchern. Die Bibliothek gehört zu den Lieblingsaufenthalten von Wenders Engeln. Da sie Gedanken lesen können, hören und verstehen sie die vielen Sprachen, in denen sich hier eine geistige Welt öffnet. Engel kennen keine Grenze von Raum und Zeit. Deshalb können sie auch in einer wahrhaft prophetischen Szene des Films durch die damals noch bestehende Berliner Mauer gehen.
Der Film ist wahrlich nicht alt. Doch zeigen die Bibliotheksszenen ohne Computer und I-Phones ein geradezu archaisches Bild von unseren Universitäten. Wo sind die Schüler und Studenten geblieben, die sich noch über Bücher beugen, die Texte lesen und verstehen und verständlich darüber schreiben können? Viele Kinder und Jugendliche sind heute unbeschulbar, werden aber dennoch durch Noteninflation und Aufhebung aller verantwortlichen Maßstäbe zum Abitur geführt. Goethe, Schiller, Heine, ganz zu schweigen von der Bibel und der großen Überlieferung der Antike sind vielen Menschen unlesbar geworden. Curt Bois vertritt in Wenders Film die Rolle Homers, der großen Erzählers, der sein Publikum verloren hat.
Wim Wenders Liebesmärchen setzt einen langen Atem und die Bereitschaft voraus, ein wenig spekulative Theologie und Engelkunde (Angelologie) zu treiben. Ein echter Glaubensfilm also, auf den sich der Einzelne oder die Gemeinde einlassen muss. Wer es leichter, doch durchaus nicht seichter, haben will, kann zu dem Remake „Stadt der Engel“ (1995) mit Nicolas Cage und Meg Ryan greifen. Er ist ein klassischer „Frauenfilm“, wie schon die Werbung signalisiert: „Sie glaubte nicht an Engel, bis sie sich in einen verliebte.“
Wie aber steht es um Wim Wenders Glauben? Er wuchs in einer gläubigen Familie auf und fühlte sich als junger Mann zum Priester berufen. Auf dem humanistischen Gymnasium lernte er die alten Sprachen. Statt des Priesterseminars wählte er die Münchener Filmhochschule. Die vermeintliche Berufung war Wenders erstes Rollenspiel. Wenders und seine zwanzig Jahre jüngere Frau, die Photographin Donata Wenders (*1965), haben anscheinend eine pietistische Neigung. Bei ihr kommt diese Verknüpfung von Gotteserfahrung und Biographie etwa in der Zusammenarbeit mit dem Geigenbauer und Schriftsteller Martin Schleske („Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens“, 2010) zum Ausdruck. Wenders konvertierte unter dem Eindruck einer presbyterianischen Gemeinde in Amerika zum evangelischen Glauben. Der Regisseur des Filmes „Papst Franziskus-Ein Mann seines Wortes“ (2018) ist auch nach der Verleihung des theologischen Ehrendoktors der Universität Fribourg nicht in die una sancta zurückgekehrt. „Ich bin ökumenischer Christ. Punkt“, sagte er in einem Gespräch mit Evelyn Finger.
Wim Wenders Engel sind Streetworker Gottes im ökumenischen Einsatz an den sozialen Brennpunkten. Will man den Film biographisch deuten, so steht der Engel Damiel für die Aufgabe des priesterlichen Dienstes, während Cassiel seiner zölibatären Berufung treu bleibt. „Der Himmel über Berlin“ ist mit Abstand Wenders bester Film. Bruno Ganz spielte hier die Rolle seines Lebens. Längst er ist wie alle anderen Darsteller gestorben. So ist der Film auch sein Vermächtnis.
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Rano Achunowa gründete die erste Waldorfschule in Tadschikistan.
Eine Deutschlehrerin in einem muslimischen Land russischer Prägung.
Engel kennen keine Grenzen.
Der Beruf führte mich ins östliche Niedersachsen, nicht weit entfernt von der Grenze zur DDR. Es war das Jahr 1987. Mit drei kleinen Kindern wohnte ich in dem Dorf Solschen zwischen Braunschweig und Hildesheim. In dieser Landschaft hatte Friedrich von Spee gewirkt, hier war er überfallen und schwer verwundet worden. Das Dorf besaß eine Kirche, in der 800 Gläubige bequem Platz gefunden hätten. Das Gotteshaus wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut und dem Heiligen Pancratius geweiht. Aus dieser Zeit stammten auch die emaillierten Schilder mit den Namen der Stifter. Sie markierten nun die leeren Sitzplätze.
Dieser Ort sollte für mich zu einer Erfahrung werden. Jeden Sonntag versammelte sich hier eine Gemeinde von fünf, manchmal zehn Gläubigen. Keine Ermunterung vermochte sie zu motivieren, gemeinsam in der ersten Bank Platz zu nehmen. Ein junger Organist spielte selbstverliebt sein Instrument. Vom Gesang der Gemeinde war nichts zu hören. Die Gläubigen senkten ihr Haupt, als hätte sie eine große Scham ergriffen. Eine an Erstickung grenzende Sprachnot breitete sich auch in anderen Gemeinden aus.
1985 hatte ich erste Erfahrungen als Religionslehrer an der Ursulaschule in Osnabrück gesammelt. Schulleiter war damals Pater Werinhard Einhorn OFM. Er hatte über das Einhorn in der Kunst des Mittelalters promoviert. Jeden Morgen wurde ein Gottesdienst gefeiert. Methodische Anregungen für die Gestaltung von Schulgottesdiensten gab es zuhauf. Aber schnell merkte ich bei der Lektüre dieser Arbeitshilfen, dass sie oftmals nur ein Ausdruck des Mangels eigener Frömmigkeit und inwendigen Lebens waren und sich deshalb in Äußerlichkeiten verloren. Schüler aber haben einen untrüglichen Blick für das Authentische.
Wer Gottesdienst feiern will, darf den Weg nach Innen nicht scheuen. Pater Werinhard war auch hier ein Lehrmeister. Einmal erzählte er von einer Unruhe, die ihn ergriffen hatte. Zur Vorbereitung einer Andacht suchte er in den Geschäften der Bischofsstadt Osnabrück nach einem Geige spielenden Engel. Er wollte ihn der Schulgemeinde zeigen, um anschaulich über das Gotteslob und die Musik der Engel zu predigen. Eine Firma aus dem Erzgebirge stellt jene Engel her, die zur Weihnachtszeit die Wohnzimmer schmücken. Engel dienen vielerorts als Nachfolger der Laren und Penaten. Sie dekorieren Wohn- und Schlafzimmer, sie schmücken Gräber und Gartenteiche. Aber fördern sie auch unseren Lobgesang? Pater Werinhard hatte damals seine Suche nach dem Engel des Lobpreises ohne Ergebnis abgebrochen. „Was suchst Du eigentlich?“, hatte er sich gefragt. „Warum brauchst Du einen singenden Engel, wo Du und Deine Schüler doch selbst singen können!“ Die kleine Geschichte wurde für mich zum ersten Schritt der Begegnung mit einem großen Geheimnis: Der wahre Gottesdienst beginnt im Herzen. Denn wie das Einhorn, so liebt Gott die Verborgenheit und die große Stille. Niemand vermag durch List und Gewalt das Einhorn zu fangen. Doch wer in seinem Herzen ganz stille wird und andächtig, zu dem kommt es und bettet zärtlich sein Haupt in den Schoß.
Gott ist ein stiller Gott. In meiner Dorfgemeinde aber war es beängstigend still. Deshalb sang ich besonders laut und dachte dabei an jene alten Männer in den Gottesdiensten meiner Kindheit. Einer genügte, der seine Stimme erhob, und ich fühlte mich sicher und geborgen.
An den Bänken der Solschener Kirche leuchteten die weißen Namensschilder jener Familien, die in diesem Gotteshaus einst das „Großer Gott, wir loben dich!“ aus 800 Kehlen vielstimmig gesungen hatten. Ich schaue auf die Schilder und las die Namen. Da war es mir, als riefen die Schilder ihre Namensträger herbei: Wo seid ihr? Wo sind eure Kinder und Kindeskinder? Eine Schwundstufe war erreicht.
Die Wüste ist der Ort der Anfechtungen und Versuchungen. Aber auch das Rettende ist nahe. Es führt wieder zur Mitte und ins Wesentliche. In meiner Wüste entdeckte ich die alten Lieder in neuer Weise. Die langen Predigten boten viel Zeit für die Lektüre. Und das Lesen wurde zu meinem Gebet und führte mich zu den Engeln, die ich seit je geliebt und auf dem Weg ins Leben fast verloren hatte. In den Liedern war zu allen Zeiten des Kirchenjahres die Rede von den himmlischen Chören der Engel.
„Alles, was dich preisen kann,
Cherubim und Seraphinen,
stimmen dir ein Loblied an,
alle Engel, die dir dienen,
rufen dir stets ohne Ruh:
‚Heilig, heilig, heilig!’ zu.“
Warum singen die Engel? Gewiss nicht zur Unterhaltung Gottes. Ihr Gesang ist Ausdruck eines Lebens im Wesentlichen: Sie sehen Gott von Angesicht zu Angesicht. Immer haben sie ihn vor Augen. Gott erfüllt sie. Sie können gar nicht anders. Denn Gott singt in ihnen. Diese gottseligen Geister sehen, was uns, solange wir auf Erden sind, verborgen bleibt: Gottes Gegenwart. Ihr Gesang ist die Antwort auf die große Herrlichkeit. Gott ist Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Mag die Gemeinde auf Erden verstummen oder im Eifer der Reformen das Wesentliche aus dem Blick verlieren, die Seraphim und Cherubim mit dem großen Heer der Engel werden unverdrossen den Lobpreis anstimmen.
Die eigene Stimme und den Chorgesang kann man trainieren. Lieder kann man lernen. Doch was die Seele singen macht, ist nicht von dieser Welt. Das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim und das „Ehre sei Gott in der Höhe!“ der himmlischen Heerscharen bei den Hirten zu Bethlehem ist die Antwort des Geschöpfes auf die Gotteserfahrung.
Die Kirche auf Erden stimmt ein in den Lobgesang der Kirche im Himmel. Mögen unsere Augen gehalten sein und unser Atem kurz werden, die Stimmen matt und verzagt, mag uns ein kalter Schauer ergreifen und die Angst vor einem unseligen Ende, das Gloria und Sanctus der Engel wird nicht verstummen.
Durch den Gesang hatte ich den Weg zu jenen Engeln wiedergefunden, die mich im Werden und Wachsen der Kindheit begleitet hatten: „Guten Abend, gute Nacht, von Englein bewacht“, „Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich stehn“. Als ich die Lieder an meine Kinder weitergab, wurde ich selbst für den Augenblick des Gesanges wieder Kind. Ist nicht alle wahre Frömmigkeit eine Wiederentdeckung der Kindheit?
1989 wurde ich mit der Ausbildung angehender Religionslehrer betraut. Wie in der religiösen Erziehung der eigenen Kinder stand ich vor der Aufgabe, nicht allein Wissen zu vermitteln, sondern Wege zur Begegnung mit der heimlichen Weisheit der Bibel und der Tradition zu beschreiten.
Gerhard Tersteegen hat dem gemeinsamen Lob von Engel und Mensch in einem Lied Ausdruck verliehen. Es ist wohl eine der besten Gebetsübungen.
„Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt,
wer ihn nennt,
schlagt die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder.“
(GL 387.1)
Tersteegen bildet die Mitte jener biographisch und hymnologisch ausgerichteten Engelbücher wie „Breit aus die Flügel beide“ oder „Das große Buch der Engel“, die ich Anfang der Neunziger Jahre im Herder Verlag vorlegte. Ihnen folgten Einladungen zu Einkehrtagen mit den Novizenmeistern und –meisterinnen des Benediktiner- und Zisterzienserorden über das hymnologische Vorbild der Engel für den Lobpreis der Kirche. Die gemeinsame Zeit in den Klöstern Mariastein und Engelberg schenkte mir die Möglichkeit der Teilnahme an den Stundengebeten. Während sich die Mönche hinter der Chorschranke versammelten, saß ich mit den Schwestern im Kirchenschiff. Dann begannen unter Verbeugungen die Psalmengesänge, als folgten sie den Anweisungen von Tersteegen Loblied.
„Gott ist gegenwärtig,
dem die Cherubinen
Tag und Nacht gebücket dienen.
Heilig, heilig, heilig! singen ihm zur Ehre,
aller Engel hohe Chöre.
Herr, vernimm
unsre Stimm,
da auch wir Geringen
unsre Opfer bringen.“
(GL 387.2)
Die Nonnen und Mönche, so hatte es der Heilige Benedikt gewollt, sollen ein Engelleben führen. Doch Menschen sind keine Engel. Engel singen „ohne Ruh“. Wir aber ließen eine Sitzung ausfallen und wanderten bei strahlendem Sonnenschein hinter das Kloster Engelberg, zogen unsere Schuhe aus und badeten die Füße im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches. An einem anderen Tag besuchten wir vor der Vesper die Eissporthalle und spielten Stockschießen – die Patres und Schwestern natürlich im Habit. Aber in der Anbetung traten wir wieder an die Seite des niemals unterbrochenen Lobgesanges der Cherubim und Seraphim.
Engel in Älmhult/Sverige
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Der Mystiker Dionysios Areopagita versuchte als erster das Grundmuster hinter den vielen Engelerscheinungen der Bibel zu erkennen. Da war die Rede von Seraphim und Cherubim, von Thronen (Throni), Herrschaften (Kyriotetes, Dominationes), Kräften oder Mächten (Dynameis, Virtutes) und Gewalten (Exusiai, Potestates), von Fürstentümern (Archai, Principatus), Erzengeln (Archangeloi, Archangeli) und Engeln (Angeloi, Angeli).
Gab es unter ihnen eine Rangordnung? Hatten sie unterschiedliche Aufgaben? Die Bibel gibt nicht auf alle Fragen eine direkte Antwort. Kombinationsgabe und die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, sind gefragt. Dionysios wagte sich an die Arbeit. Das Ergebnis fand Beifall, weil es mehr Licht in die geheimnisvolle Welt der Engel brachte. Er gliederte die neun Chöre in drei Dreiergruppen und nannte sie „Heilige Ordnung“ oder Hierarchie. Die Zahl der Engelchöre war kein Zufall, denn sie spiegelt dreifach die heilige Zahl Drei. Dieser Bezug auf den dreieinigen Gott ist auch der Grund, warum die Lehre des Dionysios von den Engelforschern der anderen Religionen nicht aufgegriffen wurde. Die neun Chöre beschreiben also den christlichen Himmel.
Wer war Dionysios Areopagita? Der Apostel Paulus hatte auf dem Areopag, einem dem Kriegsgott Ares geweihten Hügelrücken in Athen, gepredigt. Unter seinen Zuhörern befand sich ein Mann mit Namen Dionysios (Apostelgeschichte 17, 34), der Mann vom Areopag. Er folgte Paulus nach. Das ist alles, was wir von ihm wissen. Seine Gestalt wuchs bald ins Legendarische: Dionysios galt als Zeuge der Sonnenfinsternis beim Tode Jesu. Er war beim Tod der Maria gegenwärtig und schloss mit Johannes, Jesu Lieblingsjünger, Freundschaft. Dionysios wird als erster Bischof von Athen und Paris, als Bekehrer Galliens und Schutzpatron der französischen Könige verehrt, als Gründer der Sorbonne und der Reichsabtei Saint-Denis, der Krönungsstätte der französischen Könige. Er wird einer der Vierzehn Nothelfer. Den Märtyrertod findet er in Paris auf dem Mons Martyrium (Montmartre).
Der Autor des Buches über die himmlische Hierarchie der Engel war nicht jener historische Schüler des Paulus gewesen. Darin sind sich Forscher wie Hans Urs von Balthasar oder Bernard McGinn einig. Allein Gerd-Klaus Kaltenbrunner versucht in seinem Buch „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (1996) den Legenden einen geschichtlichen Kern zu entnehmen. Dionysios war demnach ein Mystiker des 6. Jahrhunderts. Er trägt den Namen „Pseudo-Dionysius Areopagita“ Wahrscheinlich lebte er um 500 in einem syrischen Kloster. Wie kaum ein zweiter Theologe der frühen Kirchengeschichte hat er die Geschichte der Mystik beeinflusst.
Was lehrt der erste Engelforscher? Seine mystische Lehre ist Ausdruck der Schönheit und Herrlichkeit der göttlichen Ordnung und darin zugleich konkrete Lebenshilfe. Mit jedem Satz, den er über die Engel spricht, sagt er etwas über das Wesen des Menschen aus. Wenn er über die himmlischen Hierarchien redet, deckt er zugleich Geheimnisse der menschlichen Seelenordnung auf: 1. Engel und Mensch brauchen eine Mitte, aus der sie leben, die ihnen Kraft gibt und Orientierung schenkt. 2. Es gibt viele Blickrichtungen auf die Mitte. Niemand besitzt die ganze Wahrheit. 3. Im Bild des Engelchores schwebt vor unserem geistigen Auge eine Einheit in der Vielzahl der Stimmen. Eine Einheit, die Toleranz und Achtung vor den Erfahrungen anderer Menschen schenkt. Dionysios hat der Nachwelt ein Meditationsbild geschenkt, an dem sie sich noch im dritten Jahrtausend orientieren kann. Unter den Menschen und Engeln gibt es unterschiedliche Begabungen, sagt dieses Bild. Jede ist wichtig, jede wird gebraucht. Wie zu einem Chor viele Stimmen gehören, so auch zu jeder Partnerschaft, zu jeder Familie, zu jedem Land und zur Weltgemeinschaft. Dionysios sagt: Habe Mut, deine Stimme zu erheben! Du wirst gebraucht! Du bist unverwechselbar!
Papst Gregor der Große und Hildegard von Bingen unterteilten die Welt der Engel in zwei, fünf und zwei Chöre. Mit der Zahl fünf wollte Hildegard auf die fünf Wunden (Stigmata) Christi verweisen. Unstrittig war, dass die Chöre der Engel zur Ehre Gottes jubilierten. Ihr Gesang klinge wie „das Rauschen vieler Wasser“, meinte Ambrosius von Mailand (339–397) in einem etwas ungewöhnlichen Vergleich. Nach der syrischen Jakobusliturgie singen sie mit „heller“ Stimme. Von den „hellen Liedern“ der Engel weiß auch das Weihnachtslied. Ephraim der Syrer (ca. 306–373) spricht von den „Harfenstimmen“ der Engel, das slawische Henochbuch einfach von „sanften“ Stimmen.
Der Chorgesang der Mönche hatte in den Engelchören sein Vorbild. Im frühen Mittelalter waren Liturgieexperten davon überzeugt, dass Engel nicht polyphon singen und ihre Stimmen nicht von Instrumenten begleitet werden. Diese Annahme wurde durch den heiligen Franz von Assissi korrigiert. Er sah einen Engel mit einer Geige. Nicht singen zu können, sagte Thomas von Aquin (1225–1274), sei eine Schande, „da doch die Heiligen mit den Engeln und Erzengeln, mit den Thronen und Herrschaften und mit der ganzen himmlischen Heerschar unaufhörlich täglich das Heilig, Heilig, Heilig singen“.
Vor einem allzumenschlichen Bild vom Gesang der Engel ist jedoch zu warnen. Ihr Lobpreis dient nicht der Unterhaltung Gottes. Engel sind nicht mit der Aufgabe betraut, „dem Herrgott etwas vorzusingen“, betonte bereits 1935 der Engelforscher Erik Peterson in seiner Studie „Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus“:
„Das ist in der Tat eine unerträgliche Vorstellung, und der Wunsch, so etwas eine ganze Ewigkeit zu tun, nicht ohne weiteres begreiflich.“ Singen sei vielmehr ein Bild für die himmlische Lebensform, ein „Verströmen im Lobpreis“, wie es auch die Mystiker ersehnen.
So sind die Chöre der Engel vor allen Dingen ein mystisches Bild der Annäherung an das Geheimnis Gottes und Ausdruck eines beschwingten Lebens, das sich von Gottes Liebe durchdrungen weiß. „Was nützen denn alle Tugenden der Engel“, fragt Peterson, „wenn nicht ihr eigentlichstes Leben, das, wofür sie allein da sind, das, wodurch ihre innerste Seinsform in Schwingung gerät, wenn nicht ihr Gotteslob dem Menschen erreichbar ist?“
Deshalb wollen wir hier den mystischen Weg zum Engelleben (vita angelica), den die neun Chöre der Engel weisen, nachzeichnen.
1. Engel
Die Engel bilden den Außenposten der himmlischen Hierarchie. Wie der Planet Pluto in unserem Sonnensystem, so bewegen sie sich im größten Abstand um die göttliche Mitte. Damit ist kein Werturteil verbunden. Die Außenposition der Engel ergibt sich aus ihrer Aufgabe als Mittler zwischen Himmel und Erde. Engel legen das Fundament der spirituellen Entwicklung. Sie begleiten Menschen und setzen in ihnen positive Energien und Werke des Lichtes frei. Sie erhellen und erleuchten die Seele und erinnern sie an ihre himmlische Heimat. Als Erzieher strahlen sie eine motivierende geistige Schönheit aus. Gott berichten sie von den Fortschritten des Menschen auf seinem Weg der Entdeckung des inneren Lichtes. Engel sind für jeden da, ob Christ oder Atheist. Der Name „Engel„ leitet sich aus ihrem Auftrag ab. Sie sind Boten des Himmels und sollen den Blick der Seele himmelwärts richten.
2. Erzengel
Nachdem die Engel das Licht der Seele erweckt haben, kümmern sich die Erzengel um den weiteren Weg. Ihre Aufgabe ist es, eine Begegnung zwischen der Seele und Christus, dem Licht der Welt, vorzubereiten. So sind Erzengel den Hebammen vergleichbar. Sie bereiten die spirituelle Gottesgeburt im Herzen vor. Auch ihre Aufgabe ist es, dem Blick der Seele eine himmlische Ausrichtung zu geben. Allerdings erweitern sie die Blickrichtung auf Christus. Deshalb werden sie Erzengel genannt. Die Vorsilbe „erz“ hat eine verstärkende Wirkung wie etwa in den Worten „Erzherzog“, „erzgescheit“ oder „erzfaul“. Wie der Erzbischof in der kirchlichen Hierarchie über dem Bischof steht, so der Erzengel in der himmlischen Hierarchie über dem Engel. Allerdings ist mit dem Gedanken der „heiligen Ordnung“ keine Wertung der Person verbunden. Vor Gott sind alle gleich, ob Engel oder Erzengel, Diakone oder Kurienkardinäle.
3. Kräfte
Spirituelle Erfahrungen können ein wohliges Gefühl hinterlassen. Damit dieses nicht in falscher Selbstbezogenheit verglüht oder in Selbstverliebtheit keine Folgen für das Leben hat, gibt es den Dienst der Engel mit dem Namen „Kräfte“. Sie verbreiten die Kraft Gottes und knüpfen unmittelbar an den Dienst der Erzengel an. Das Licht soll nicht unter den Scheffel gestellt werden, und die Stadt auf dem Berge soll leuchten. Deshalb erfüllen die Kräfte das Herz mit brennender Liebe. Sie nähren weiterhin die Flamme des Herzens, indem sie den Menschen eine klare Entscheidung, ein Ja oder Nein abverlangen. Als Wegbegleiter haben sie den Auftrag zu bewirken, dass die Gottesliebe auch Konsequenzen in der Lebensführung hat. Sie schenken Klarheit der inneren Erkenntnis und helfen in allen Anfechtungen.
Kräfte heißen diese Engel, weil sie der Seele Kraft schenken. Sie heißen auch „virtutes“. Die Kräfte sind also Tugenden, die im Menschen angelegt sind, aber durch Engelkräfte geweckt, gefördert und zur Wirksamkeit entfaltet werden müssen. Hinter jeder Tugend steht ein Engel.
Zur Einweihung der Klosterkirche in Rupertsberg durch den Erzbischof von Mainz im Jahre 1152 verfasste Hildegard von Bingen ein Mysterienspiel über das Wirken der Engel-Kräfte (virtutes). Das „Ordo virtutum“ oder „Spiel der Engel-Kräfte“ wurde von den Schwestern des Konvents aufgeführt. 15 Schwestern verkörperten dabei 15 Engel-Tugenden. Da ihre Quersumme 6 (1 + 5) der Anzahl der Tage entspricht, in denen Gott die sichtbare und die unsichtbare Welt geschaffen hat, ist von einer symbolischen Bedeutung auszugehen. Hildegards Engel-Tugenden oder Engel-Kräfte lauten:
Nächstenliebe (caritas)
Gottesfurcht (timor Dei)
Gehorsam (oboedientia)
Glaube (fides)
Keuschheit (castitas)
Unschuld (innocentia)
Weltverachtung (contemptus mundi)
Himmlische Liebe (amor caelestis)
Selbstzucht (disciplina)
Schamhaftigkeit (verecundia)
Mitleid (misericordia)
Sieg (victoria)
Urteilskraft (discretio)
Geduld (patientia)
und als Königin der Tugenden (regina virtutum) die
Demut (humilitas).
4. Mächte
Je stärker das Licht, desto größer die Gefahr des Übermutes. Das hatte der Fall Lucifers gezeigt. Deshalb umkreist der vierte Chor der Engel wie ein mächtiger Schutzschild aus Licht das Geheimnis Gottes. Ähnlich den himmlischen Heerscharen strahlen die Engel des vierten Chores eine große Macht aus. Deshalb werden sie „Mächte“ genannt. In der griechischen Sprache heißen sie „exusiai“. Das Wort kann mit „Vollmacht“ übersetzt werden. Wie alle Engel, so haben auch die Mächte des vierten Chores ihre Macht nicht aus sich selbst. Sie sind „die Bevollmächtigten Gottes“. Ihre Aufgabe ist die Bewahrung der Unergründlichkeit Gottes vor allzu großer Neugierde des Menschen.
Die Mächte Gottes haben also im spirituellen Prozess nach den ersten drei Stufen die wichtige Funktion der Grenzziehung. Mit schnellem Schritt und Himmelsstürmerei kommt die Seele dem Geheimnis der Mitte nicht näher. So lehren die Mächte eine wichtige weitere Voraussetzung auf dem Weg zur Mitte. Es ist die Haltung der Ehrfurcht. Ohne sie hat kein Gemeinwesen Bestand. Deshalb folgen den Mächten als Engeln der Ehrfurcht die Engel der politischen Ordnung oder Fürstentümer.
5. Fürstentümer
Die Engel-Fürsten sind um das Wohlergehen der Menschen in den politischen Gemeinden besorgt. Die Mitglieder des fünften Chores sind keine Volksvertreter, sie werden nicht gewählt, sondern auf Lebenszeit berufen. Dieser Ruf beinhaltet eine Verpflichtung. Denn alle Herrschaft ist ein Lehen, und derjenige, der sie verliehen hat, wird Rechenschaft einfordern. Fürstentümer oder Engel-Fürsten sind in besonderer Weise Vorbild für alle Menschen, die sich politisch engagieren. Sie sind temperamentvoll, erfüllt von glühendem Eifer für die Wahrheit, sie lehren Gerechtigkeit, Beständigkeit und die Ausrichtung der Politik am Vorbild christlicher Nächstenliebe.
6. Herrschaften
Im Wilhelminischen Deutschland gab es in Hotels und öffentlichen Gebäuden gelegentlich zwei Eingänge. Vor dem eleganteren war ein Schild mit der Aufschrift: „Nur für Herrschaften!“ angebracht. Mit diesen Herrschaften haben die gleichnamigen Engel des sechsten Chores nichts gemein. Der Blick auf die griechische (kyriotetes) oder lateinische (dominationes) Bezeichnung erhellt ihr Wesen. „Kyrios“, „dominus“ oder „Herr“ ist einer der Titel, mit denen die Evangelien Christus bezeichnet haben. Christus ist gekommen, um den Menschen aufzurichten, ihm seine Würde und das Licht der Vernunft wiederzugeben. Daran will der Name „Herrschaften“ erinnern. Die Engel des sechsten Chores fallen durch ihre äußere Erscheinung besonders auf. Sie tragen einen Helm und eine Tunika. Als einzige Engel haben sie nicht nur ein Menschenantlitz, sondern auch Menschenfüße. Sie sind ein Bild des edlen Wesenskernes des Menschen. Der Mensch ist von Gott gut und mit schöner Gestalt geschaffen worden. Christus hat den Menschen aufgerichtet zu einer Herrschaft im Dienste Gottes. Hochherzigkeit, Adel der Seele und das Licht der Vernunft gehören zum Wesen des Menschen.
Heute ist die Vorbildfunktion der Herrschaften besonders in der Wissenschaft notwendig. Sie müssen darauf achten, dass die Gabe der Vernunft im Dienste der Menschlichkeit steht und weder von Biotechnologen noch von Atomphysikern missbraucht wird.
7. Throne
Auf dem himmlischen Thron sitzt Gott. Wenn die Engel nun „Throne“ genannt werden, schwingen zwei Bedeutungen mit: zum einen ihre Nähe zu Gott, zum anderen leuchtet in ihrem Spiegel das Bild des Tragens auf. Throne sind „Gottesträger“, deshalb werden sie auch mit Maria verglichen, die Gottes Sohn in ihrem Leib getragen hat. Die Throne erglühen wie das Morgenrot, sie kündigen die Geburt eines neuen Tages an. Mit dem siebten Chor der Engel kommt die Seele der göttlichen Mitte immer näher. Auch sie soll ja Gottesträger oder Thron Gottes werden.
8. Cherubim
Die Cherubim im achten Chor der Engel symbolisieren eine Spiritualität der vollkommenen Hingabe an die Gottesliebe, die kaum mehr durch einen Blick auf die vergängliche irdische Welt abgelenkt wird. Auf Erden gleichen ihnen die Propheten, Mystiker und alle Menschen, die sich Visionen öffnen und zu träumen wagen. Sie sind eine Feder auf dem Odem Gottes. Cherubim haben sechs Flügel voller Augen. Sie besitzen die Fülle des Wissens, ihr Blick durchdringt alles und schaut auf den Kern der Dinge. Auch wir sollen uns auf dem Weg zur Mitte von keiner Äußerlichkeit ablenken lassen und uns auf das Wesentliche konzentrieren.
9. Seraphim
Das Wesen der Seraphim ist flammende Liebe und glühende Begeisterung für Gott. Seraphim haben die Aufgabe, das Feuer der Gottesliebe zu entfachen. Menschen, die vom Geist der Seraphim durchdrungen sind, werden „seraphisch“ genannt. So war Franz von Assisi (s. dort) ein seraphischer Heiliger. Von einem Seraph erhielt er die Stigmata Jesu. Mit ihrer flammenden Liebe entzünden die Seraphim den Herzensgrund. In der Osternacht geht der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem mit Kerzen in das dunkle heilige Grab. Nach einem Gebet tritt er mit brennenden Kerzen wieder vor die Gemeinde. Es heißt, ein Seraph habe sie entzündet. Seraphim stehen in der Engelhierarchie an erster Stelle. Daran erinnert von ferne der in Schweden verliehene Seraphinenorden mit dem Blauen Band, die höchste Auszeichnung durch das Königshaus.
Hildegard von Bingen, die Nonne vom Kloster Rupertsberg gehört zu den bekanntesten und populärsten Heiligen des Mittelalters. Ihre Bücher über Heilkunst, die Magie der Farben und Edelsteine, über die rechte Ernährung und die Kunst des Fastens sind weit verbreitet. Ihre Musik, die Hymnen und das Seelendrama „Ordo Virtutum“ finden sich auf zahlreichen Tonträgern. Die Engel nehmen in Hildegards (1098-1179) Denken und in ihrer Spiritualität eine zentrale Rolle ein.
Seit ihrer frühen Kindheit hat die Benediktinerin „himmlische Gesichte“. Doch wagt sie nicht darüber zu sprechen. Die Zeit, in der sie lebt, ist von reformerischen Bewegungen geprägt. Ein neuer Geist soll die alte Kirche durchwehen. Viele berufen sich auf Visionen. Doch woher kommen die Gesichte? Sind sie vom Himmel inspiriert oder von der Hölle? Hildegard hat es als Frau doppelt schwer. Sie schweigt, unterdrückt die Stimme des Himmels in ihrer Seele und wird krank. Kein Wunder. Uns geht es nicht anders, wenn wir unsere Träume, Hoffnungen und Visionen nicht leben dürfen.
„Ich weigerte mich zu schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit, wegen der Zweifelsucht, des Achselzuckens und des mannigfachen Geredes der Menschen, bis Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf“, schreibt sie später in ihrem Buch „Scivias“ (Wisse die Wege). Erst 1141 im Alter von 43 Jahren findet sie den Mut, mit ihren Visionen an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch hier erlebt sie Typisches. Das Lebensalter zwischen 35 und 50 Jahren ist eine wichtige Phase des „spirituellen Coming out“. Endlich wächst der Mut, zu den eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu stehen, endlich erstarkt der Wille, wesentlich zu werden! Unter Berufung auf den Propheten Jeremias, den Apostel Paulus und Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, wagt auch Hildegard diejenige zu sein, die sie ist: ein Mensch mit dem großen Reichtum innerer Bilder.
Als Benediktinerin führt Hildegard ein „Engelleben“, wie es der Ordensgründer verlangt hatte. Selbstverständlich kennt sieBenedikts Deutung von Jakobs Traum als Tugendleiter und die klassische Lehre von den neun himmlischen Chören der Engel des Dionysios Areopagita. Hildegard entwirft keine neue Engellehre, sondern durchdringt mit glühender Seele und einer Leidenschaft des Geistes die Welt der Engel, meditiert sie in der Stille und setzt gelegentlich eigene Akzente. Man merkt es ihrer Sprache an. „Heilige Engel! Tiefgeneigt vor der Gottheit, lodernd in Sehnsuchtsgluten!“ – das ist fast eine Selbstbeschreibung. Wenn wir uns auf die Welt der Engel einlassen, dann schwingt unser ganzes Wesen mit. Kein Wunder, denn auch in uns ist das Licht des Himmels verborgen und will leuchten wie ein strahlender Diamant in der innersten Kammer des Herzens. Den Engel erkennen, ist auch ein Wiedererkennen dieses Edelsteines der Seele.
Engel sind Lichtgestalten, sie singen den immerwährenden Lobpreis Gottes, sie sind Spiegel Gottes, geschaffen aus Licht am ersten Schöpfungstag. Sie sind die älteren Geschwister der Menschen, wie Hildegard am Beispiel der Geschichte vom verlorenen Sohn ausführt: Während der Mensch, verkörpert durch den verlorenen Sohn, Gott verlässt und in die Fremde geht, stehen die Engel treu an der Seite ihres Schöpfers. Doch war das nicht immer so. Hildegard fasst den Sturz der Engel so zusammen: „Als Gott sprach: Es werde Licht!, da entstand Licht der Vernunft. Das sind die Engel. Das sind jene Engel, die in Wahrheit Gott die Treue hielten, jene aber auch, die in die äußerste Finsternis ohne alles Licht gefallen waren, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass das wahre Licht, das in Ewigkeit vor allem Ursprung in Klarheit weste, Gott sei, und weil sie etwas Ihm ähnliches ins Werk setzen wollten, dessen Existenz unmöglich war.“ Als Ersatz für die gefallenen Engel schafft Gott den Menschen. Ihm gibt er das Licht, das Lucifer und seine Engel in ihrer Rebellion gegen Gott missbraucht hatten. „So gab Ich den Glanz, der von dem ersten Engel wich, dem Menschen, Adam und seinem Geschlecht“ (Scivias III.1).
Mensch und Engel sind Träger des göttlichen Lichtes. Von ihrer geheimnisvollen Verbundenheit berichtet Hildegard in ihrer berühmten Vision der neun himmlischen Chöre (Scivias I.6). Ihr Gesicht ist zu einem berühmten Meditationsbild geworden: Sie sieht die Engel das Geheimnis der göttlichen Mitte umkreisen und dabei in vielstimmiger Weise singen. Das Thema ihres Gesanges sind die Wunder, die Gott durch sie in den Seelen der Menschen wirkt. Hildegards Engel sind Widerhall, Resonanz und Spiegel von Gottes Werk. Ihr Dienst ist eine „Rückmeldung“ von der Erde. Wenn sie die guten Taten der Menschen melden, dann verherrlichen sie damit Gott, denn er ist der Urheber alles Guten. Der vielstimmige Engelgesang ist ein Abbild der Harmonie, die nach Gottes Willen die gesamte Welt durchwalten soll.
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Der Chor tritt bald auf
*
"Tanze, du Erde, vor dem Antlitz des Gottes Jakobs."
(GL 63.1)
*
"Quid beatius esse potest,
quam in terra tripudium Angelorum imitari!"
Basilius der Große an Greogor von Nazianz (I.2)
*
Motette Nr. 77 aus dem Codex Chantilly:
Angelorum psalat tripudium
"Angelorum psalat tripudium
musicorum pandens armoniam
orpheycam plectens sinphoniam
procul pellens Vanum fastidium
qui operum fuit inicium
delictorum frangens constanciam
duplicatum ostendens animum
pomum prebens Cunctis letiferum
Ista gerit vices luciferi
que principi suppremo voluit
coequa(r)li set tandem corruit
In profundum abissi Inferi(ri)
Pestifera in qua superbia
Ingrata es Deo et homini
in retro mordens ut fera Pessima
ante blandis ut faus Innocui"
*
tripudium ist ein Tanzschritt
*
"Fröhlich soll mein Herze springen (=tanzen)
dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen.
Hört, hört wie mit vollen Chören
alle Luft laute ruft:
Christus ist geboren!"
Paul Gerhardt
*
"Die himmlische Liturgie ragt direkt in die irdische hinein.
Das Göttliche wird in den Kreis der versammelten Gemeinde herabgezogen,
Christus ist in einer Epiphanie zugegen,
die der Fromme 'sieht' und 'hört'."
Reinhold Hammerstein. Die Musik der Engel.
Francke Verlag. Bern und München 1962. S. 30
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Collage Adobe Stock. Tagespost von 15. Juli 2021
Der Artikel erschien zuerst in der Tagespost:
https://www.die-tagespost.de/autoren/uwe-wolff/
*
"Zugleich wird ein heiliger Papst auftreten,
nicht von Kardinälen gewählt,
sondern von Gott gesandt..."
Friedrich Baethgen. Der Engelpapst. Max Niemeyer. Halle 1933. S. 90
Früher sah die Gemeinde im Priester den engelgleichen Mann. Heute wissen wir, dass Idealisierungen den Blick trüben können. Priester sind keine Engel. Sie haben nicht nur kleine menschliche Schwächen, sondern können abgrundtief fallen. Wie übrigens auch die „Gottessöhne“ (Gen 6.1-2), die sich an den „Menschentöchtern“ vergingen, oder jene Männer von Sodom, die den Engeln nachstellten (Gen 19.5). Die Bibel verschweigt das Abgründige nicht . Es markiert den Abstand vom Ideal, widerlegt jedoch nicht seine Gültigkeit. Benedikt von Nursia hatte vom engelgleichen Leben in dienender Liebe gesprochen.
Die Rede vom Engelpapst oder Pastor bonus nimmt dieses Ideal auf und beschreibt mit ihm eine ökumenische Hoffnung auf Heil und Heilung der zerspaltenen Christenheit, ihre Versöhnung mit den Geschwisterreligionen und darüber hinaus mit allen Menschen, die bisher Gott nicht kannten oder in ihrem Leben nicht vermissten. Die träumerische Sehnsucht vom Kommen des Pastor angelicus „gehört zu dem Heimlichsten und Zartesten katholischer Frömmigkeit, und so gut wie niemand redet von ihr; denn nur wenige katholische Fromme schauen das Papsttum in seinem erschreckenden Abstand von Jesu Ideal und bleiben ihm gleichwohl in Treue und Liebe ergeben.“
So schreibt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967) in seinem Werk „Der Katholizismus“ (1923) und entwirft ein Traumbild von dem engelgleichen Papst der Zukunft. Dieser Papa angelico werde ein Sohn des heiligen Franz sein, werde nicht im apostolischen Palast wohnen, die Huldigungen der Kardinäle und Prälaten verschmähen, werde Buße tun für die unzähligen Sünden seiner Vorgänger und vom Primat der dienenden Liebe in Demut sprechen. Den getrennten Brüdern der lutherischen und reformierten Kirchen, den Schwesterkirchen im Osten wird er die Hand zur Rückkehr reichen. Im Zeichen der Liebe sollen die verlorenen Söhne und Töchter wieder in den Schoß der una sancta ecclesia heimkehren. Dieser Engelpapst wird versöhnen statt spalten, er wird nicht ausgrenzen, sondern integrieren: Die unter dem Primat Roms stehende versöhnte Christenheit muss ihre eigenen Traditionen, ihre Überlieferungen und Sitten in dieser Einheit in der Vielfalt der Stimmen nicht preisgeben.
Wie aber werden sich die alten und neuen Ketzer und Kirchenkritiker verhalten? Friedrich Heiler engagierte sich in der Una-Sancta-Bewegung und war optimistisch, dass alle synodalen Wege letztlich wieder nach Rom führen werden. Er glaubte an eine Allversöhnung. Gerade die hartnäckigsten Kritiker werden die Knie beugen. Nicht vor der Macht, nicht vor der Gewalt, nicht aus Furcht und Zittern, sondern vor der Evidenz der Erscheinung des Engelpapstes. So ist Heiler zuversichtlich:
„Gerade jene, welche seit Jahrhunderten die Papstkirche leidenschaftlich befehdet hatten, werden nun ihre eifrigsten und treuesten Glieder. Die alten ‚Häresien‘ und ‚Schismen‘ verschwinden; Orientalen und Anglikaner, Lutheraner und Calvinisten, Sektierer und Spiritualisten - alle beugen sich diesem neuen Papst, der zu ihnen kommt, nicht um über sie zu herrschen, sondern um ihnen zu dienen. Sie bleiben, was sie sind; sie behalten ihre Kultformen und Einrichtungen und hüten das besondere Charisma, das ihnen zuteil geworden ist. Aber sie stehen fortan nicht mehr getrennt von der ecclesia universalis, sondern sind vereint mit ihr und schöpfen aus ihrem Lebensreichtum und ihrer Gnadenfülle. Eine una sancta ersteht, wie sie die Welt nicht mehr gesehen seit den Anfängen der Christenheit, ja, noch größer und reicher und wunderbarer als die una sancta der ersten christlichen Jahrzehnte.“
Der Papa angelico besiegelt die Liebeseinheit der Kirche. Er dient in den Kathedralen des Abendlandes, feiert die Eucharistie in den Ostkirchen, „er bricht das eucharistische Brot an den schmucklosen Tischen evangelischer Puritaner und reicht den eucharistischen Kelch an den Altären der evangelischen Hochkirchen.“
Visionen fallen nicht nur vom Himmel. Sie erzählen von den Sehnsüchten frommer Seelen in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Wenn das Amt versagt, ist die Stunde der Seher und Reformer gekommen. In der langen Sedisvakanz nach dem Tod Clemens IV. (1200-1268) zirkulierte unter den Kardinälen im Konklave die Weissagung: der neue Papst werde der Welt Frieden schenken, Jerusalem erobern und das Heilige Grab von den Ungläubigen befreien. Er werde die Kranken heilen und die Verlorenen suchen. Der Sittenverderbnis unter den Klerikern werde er ein Ende bereiten und die gespaltene Kirche wieder zur Einheit führen.
In der Zeit der Kreuzzüge entstand der Traum von einer weltweitenden Ökumene. Er übernahm Erzählmuster der Kaisersage von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa und steigerte sie zu einer ökologischen Utopie. Unter dem Engelpapst werde der Mensch wieder achtsam mit der Natur umgehen, dem Wolf die Hand zur Versöhnung reichen, den Vögeln predigen und mit den Muslimen einen interreligiösen Dialog führen. Roger Bacon (1220-1292), als Franziskaner und „Doctor mirabilis“ hoch verehrt, verschwieg aber nicht die Grenzen der Integration:
„Und um der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Papstes willen wird es geschehen, dass die Griechen zum Gehorsam der römischen Kirche zurückkehren, die Tataren in ihrer Mehrzahl zum Glauben bekehrt und die Sarazenen vernichtet werden. Und es wird sein ein Hirt und eine Herde.“
Vier Jahre dauerte es, bis ein neuer Papst gewählt werden konnte. Er kam von weit her, war nicht einmal Priester und herrschte als Gregor X. (1210-1276) unter einem großen Namen. Aber er war nicht der Engelpapst. Der lebte von der Spiritualität der Franziskaner genährt weiter im Verborgenen eines kommenden dritten Reiches.
Als der Historiker Friedrich Baethgen (1890-1972) auf Einladung der Königsberger gelehrten Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag über die Utopie des Engelpapstes hielt, hatte das Geschichtsbild des Joachim von Fiore eine unheilvolle Aktualität bekommen. Der Königsberger Ordinarius glaubte nicht wie Lessing in „Erziehung des Menschengeschlechtes“ an ein kommendes drittes Zeitalter. Im Gegensatz zu Friedrich Heiler vertraute er auch nicht auf die Allmacht der Liebe.
„Der Gedanke, ein Papsttum ausschließlich auf die moralischen Fundamente reiner und geläuterter Menschlichkeit zu gründen, stand nicht nur in unversöhnbarem Gegensatz zu den Grundtendenzen der Entwicklung, die diese Institution in einer jahrhundertelangen Geschichte durchlaufen hatte, sondern widersprach auch den allgemeinen Bedingungen und Notwendigkeiten, von denen keine religiöse Organisation sich auf die Länge zu emanzipieren vermag.“
Zum Marburger Kreis um Friedrich Heiler gehörte auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003). Sie teilte mit ihm das Ideal einer „Evangelischen Katholizität“ und den ökumenischen Blick einer Liebesmystik, der weit über die Grenzen des Christentums hinausführte. Der Katholik Heiler hatte unter Nathan Söderblom am lutherischen Abendmahl teilgenommen und später die Bischofsweihe in der gallikanischen Sukzession empfangen, weshalb er mit Griechen und Russen in Marburg die orthodoxe Osternacht feiern konnte. Jeden Sonntag zelebrierte er in seiner Hauskapelle die Evangelische Messe, über deren Atmosphäre Annemarie Schimmel in ihrer Autobiographie berichtet:
„Treue Freunde nahmen daran teil, und später saß auch das Hündchen Mitra und dessen Nachfolger, der schwarze Laqit, ‚Findelkind‘, still in der Kapelle. Ich stenographierte oft die Predigten mit und wußte, wenn der Satz ‚Gott ist Liebe‘ kam war die Predigt bald zu Ende. Es waren schöne Stunden, in denen die für Heiler typische Verbindung von Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit deutlich wurde.“
Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit hat religiöse Seelen zu jeder Zeit tief bewegt. Er wühlte auch Søren Kierkegaard auf und trieb ihn zu seinen scharfen Angriffen gegen die dänische Volkskirche. Dänemark kennt ebenfalls die Gestalt des verborgenen Retters. Der keltische König Artus ruht im Feenreich von Avalon, bis seine Zeit gekommen ist. Holger Danske schläft sitzend und mit dem Schwert in der Hand in den Kasematten von Hamlets Schloss Kronborg. Niemand kennt den Tag seines Erwachens. Aber die Sage weiß, dass es eine Stunde höchster Not und Bedrohung des dänischen Volkes sein wird. Dann wird sich Holger Danske erheben. Solche nationalen Träume kann sich Deutschland nicht mehr leisten, wohl aber die russische orthodoxe Kirche. Sie versteht sich als drittes Rom. Doch in den Augen ihrer Kritiker ist sie nicht das „heilige Russland“ und „heilige russische Imperium“ („Svjatoruskaja zemlja“), das Philotheos von Pskov schaute. Die russisch orthodoxe Kirche war seit Peter I. bis zur Revolution eine Staatskirche. Heute ist sie es wohl wieder, wenngleich es keinen Zaren mehr gibt. Doch ist die Figur eines endzeitlichen „weißen Zaren“ nie aus dem Bewusstsein der Frommen verschwunden.
Im Westen erwacht der Traum vom Engelpapst mit der ökumenischen Bewegung und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie Friedrich Heiler wollten viele Menschen in Johannes XXIII. den Engelpapst sehen. Heute wissen wir, er war es nicht. Die Idee des Engelpapstes integriert auch Motive des Messianismus’. Die Ankunft des Messias wird wie die Parusie Christi nicht durch Konzilsbeschlüsse eingeläutet. Sie kommt wie der Dieb in der Nacht.
Ob Papst Franziskus mit seiner Namenswahl und seiner Schwerpunktsetzung von der Idee eines Engelpapstes inspiriert worden ist, werden künftige Historiker herausfinden. Unsere Zeit fühlt sich von Endzeitängsten in apokalyptischer Dimension bedroht. Aber sie reagiert nicht mehr wie die franziskanische Bewegung mit Buße und Umkehr zu Gott. Ihre Utopien reichen nicht über den Horizont der Wirklichkeit hinaus. Deshalb kann sie nicht mehr vergeben und duldet in anderen die Schwäche nicht, die sie insgeheim in sich selbstverabscheut. Daher die Angst und die Gier. Von Mystik keine Spur und auch keine Erwartung kommenden Heils. Der Engelpapst bleibt im Verborgenen. Hier aber ist er vielleicht gegenwärtiger als in der sichtbaren Welt. Einen Engel erkennt man erst, wenn er vorübergegangen ist. So wird es auch mit dem Erscheinen des Engelpapstes sein.
*
"Ja, husk kun på mig I danske folk!
behold mig i tanke! jeg kommer i nødens time!“
Holger Danske
Et eventyr af Hans Christian Andersen
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Gesehen im Ikea-Museum Älmhult (2017)
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