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Rano Achunowa gründete die erste Waldorfschule in Tadschikistan.
Eine Deutschlehrerin in einem muslimischen Land russischer Prägung.
Engel kennen keine Grenzen.
Der Beruf führte mich ins östliche Niedersachsen, nicht weit entfernt von der Grenze zur DDR. Es war das Jahr 1987. Mit drei kleinen Kindern wohnte ich in dem Dorf Solschen zwischen Braunschweig und Hildesheim. In dieser Landschaft hatte Friedrich von Spee gewirkt, hier war er überfallen und schwer verwundet worden. Das Dorf besaß eine Kirche, in der 800 Gläubige bequem Platz gefunden hätten. Das Gotteshaus wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut und dem Heiligen Pancratius geweiht. Aus dieser Zeit stammten auch die emaillierten Schilder mit den Namen der Stifter. Sie markierten nun die leeren Sitzplätze.
Dieser Ort sollte für mich zu einer Erfahrung werden. Jeden Sonntag versammelte sich hier eine Gemeinde von fünf, manchmal zehn Gläubigen. Keine Ermunterung vermochte sie zu motivieren, gemeinsam in der ersten Bank Platz zu nehmen. Ein junger Organist spielte selbstverliebt sein Instrument. Vom Gesang der Gemeinde war nichts zu hören. Die Gläubigen senkten ihr Haupt, als hätte sie eine große Scham ergriffen. Eine an Erstickung grenzende Sprachnot breitete sich auch in anderen Gemeinden aus.
1985 hatte ich erste Erfahrungen als Religionslehrer an der Ursulaschule in Osnabrück gesammelt. Schulleiter war damals Pater Werinhard Einhorn OFM. Er hatte über das Einhorn in der Kunst des Mittelalters promoviert. Jeden Morgen wurde ein Gottesdienst gefeiert. Methodische Anregungen für die Gestaltung von Schulgottesdiensten gab es zuhauf. Aber schnell merkte ich bei der Lektüre dieser Arbeitshilfen, dass sie oftmals nur ein Ausdruck des Mangels eigener Frömmigkeit und inwendigen Lebens waren und sich deshalb in Äußerlichkeiten verloren. Schüler aber haben einen untrüglichen Blick für das Authentische.
Wer Gottesdienst feiern will, darf den Weg nach Innen nicht scheuen. Pater Werinhard war auch hier ein Lehrmeister. Einmal erzählte er von einer Unruhe, die ihn ergriffen hatte. Zur Vorbereitung einer Andacht suchte er in den Geschäften der Bischofsstadt Osnabrück nach einem Geige spielenden Engel. Er wollte ihn der Schulgemeinde zeigen, um anschaulich über das Gotteslob und die Musik der Engel zu predigen. Eine Firma aus dem Erzgebirge stellt jene Engel her, die zur Weihnachtszeit die Wohnzimmer schmücken. Engel dienen vielerorts als Nachfolger der Laren und Penaten. Sie dekorieren Wohn- und Schlafzimmer, sie schmücken Gräber und Gartenteiche. Aber fördern sie auch unseren Lobgesang? Pater Werinhard hatte damals seine Suche nach dem Engel des Lobpreises ohne Ergebnis abgebrochen. „Was suchst Du eigentlich?“, hatte er sich gefragt. „Warum brauchst Du einen singenden Engel, wo Du und Deine Schüler doch selbst singen können!“ Die kleine Geschichte wurde für mich zum ersten Schritt der Begegnung mit einem großen Geheimnis: Der wahre Gottesdienst beginnt im Herzen. Denn wie das Einhorn, so liebt Gott die Verborgenheit und die große Stille. Niemand vermag durch List und Gewalt das Einhorn zu fangen. Doch wer in seinem Herzen ganz stille wird und andächtig, zu dem kommt es und bettet zärtlich sein Haupt in den Schoß.
Gott ist ein stiller Gott. In meiner Dorfgemeinde aber war es beängstigend still. Deshalb sang ich besonders laut und dachte dabei an jene alten Männer in den Gottesdiensten meiner Kindheit. Einer genügte, der seine Stimme erhob, und ich fühlte mich sicher und geborgen.
An den Bänken der Solschener Kirche leuchteten die weißen Namensschilder jener Familien, die in diesem Gotteshaus einst das „Großer Gott, wir loben dich!“ aus 800 Kehlen vielstimmig gesungen hatten. Ich schaue auf die Schilder und las die Namen. Da war es mir, als riefen die Schilder ihre Namensträger herbei: Wo seid ihr? Wo sind eure Kinder und Kindeskinder? Eine Schwundstufe war erreicht.
Die Wüste ist der Ort der Anfechtungen und Versuchungen. Aber auch das Rettende ist nahe. Es führt wieder zur Mitte und ins Wesentliche. In meiner Wüste entdeckte ich die alten Lieder in neuer Weise. Die langen Predigten boten viel Zeit für die Lektüre. Und das Lesen wurde zu meinem Gebet und führte mich zu den Engeln, die ich seit je geliebt und auf dem Weg ins Leben fast verloren hatte. In den Liedern war zu allen Zeiten des Kirchenjahres die Rede von den himmlischen Chören der Engel.
„Alles, was dich preisen kann,
Cherubim und Seraphinen,
stimmen dir ein Loblied an,
alle Engel, die dir dienen,
rufen dir stets ohne Ruh:
‚Heilig, heilig, heilig!’ zu.“
Warum singen die Engel? Gewiss nicht zur Unterhaltung Gottes. Ihr Gesang ist Ausdruck eines Lebens im Wesentlichen: Sie sehen Gott von Angesicht zu Angesicht. Immer haben sie ihn vor Augen. Gott erfüllt sie. Sie können gar nicht anders. Denn Gott singt in ihnen. Diese gottseligen Geister sehen, was uns, solange wir auf Erden sind, verborgen bleibt: Gottes Gegenwart. Ihr Gesang ist die Antwort auf die große Herrlichkeit. Gott ist Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Mag die Gemeinde auf Erden verstummen oder im Eifer der Reformen das Wesentliche aus dem Blick verlieren, die Seraphim und Cherubim mit dem großen Heer der Engel werden unverdrossen den Lobpreis anstimmen.
Die eigene Stimme und den Chorgesang kann man trainieren. Lieder kann man lernen. Doch was die Seele singen macht, ist nicht von dieser Welt. Das „Heilig, heilig, heilig“ der Seraphim und das „Ehre sei Gott in der Höhe!“ der himmlischen Heerscharen bei den Hirten zu Bethlehem ist die Antwort des Geschöpfes auf die Gotteserfahrung.
Die Kirche auf Erden stimmt ein in den Lobgesang der Kirche im Himmel. Mögen unsere Augen gehalten sein und unser Atem kurz werden, die Stimmen matt und verzagt, mag uns ein kalter Schauer ergreifen und die Angst vor einem unseligen Ende, das Gloria und Sanctus der Engel wird nicht verstummen.
Durch den Gesang hatte ich den Weg zu jenen Engeln wiedergefunden, die mich im Werden und Wachsen der Kindheit begleitet hatten: „Guten Abend, gute Nacht, von Englein bewacht“, „Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich stehn“. Als ich die Lieder an meine Kinder weitergab, wurde ich selbst für den Augenblick des Gesanges wieder Kind. Ist nicht alle wahre Frömmigkeit eine Wiederentdeckung der Kindheit?
1989 wurde ich mit der Ausbildung angehender Religionslehrer betraut. Wie in der religiösen Erziehung der eigenen Kinder stand ich vor der Aufgabe, nicht allein Wissen zu vermitteln, sondern Wege zur Begegnung mit der heimlichen Weisheit der Bibel und der Tradition zu beschreiten.
Gerhard Tersteegen hat dem gemeinsamen Lob von Engel und Mensch in einem Lied Ausdruck verliehen. Es ist wohl eine der besten Gebetsübungen.
„Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt,
wer ihn nennt,
schlagt die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder.“
(GL 387.1)
Tersteegen bildet die Mitte jener biographisch und hymnologisch ausgerichteten Engelbücher wie „Breit aus die Flügel beide“ oder „Das große Buch der Engel“, die ich Anfang der Neunziger Jahre im Herder Verlag vorlegte. Ihnen folgten Einladungen zu Einkehrtagen mit den Novizenmeistern und –meisterinnen des Benediktiner- und Zisterzienserorden über das hymnologische Vorbild der Engel für den Lobpreis der Kirche. Die gemeinsame Zeit in den Klöstern Mariastein und Engelberg schenkte mir die Möglichkeit der Teilnahme an den Stundengebeten. Während sich die Mönche hinter der Chorschranke versammelten, saß ich mit den Schwestern im Kirchenschiff. Dann begannen unter Verbeugungen die Psalmengesänge, als folgten sie den Anweisungen von Tersteegen Loblied.
„Gott ist gegenwärtig,
dem die Cherubinen
Tag und Nacht gebücket dienen.
Heilig, heilig, heilig! singen ihm zur Ehre,
aller Engel hohe Chöre.
Herr, vernimm
unsre Stimm,
da auch wir Geringen
unsre Opfer bringen.“
(GL 387.2)
Die Nonnen und Mönche, so hatte es der Heilige Benedikt gewollt, sollen ein Engelleben führen. Doch Menschen sind keine Engel. Engel singen „ohne Ruh“. Wir aber ließen eine Sitzung ausfallen und wanderten bei strahlendem Sonnenschein hinter das Kloster Engelberg, zogen unsere Schuhe aus und badeten die Füße im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches. An einem anderen Tag besuchten wir vor der Vesper die Eissporthalle und spielten Stockschießen – die Patres und Schwestern natürlich im Habit. Aber in der Anbetung traten wir wieder an die Seite des niemals unterbrochenen Lobgesanges der Cherubim und Seraphim.
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Der Mystiker Dionysios Areopagita versuchte als erster das Grundmuster hinter den vielen Engelerscheinungen der Bibel zu erkennen. Da war die Rede von Seraphim und Cherubim, von Thronen (Throni), Herrschaften (Kyriotetes, Dominationes), Kräften oder Mächten (Dynameis, Virtutes) und Gewalten (Exusiai, Potestates), von Fürstentümern (Archai, Principatus), Erzengeln (Archangeloi, Archangeli) und Engeln (Angeloi, Angeli).
Gab es unter ihnen eine Rangordnung? Hatten sie unterschiedliche Aufgaben? Die Bibel gibt nicht auf alle Fragen eine direkte Antwort. Kombinationsgabe und die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, sind gefragt. Dionysios wagte sich an die Arbeit. Das Ergebnis fand Beifall, weil es mehr Licht in die geheimnisvolle Welt der Engel brachte. Er gliederte die neun Chöre in drei Dreiergruppen und nannte sie „Heilige Ordnung“ oder Hierarchie. Die Zahl der Engelchöre war kein Zufall, denn sie spiegelt dreifach die heilige Zahl Drei. Dieser Bezug auf den dreieinigen Gott ist auch der Grund, warum die Lehre des Dionysios von den Engelforschern der anderen Religionen nicht aufgegriffen wurde. Die neun Chöre beschreiben also den christlichen Himmel.
Wer war Dionysios Areopagita? Der Apostel Paulus hatte auf dem Areopag, einem dem Kriegsgott Ares geweihten Hügelrücken in Athen, gepredigt. Unter seinen Zuhörern befand sich ein Mann mit Namen Dionysios (Apostelgeschichte 17, 34), der Mann vom Areopag. Er folgte Paulus nach. Das ist alles, was wir von ihm wissen. Seine Gestalt wuchs bald ins Legendarische: Dionysios galt als Zeuge der Sonnenfinsternis beim Tode Jesu. Er war beim Tod der Maria gegenwärtig und schloss mit Johannes, Jesu Lieblingsjünger, Freundschaft. Dionysios wird als erster Bischof von Athen und Paris, als Bekehrer Galliens und Schutzpatron der französischen Könige verehrt, als Gründer der Sorbonne und der Reichsabtei Saint-Denis, der Krönungsstätte der französischen Könige. Er wird einer der Vierzehn Nothelfer. Den Märtyrertod findet er in Paris auf dem Mons Martyrium (Montmartre).
Der Autor des Buches über die himmlische Hierarchie der Engel war nicht jener historische Schüler des Paulus gewesen. Darin sind sich Forscher wie Hans Urs von Balthasar oder Bernard McGinn einig. Allein Gerd-Klaus Kaltenbrunner versucht in seinem Buch „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (1996) den Legenden einen geschichtlichen Kern zu entnehmen. Dionysios war demnach ein Mystiker des 6. Jahrhunderts. Er trägt den Namen „Pseudo-Dionysius Areopagita“ Wahrscheinlich lebte er um 500 in einem syrischen Kloster. Wie kaum ein zweiter Theologe der frühen Kirchengeschichte hat er die Geschichte der Mystik beeinflusst.
Was lehrt der erste Engelforscher? Seine mystische Lehre ist Ausdruck der Schönheit und Herrlichkeit der göttlichen Ordnung und darin zugleich konkrete Lebenshilfe. Mit jedem Satz, den er über die Engel spricht, sagt er etwas über das Wesen des Menschen aus. Wenn er über die himmlischen Hierarchien redet, deckt er zugleich Geheimnisse der menschlichen Seelenordnung auf: 1. Engel und Mensch brauchen eine Mitte, aus der sie leben, die ihnen Kraft gibt und Orientierung schenkt. 2. Es gibt viele Blickrichtungen auf die Mitte. Niemand besitzt die ganze Wahrheit. 3. Im Bild des Engelchores schwebt vor unserem geistigen Auge eine Einheit in der Vielzahl der Stimmen. Eine Einheit, die Toleranz und Achtung vor den Erfahrungen anderer Menschen schenkt. Dionysios hat der Nachwelt ein Meditationsbild geschenkt, an dem sie sich noch im dritten Jahrtausend orientieren kann. Unter den Menschen und Engeln gibt es unterschiedliche Begabungen, sagt dieses Bild. Jede ist wichtig, jede wird gebraucht. Wie zu einem Chor viele Stimmen gehören, so auch zu jeder Partnerschaft, zu jeder Familie, zu jedem Land und zur Weltgemeinschaft. Dionysios sagt: Habe Mut, deine Stimme zu erheben! Du wirst gebraucht! Du bist unverwechselbar!
Papst Gregor der Große und Hildegard von Bingen unterteilten die Welt der Engel in zwei, fünf und zwei Chöre. Mit der Zahl fünf wollte Hildegard auf die fünf Wunden (Stigmata) Christi verweisen. Unstrittig war, dass die Chöre der Engel zur Ehre Gottes jubilierten. Ihr Gesang klinge wie „das Rauschen vieler Wasser“, meinte Ambrosius von Mailand (339–397) in einem etwas ungewöhnlichen Vergleich. Nach der syrischen Jakobusliturgie singen sie mit „heller“ Stimme. Von den „hellen Liedern“ der Engel weiß auch das Weihnachtslied. Ephraim der Syrer (ca. 306–373) spricht von den „Harfenstimmen“ der Engel, das slawische Henochbuch einfach von „sanften“ Stimmen.
Der Chorgesang der Mönche hatte in den Engelchören sein Vorbild. Im frühen Mittelalter waren Liturgieexperten davon überzeugt, dass Engel nicht polyphon singen und ihre Stimmen nicht von Instrumenten begleitet werden. Diese Annahme wurde durch den heiligen Franz von Assissi korrigiert. Er sah einen Engel mit einer Geige. Nicht singen zu können, sagte Thomas von Aquin (1225–1274), sei eine Schande, „da doch die Heiligen mit den Engeln und Erzengeln, mit den Thronen und Herrschaften und mit der ganzen himmlischen Heerschar unaufhörlich täglich das Heilig, Heilig, Heilig singen“.
Vor einem allzumenschlichen Bild vom Gesang der Engel ist jedoch zu warnen. Ihr Lobpreis dient nicht der Unterhaltung Gottes. Engel sind nicht mit der Aufgabe betraut, „dem Herrgott etwas vorzusingen“, betonte bereits 1935 der Engelforscher Erik Peterson in seiner Studie „Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus“:
„Das ist in der Tat eine unerträgliche Vorstellung, und der Wunsch, so etwas eine ganze Ewigkeit zu tun, nicht ohne weiteres begreiflich.“ Singen sei vielmehr ein Bild für die himmlische Lebensform, ein „Verströmen im Lobpreis“, wie es auch die Mystiker ersehnen.
So sind die Chöre der Engel vor allen Dingen ein mystisches Bild der Annäherung an das Geheimnis Gottes und Ausdruck eines beschwingten Lebens, das sich von Gottes Liebe durchdrungen weiß. „Was nützen denn alle Tugenden der Engel“, fragt Peterson, „wenn nicht ihr eigentlichstes Leben, das, wofür sie allein da sind, das, wodurch ihre innerste Seinsform in Schwingung gerät, wenn nicht ihr Gotteslob dem Menschen erreichbar ist?“
Deshalb wollen wir hier den mystischen Weg zum Engelleben (vita angelica), den die neun Chöre der Engel weisen, nachzeichnen.
1. Engel
Die Engel bilden den Außenposten der himmlischen Hierarchie. Wie der Planet Pluto in unserem Sonnensystem, so bewegen sie sich im größten Abstand um die göttliche Mitte. Damit ist kein Werturteil verbunden. Die Außenposition der Engel ergibt sich aus ihrer Aufgabe als Mittler zwischen Himmel und Erde. Engel legen das Fundament der spirituellen Entwicklung. Sie begleiten Menschen und setzen in ihnen positive Energien und Werke des Lichtes frei. Sie erhellen und erleuchten die Seele und erinnern sie an ihre himmlische Heimat. Als Erzieher strahlen sie eine motivierende geistige Schönheit aus. Gott berichten sie von den Fortschritten des Menschen auf seinem Weg der Entdeckung des inneren Lichtes. Engel sind für jeden da, ob Christ oder Atheist. Der Name „Engel„ leitet sich aus ihrem Auftrag ab. Sie sind Boten des Himmels und sollen den Blick der Seele himmelwärts richten.
2. Erzengel
Nachdem die Engel das Licht der Seele erweckt haben, kümmern sich die Erzengel um den weiteren Weg. Ihre Aufgabe ist es, eine Begegnung zwischen der Seele und Christus, dem Licht der Welt, vorzubereiten. So sind Erzengel den Hebammen vergleichbar. Sie bereiten die spirituelle Gottesgeburt im Herzen vor. Auch ihre Aufgabe ist es, dem Blick der Seele eine himmlische Ausrichtung zu geben. Allerdings erweitern sie die Blickrichtung auf Christus. Deshalb werden sie Erzengel genannt. Die Vorsilbe „erz“ hat eine verstärkende Wirkung wie etwa in den Worten „Erzherzog“, „erzgescheit“ oder „erzfaul“. Wie der Erzbischof in der kirchlichen Hierarchie über dem Bischof steht, so der Erzengel in der himmlischen Hierarchie über dem Engel. Allerdings ist mit dem Gedanken der „heiligen Ordnung“ keine Wertung der Person verbunden. Vor Gott sind alle gleich, ob Engel oder Erzengel, Diakone oder Kurienkardinäle.
3. Kräfte
Spirituelle Erfahrungen können ein wohliges Gefühl hinterlassen. Damit dieses nicht in falscher Selbstbezogenheit verglüht oder in Selbstverliebtheit keine Folgen für das Leben hat, gibt es den Dienst der Engel mit dem Namen „Kräfte“. Sie verbreiten die Kraft Gottes und knüpfen unmittelbar an den Dienst der Erzengel an. Das Licht soll nicht unter den Scheffel gestellt werden, und die Stadt auf dem Berge soll leuchten. Deshalb erfüllen die Kräfte das Herz mit brennender Liebe. Sie nähren weiterhin die Flamme des Herzens, indem sie den Menschen eine klare Entscheidung, ein Ja oder Nein abverlangen. Als Wegbegleiter haben sie den Auftrag zu bewirken, dass die Gottesliebe auch Konsequenzen in der Lebensführung hat. Sie schenken Klarheit der inneren Erkenntnis und helfen in allen Anfechtungen.
Kräfte heißen diese Engel, weil sie der Seele Kraft schenken. Sie heißen auch „virtutes“. Die Kräfte sind also Tugenden, die im Menschen angelegt sind, aber durch Engelkräfte geweckt, gefördert und zur Wirksamkeit entfaltet werden müssen. Hinter jeder Tugend steht ein Engel.
Zur Einweihung der Klosterkirche in Rupertsberg durch den Erzbischof von Mainz im Jahre 1152 verfasste Hildegard von Bingen ein Mysterienspiel über das Wirken der Engel-Kräfte (virtutes). Das „Ordo virtutum“ oder „Spiel der Engel-Kräfte“ wurde von den Schwestern des Konvents aufgeführt. 15 Schwestern verkörperten dabei 15 Engel-Tugenden. Da ihre Quersumme 6 (1 + 5) der Anzahl der Tage entspricht, in denen Gott die sichtbare und die unsichtbare Welt geschaffen hat, ist von einer symbolischen Bedeutung auszugehen. Hildegards Engel-Tugenden oder Engel-Kräfte lauten:
Nächstenliebe (caritas)
Gottesfurcht (timor Dei)
Gehorsam (oboedientia)
Glaube (fides)
Keuschheit (castitas)
Unschuld (innocentia)
Weltverachtung (contemptus mundi)
Himmlische Liebe (amor caelestis)
Selbstzucht (disciplina)
Schamhaftigkeit (verecundia)
Mitleid (misericordia)
Sieg (victoria)
Urteilskraft (discretio)
Geduld (patientia)
und als Königin der Tugenden (regina virtutum) die
Demut (humilitas).
4. Mächte
Je stärker das Licht, desto größer die Gefahr des Übermutes. Das hatte der Fall Lucifers gezeigt. Deshalb umkreist der vierte Chor der Engel wie ein mächtiger Schutzschild aus Licht das Geheimnis Gottes. Ähnlich den himmlischen Heerscharen strahlen die Engel des vierten Chores eine große Macht aus. Deshalb werden sie „Mächte“ genannt. In der griechischen Sprache heißen sie „exusiai“. Das Wort kann mit „Vollmacht“ übersetzt werden. Wie alle Engel, so haben auch die Mächte des vierten Chores ihre Macht nicht aus sich selbst. Sie sind „die Bevollmächtigten Gottes“. Ihre Aufgabe ist die Bewahrung der Unergründlichkeit Gottes vor allzu großer Neugierde des Menschen.
Die Mächte Gottes haben also im spirituellen Prozess nach den ersten drei Stufen die wichtige Funktion der Grenzziehung. Mit schnellem Schritt und Himmelsstürmerei kommt die Seele dem Geheimnis der Mitte nicht näher. So lehren die Mächte eine wichtige weitere Voraussetzung auf dem Weg zur Mitte. Es ist die Haltung der Ehrfurcht. Ohne sie hat kein Gemeinwesen Bestand. Deshalb folgen den Mächten als Engeln der Ehrfurcht die Engel der politischen Ordnung oder Fürstentümer.
5. Fürstentümer
Die Engel-Fürsten sind um das Wohlergehen der Menschen in den politischen Gemeinden besorgt. Die Mitglieder des fünften Chores sind keine Volksvertreter, sie werden nicht gewählt, sondern auf Lebenszeit berufen. Dieser Ruf beinhaltet eine Verpflichtung. Denn alle Herrschaft ist ein Lehen, und derjenige, der sie verliehen hat, wird Rechenschaft einfordern. Fürstentümer oder Engel-Fürsten sind in besonderer Weise Vorbild für alle Menschen, die sich politisch engagieren. Sie sind temperamentvoll, erfüllt von glühendem Eifer für die Wahrheit, sie lehren Gerechtigkeit, Beständigkeit und die Ausrichtung der Politik am Vorbild christlicher Nächstenliebe.
6. Herrschaften
Im Wilhelminischen Deutschland gab es in Hotels und öffentlichen Gebäuden gelegentlich zwei Eingänge. Vor dem eleganteren war ein Schild mit der Aufschrift: „Nur für Herrschaften!“ angebracht. Mit diesen Herrschaften haben die gleichnamigen Engel des sechsten Chores nichts gemein. Der Blick auf die griechische (kyriotetes) oder lateinische (dominationes) Bezeichnung erhellt ihr Wesen. „Kyrios“, „dominus“ oder „Herr“ ist einer der Titel, mit denen die Evangelien Christus bezeichnet haben. Christus ist gekommen, um den Menschen aufzurichten, ihm seine Würde und das Licht der Vernunft wiederzugeben. Daran will der Name „Herrschaften“ erinnern. Die Engel des sechsten Chores fallen durch ihre äußere Erscheinung besonders auf. Sie tragen einen Helm und eine Tunika. Als einzige Engel haben sie nicht nur ein Menschenantlitz, sondern auch Menschenfüße. Sie sind ein Bild des edlen Wesenskernes des Menschen. Der Mensch ist von Gott gut und mit schöner Gestalt geschaffen worden. Christus hat den Menschen aufgerichtet zu einer Herrschaft im Dienste Gottes. Hochherzigkeit, Adel der Seele und das Licht der Vernunft gehören zum Wesen des Menschen.
Heute ist die Vorbildfunktion der Herrschaften besonders in der Wissenschaft notwendig. Sie müssen darauf achten, dass die Gabe der Vernunft im Dienste der Menschlichkeit steht und weder von Biotechnologen noch von Atomphysikern missbraucht wird.
7. Throne
Auf dem himmlischen Thron sitzt Gott. Wenn die Engel nun „Throne“ genannt werden, schwingen zwei Bedeutungen mit: zum einen ihre Nähe zu Gott, zum anderen leuchtet in ihrem Spiegel das Bild des Tragens auf. Throne sind „Gottesträger“, deshalb werden sie auch mit Maria verglichen, die Gottes Sohn in ihrem Leib getragen hat. Die Throne erglühen wie das Morgenrot, sie kündigen die Geburt eines neuen Tages an. Mit dem siebten Chor der Engel kommt die Seele der göttlichen Mitte immer näher. Auch sie soll ja Gottesträger oder Thron Gottes werden.
8. Cherubim
Die Cherubim im achten Chor der Engel symbolisieren eine Spiritualität der vollkommenen Hingabe an die Gottesliebe, die kaum mehr durch einen Blick auf die vergängliche irdische Welt abgelenkt wird. Auf Erden gleichen ihnen die Propheten, Mystiker und alle Menschen, die sich Visionen öffnen und zu träumen wagen. Sie sind eine Feder auf dem Odem Gottes. Cherubim haben sechs Flügel voller Augen. Sie besitzen die Fülle des Wissens, ihr Blick durchdringt alles und schaut auf den Kern der Dinge. Auch wir sollen uns auf dem Weg zur Mitte von keiner Äußerlichkeit ablenken lassen und uns auf das Wesentliche konzentrieren.
9. Seraphim
Das Wesen der Seraphim ist flammende Liebe und glühende Begeisterung für Gott. Seraphim haben die Aufgabe, das Feuer der Gottesliebe zu entfachen. Menschen, die vom Geist der Seraphim durchdrungen sind, werden „seraphisch“ genannt. So war Franz von Assisi (s. dort) ein seraphischer Heiliger. Von einem Seraph erhielt er die Stigmata Jesu. Mit ihrer flammenden Liebe entzünden die Seraphim den Herzensgrund. In der Osternacht geht der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem mit Kerzen in das dunkle heilige Grab. Nach einem Gebet tritt er mit brennenden Kerzen wieder vor die Gemeinde. Es heißt, ein Seraph habe sie entzündet. Seraphim stehen in der Engelhierarchie an erster Stelle. Daran erinnert von ferne der in Schweden verliehene Seraphinenorden mit dem Blauen Band, die höchste Auszeichnung durch das Königshaus.
Hildegard von Bingen, die Nonne vom Kloster Rupertsberg gehört zu den bekanntesten und populärsten Heiligen des Mittelalters. Ihre Bücher über Heilkunst, die Magie der Farben und Edelsteine, über die rechte Ernährung und die Kunst des Fastens sind weit verbreitet. Ihre Musik, die Hymnen und das Seelendrama „Ordo Virtutum“ finden sich auf zahlreichen Tonträgern. Die Engel nehmen in Hildegards (1098-1179) Denken und in ihrer Spiritualität eine zentrale Rolle ein.
Seit ihrer frühen Kindheit hat die Benediktinerin „himmlische Gesichte“. Doch wagt sie nicht darüber zu sprechen. Die Zeit, in der sie lebt, ist von reformerischen Bewegungen geprägt. Ein neuer Geist soll die alte Kirche durchwehen. Viele berufen sich auf Visionen. Doch woher kommen die Gesichte? Sind sie vom Himmel inspiriert oder von der Hölle? Hildegard hat es als Frau doppelt schwer. Sie schweigt, unterdrückt die Stimme des Himmels in ihrer Seele und wird krank. Kein Wunder. Uns geht es nicht anders, wenn wir unsere Träume, Hoffnungen und Visionen nicht leben dürfen.
„Ich weigerte mich zu schreiben. Nicht aus Hartnäckigkeit, sondern aus dem Empfinden meiner Unfähigkeit, wegen der Zweifelsucht, des Achselzuckens und des mannigfachen Geredes der Menschen, bis Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf“, schreibt sie später in ihrem Buch „Scivias“ (Wisse die Wege). Erst 1141 im Alter von 43 Jahren findet sie den Mut, mit ihren Visionen an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch hier erlebt sie Typisches. Das Lebensalter zwischen 35 und 50 Jahren ist eine wichtige Phase des „spirituellen Coming out“. Endlich wächst der Mut, zu den eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu stehen, endlich erstarkt der Wille, wesentlich zu werden! Unter Berufung auf den Propheten Jeremias, den Apostel Paulus und Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, wagt auch Hildegard diejenige zu sein, die sie ist: ein Mensch mit dem großen Reichtum innerer Bilder.
Als Benediktinerin führt Hildegard ein „Engelleben“, wie es der Ordensgründer verlangt hatte. Selbstverständlich kennt sieBenedikts Deutung von Jakobs Traum als Tugendleiter und die klassische Lehre von den neun himmlischen Chören der Engel des Dionysios Areopagita. Hildegard entwirft keine neue Engellehre, sondern durchdringt mit glühender Seele und einer Leidenschaft des Geistes die Welt der Engel, meditiert sie in der Stille und setzt gelegentlich eigene Akzente. Man merkt es ihrer Sprache an. „Heilige Engel! Tiefgeneigt vor der Gottheit, lodernd in Sehnsuchtsgluten!“ – das ist fast eine Selbstbeschreibung. Wenn wir uns auf die Welt der Engel einlassen, dann schwingt unser ganzes Wesen mit. Kein Wunder, denn auch in uns ist das Licht des Himmels verborgen und will leuchten wie ein strahlender Diamant in der innersten Kammer des Herzens. Den Engel erkennen, ist auch ein Wiedererkennen dieses Edelsteines der Seele.
Engel sind Lichtgestalten, sie singen den immerwährenden Lobpreis Gottes, sie sind Spiegel Gottes, geschaffen aus Licht am ersten Schöpfungstag. Sie sind die älteren Geschwister der Menschen, wie Hildegard am Beispiel der Geschichte vom verlorenen Sohn ausführt: Während der Mensch, verkörpert durch den verlorenen Sohn, Gott verlässt und in die Fremde geht, stehen die Engel treu an der Seite ihres Schöpfers. Doch war das nicht immer so. Hildegard fasst den Sturz der Engel so zusammen: „Als Gott sprach: Es werde Licht!, da entstand Licht der Vernunft. Das sind die Engel. Das sind jene Engel, die in Wahrheit Gott die Treue hielten, jene aber auch, die in die äußerste Finsternis ohne alles Licht gefallen waren, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass das wahre Licht, das in Ewigkeit vor allem Ursprung in Klarheit weste, Gott sei, und weil sie etwas Ihm ähnliches ins Werk setzen wollten, dessen Existenz unmöglich war.“ Als Ersatz für die gefallenen Engel schafft Gott den Menschen. Ihm gibt er das Licht, das Lucifer und seine Engel in ihrer Rebellion gegen Gott missbraucht hatten. „So gab Ich den Glanz, der von dem ersten Engel wich, dem Menschen, Adam und seinem Geschlecht“ (Scivias III.1).
Mensch und Engel sind Träger des göttlichen Lichtes. Von ihrer geheimnisvollen Verbundenheit berichtet Hildegard in ihrer berühmten Vision der neun himmlischen Chöre (Scivias I.6). Ihr Gesicht ist zu einem berühmten Meditationsbild geworden: Sie sieht die Engel das Geheimnis der göttlichen Mitte umkreisen und dabei in vielstimmiger Weise singen. Das Thema ihres Gesanges sind die Wunder, die Gott durch sie in den Seelen der Menschen wirkt. Hildegards Engel sind Widerhall, Resonanz und Spiegel von Gottes Werk. Ihr Dienst ist eine „Rückmeldung“ von der Erde. Wenn sie die guten Taten der Menschen melden, dann verherrlichen sie damit Gott, denn er ist der Urheber alles Guten. Der vielstimmige Engelgesang ist ein Abbild der Harmonie, die nach Gottes Willen die gesamte Welt durchwalten soll.
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Der Chor tritt bald auf
*
"Tanze, du Erde, vor dem Antlitz des Gottes Jakobs."
(GL 63.1)
*
"Quid beatius esse potest,
quam in terra tripudium Angelorum imitari!"
Basilius der Große an Greogor von Nazianz (I.2)
*
Motette Nr. 77 aus dem Codex Chantilly:
Angelorum psalat tripudium
"Angelorum psalat tripudium
musicorum pandens armoniam
orpheycam plectens sinphoniam
procul pellens Vanum fastidium
qui operum fuit inicium
delictorum frangens constanciam
duplicatum ostendens animum
pomum prebens Cunctis letiferum
Ista gerit vices luciferi
que principi suppremo voluit
coequa(r)li set tandem corruit
In profundum abissi Inferi(ri)
Pestifera in qua superbia
Ingrata es Deo et homini
in retro mordens ut fera Pessima
ante blandis ut faus Innocui"
*
tripudium ist ein Tanzschritt
*
"Fröhlich soll mein Herze springen (=tanzen)
dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen.
Hört, hört wie mit vollen Chören
alle Luft laute ruft:
Christus ist geboren!"
Paul Gerhardt
*
"Die himmlische Liturgie ragt direkt in die irdische hinein.
Das Göttliche wird in den Kreis der versammelten Gemeinde herabgezogen,
Christus ist in einer Epiphanie zugegen,
die der Fromme 'sieht' und 'hört'."
Reinhold Hammerstein. Die Musik der Engel.
Francke Verlag. Bern und München 1962. S. 30
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Collage Adobe Stock. Tagespost von 15. Juli 2021
Der Artikel erschien zuerst in der Tagespost:
https://www.die-tagespost.de/autoren/uwe-wolff/
*
"Zugleich wird ein heiliger Papst auftreten,
nicht von Kardinälen gewählt,
sondern von Gott gesandt..."
Friedrich Baethgen. Der Engelpapst. Max Niemeyer. Halle 1933. S. 90
Früher sah die Gemeinde im Priester den engelgleichen Mann. Heute wissen wir, dass Idealisierungen den Blick trüben können. Priester sind keine Engel. Sie haben nicht nur kleine menschliche Schwächen, sondern können abgrundtief fallen. Wie übrigens auch die „Gottessöhne“ (Gen 6.1-2), die sich an den „Menschentöchtern“ vergingen, oder jene Männer von Sodom, die den Engeln nachstellten (Gen 19.5). Die Bibel verschweigt das Abgründige nicht . Es markiert den Abstand vom Ideal, widerlegt jedoch nicht seine Gültigkeit. Benedikt von Nursia hatte vom engelgleichen Leben in dienender Liebe gesprochen.
Die Rede vom Engelpapst oder Pastor bonus nimmt dieses Ideal auf und beschreibt mit ihm eine ökumenische Hoffnung auf Heil und Heilung der zerspaltenen Christenheit, ihre Versöhnung mit den Geschwisterreligionen und darüber hinaus mit allen Menschen, die bisher Gott nicht kannten oder in ihrem Leben nicht vermissten. Die träumerische Sehnsucht vom Kommen des Pastor angelicus „gehört zu dem Heimlichsten und Zartesten katholischer Frömmigkeit, und so gut wie niemand redet von ihr; denn nur wenige katholische Fromme schauen das Papsttum in seinem erschreckenden Abstand von Jesu Ideal und bleiben ihm gleichwohl in Treue und Liebe ergeben.“
So schreibt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967) in seinem Werk „Der Katholizismus“ (1923) und entwirft ein Traumbild von dem engelgleichen Papst der Zukunft. Dieser Papa angelico werde ein Sohn des heiligen Franz sein, werde nicht im apostolischen Palast wohnen, die Huldigungen der Kardinäle und Prälaten verschmähen, werde Buße tun für die unzähligen Sünden seiner Vorgänger und vom Primat der dienenden Liebe in Demut sprechen. Den getrennten Brüdern der lutherischen und reformierten Kirchen, den Schwesterkirchen im Osten wird er die Hand zur Rückkehr reichen. Im Zeichen der Liebe sollen die verlorenen Söhne und Töchter wieder in den Schoß der una sancta ecclesia heimkehren. Dieser Engelpapst wird versöhnen statt spalten, er wird nicht ausgrenzen, sondern integrieren: Die unter dem Primat Roms stehende versöhnte Christenheit muss ihre eigenen Traditionen, ihre Überlieferungen und Sitten in dieser Einheit in der Vielfalt der Stimmen nicht preisgeben.
Wie aber werden sich die alten und neuen Ketzer und Kirchenkritiker verhalten? Friedrich Heiler engagierte sich in der Una-Sancta-Bewegung und war optimistisch, dass alle synodalen Wege letztlich wieder nach Rom führen werden. Er glaubte an eine Allversöhnung. Gerade die hartnäckigsten Kritiker werden die Knie beugen. Nicht vor der Macht, nicht vor der Gewalt, nicht aus Furcht und Zittern, sondern vor der Evidenz der Erscheinung des Engelpapstes. So ist Heiler zuversichtlich:
„Gerade jene, welche seit Jahrhunderten die Papstkirche leidenschaftlich befehdet hatten, werden nun ihre eifrigsten und treuesten Glieder. Die alten ‚Häresien‘ und ‚Schismen‘ verschwinden; Orientalen und Anglikaner, Lutheraner und Calvinisten, Sektierer und Spiritualisten - alle beugen sich diesem neuen Papst, der zu ihnen kommt, nicht um über sie zu herrschen, sondern um ihnen zu dienen. Sie bleiben, was sie sind; sie behalten ihre Kultformen und Einrichtungen und hüten das besondere Charisma, das ihnen zuteil geworden ist. Aber sie stehen fortan nicht mehr getrennt von der ecclesia universalis, sondern sind vereint mit ihr und schöpfen aus ihrem Lebensreichtum und ihrer Gnadenfülle. Eine una sancta ersteht, wie sie die Welt nicht mehr gesehen seit den Anfängen der Christenheit, ja, noch größer und reicher und wunderbarer als die una sancta der ersten christlichen Jahrzehnte.“
Der Papa angelico besiegelt die Liebeseinheit der Kirche. Er dient in den Kathedralen des Abendlandes, feiert die Eucharistie in den Ostkirchen, „er bricht das eucharistische Brot an den schmucklosen Tischen evangelischer Puritaner und reicht den eucharistischen Kelch an den Altären der evangelischen Hochkirchen.“
Visionen fallen nicht nur vom Himmel. Sie erzählen von den Sehnsüchten frommer Seelen in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Wenn das Amt versagt, ist die Stunde der Seher und Reformer gekommen. In der langen Sedisvakanz nach dem Tod Clemens IV. (1200-1268) zirkulierte unter den Kardinälen im Konklave die Weissagung: der neue Papst werde der Welt Frieden schenken, Jerusalem erobern und das Heilige Grab von den Ungläubigen befreien. Er werde die Kranken heilen und die Verlorenen suchen. Der Sittenverderbnis unter den Klerikern werde er ein Ende bereiten und die gespaltene Kirche wieder zur Einheit führen.
In der Zeit der Kreuzzüge entstand der Traum von einer weltweitenden Ökumene. Er übernahm Erzählmuster der Kaisersage von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa und steigerte sie zu einer ökologischen Utopie. Unter dem Engelpapst werde der Mensch wieder achtsam mit der Natur umgehen, dem Wolf die Hand zur Versöhnung reichen, den Vögeln predigen und mit den Muslimen einen interreligiösen Dialog führen. Roger Bacon (1220-1292), als Franziskaner und „Doctor mirabilis“ hoch verehrt, verschwieg aber nicht die Grenzen der Integration:
„Und um der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Papstes willen wird es geschehen, dass die Griechen zum Gehorsam der römischen Kirche zurückkehren, die Tataren in ihrer Mehrzahl zum Glauben bekehrt und die Sarazenen vernichtet werden. Und es wird sein ein Hirt und eine Herde.“
Vier Jahre dauerte es, bis ein neuer Papst gewählt werden konnte. Er kam von weit her, war nicht einmal Priester und herrschte als Gregor X. (1210-1276) unter einem großen Namen. Aber er war nicht der Engelpapst. Der lebte von der Spiritualität der Franziskaner genährt weiter im Verborgenen eines kommenden dritten Reiches.
Als der Historiker Friedrich Baethgen (1890-1972) auf Einladung der Königsberger gelehrten Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag über die Utopie des Engelpapstes hielt, hatte das Geschichtsbild des Joachim von Fiore eine unheilvolle Aktualität bekommen. Der Königsberger Ordinarius glaubte nicht wie Lessing in „Erziehung des Menschengeschlechtes“ an ein kommendes drittes Zeitalter. Im Gegensatz zu Friedrich Heiler vertraute er auch nicht auf die Allmacht der Liebe.
„Der Gedanke, ein Papsttum ausschließlich auf die moralischen Fundamente reiner und geläuterter Menschlichkeit zu gründen, stand nicht nur in unversöhnbarem Gegensatz zu den Grundtendenzen der Entwicklung, die diese Institution in einer jahrhundertelangen Geschichte durchlaufen hatte, sondern widersprach auch den allgemeinen Bedingungen und Notwendigkeiten, von denen keine religiöse Organisation sich auf die Länge zu emanzipieren vermag.“
Zum Marburger Kreis um Friedrich Heiler gehörte auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003). Sie teilte mit ihm das Ideal einer „Evangelischen Katholizität“ und den ökumenischen Blick einer Liebesmystik, der weit über die Grenzen des Christentums hinausführte. Der Katholik Heiler hatte unter Nathan Söderblom am lutherischen Abendmahl teilgenommen und später die Bischofsweihe in der gallikanischen Sukzession empfangen, weshalb er mit Griechen und Russen in Marburg die orthodoxe Osternacht feiern konnte. Jeden Sonntag zelebrierte er in seiner Hauskapelle die Evangelische Messe, über deren Atmosphäre Annemarie Schimmel in ihrer Autobiographie berichtet:
„Treue Freunde nahmen daran teil, und später saß auch das Hündchen Mitra und dessen Nachfolger, der schwarze Laqit, ‚Findelkind‘, still in der Kapelle. Ich stenographierte oft die Predigten mit und wußte, wenn der Satz ‚Gott ist Liebe‘ kam war die Predigt bald zu Ende. Es waren schöne Stunden, in denen die für Heiler typische Verbindung von Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit deutlich wurde.“
Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit hat religiöse Seelen zu jeder Zeit tief bewegt. Er wühlte auch Søren Kierkegaard auf und trieb ihn zu seinen scharfen Angriffen gegen die dänische Volkskirche. Dänemark kennt ebenfalls die Gestalt des verborgenen Retters. Der keltische König Artus ruht im Feenreich von Avalon, bis seine Zeit gekommen ist. Holger Danske schläft sitzend und mit dem Schwert in der Hand in den Kasematten von Hamlets Schloss Kronborg. Niemand kennt den Tag seines Erwachens. Aber die Sage weiß, dass es eine Stunde höchster Not und Bedrohung des dänischen Volkes sein wird. Dann wird sich Holger Danske erheben. Solche nationalen Träume kann sich Deutschland nicht mehr leisten, wohl aber die russische orthodoxe Kirche. Sie versteht sich als drittes Rom. Doch in den Augen ihrer Kritiker ist sie nicht das „heilige Russland“ und „heilige russische Imperium“ („Svjatoruskaja zemlja“), das Philotheos von Pskov schaute. Die russisch orthodoxe Kirche war seit Peter I. bis zur Revolution eine Staatskirche. Heute ist sie es wohl wieder, wenngleich es keinen Zaren mehr gibt. Doch ist die Figur eines endzeitlichen „weißen Zaren“ nie aus dem Bewusstsein der Frommen verschwunden.
Im Westen erwacht der Traum vom Engelpapst mit der ökumenischen Bewegung und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie Friedrich Heiler wollten viele Menschen in Johannes XXIII. den Engelpapst sehen. Heute wissen wir, er war es nicht. Die Idee des Engelpapstes integriert auch Motive des Messianismus’. Die Ankunft des Messias wird wie die Parusie Christi nicht durch Konzilsbeschlüsse eingeläutet. Sie kommt wie der Dieb in der Nacht.
Ob Papst Franziskus mit seiner Namenswahl und seiner Schwerpunktsetzung von der Idee eines Engelpapstes inspiriert worden ist, werden künftige Historiker herausfinden. Unsere Zeit fühlt sich von Endzeitängsten in apokalyptischer Dimension bedroht. Aber sie reagiert nicht mehr wie die franziskanische Bewegung mit Buße und Umkehr zu Gott. Ihre Utopien reichen nicht über den Horizont der Wirklichkeit hinaus. Deshalb kann sie nicht mehr vergeben und duldet in anderen die Schwäche nicht, die sie insgeheim in sich selbstverabscheut. Daher die Angst und die Gier. Von Mystik keine Spur und auch keine Erwartung kommenden Heils. Der Engelpapst bleibt im Verborgenen. Hier aber ist er vielleicht gegenwärtiger als in der sichtbaren Welt. Einen Engel erkennt man erst, wenn er vorübergegangen ist. So wird es auch mit dem Erscheinen des Engelpapstes sein.
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"Ja, husk kun på mig I danske folk!
behold mig i tanke! jeg kommer i nødens time!“
Holger Danske
Et eventyr af Hans Christian Andersen
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Gesehen im Ikea-Museum Älmhult (2017)
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"Das Problem der Konversion ist das der Wiedergeburt,
ja der Heilsgeschichte selbst,
und man könnte sagen,
dass in Christus die Menschheit zu Gott konvertiert und zum Paradiese."
Hugo Ball
Mit angehaltenem Atem - Epiphanie 1959:
Kindergarten St. Ida - Münster Gremmendorf
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"Mit einem Wort:
die Konversion ist nur eine Episode
in einem meist bis zur Kindheit zurückführenden Ablauf."
Hugo Ball
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"Wer sich dann der katholischen Kirche zuwendet, der wird nicht das laute Gespräch suchen (...).
Argumente des Aggiornamento führen lediglich in die Wüsten des Dazwischen.
Die wenigen, die Gott erfahren haben, haben das nicht nötig.
Sie werden die elegante Lösung wählen: It's all instinctive."
Christian Heidrich. Geistiges Entzücken. Über Konversionen und Konvertiten.
In: Sinn und Form. Januar/Februar 2000
Die Fünfziger Jahre, in die meine Generation geboren wurde, kannten noch ein starkes katholisches Profil und ein Leben in jener Gewissheit, die unwiederbringlich verloren scheint:
"Katholisch bin und bleibe ich,
nichts soll mich von der Kirche reißen ...
Die wahre Lehr' ist allgemein,
sie bleibt sich gleich zu allen Zeiten;
nicht wankend kann die Wahrheit sein,
es irren die, die sie bestreiten."
Einige erfüllt diese Heilsgewissheit im Rückblick mit Wut, andere mit Wehmut. Als Kind aus einer „Mischehe“ nahm ich sie mit Faszination und zugleich einem Gefühl des Ausgeschlossenseins wahr. Erhebend waren die Gebete mit Tante Anneliese zum Schutzengel im Katholischen Kindergarten St. Ida. Geheimnisvoll das rot leuchtende Ewige Licht im Halbdunkel der Kirche und die Kreuzwegstationen an den Wänden. Gefährlich der Gang in die Nachbarstraße. Dort wohnten die Katholiken. Sie verteidigten ihr Revier gegen uns Kinder aus der evangelischen Straße, besonders wenn zu Fronleichnam der Straßenaltar aufgebaut wurde. Unter ihnen war nicht nur beim Schmücken des Altars das Leben aus der eucharistischen Mitte spürbar, die wir nicht besaßen. Sie waren durch das Messopfer gestärkt und zugleich gestählt durch die Freizeiten der St. Georgs-Pfadfinder, sie zeigten Flagge bei den Prozessionen zur Muttergottes von Telgte, gingen jeden Sonntag als Familie zur Heiligen Messe und beugten die Knie vor dem Lamm Gottes, das hinwegnimmt ihre Sünden. Diese Welt ist längst untergegangen:
"Gott Dank, dass ich katholisch bin
und stets geschützt vor falschen Lehren;
katholisch sein ist mein Gewinn.
nie soll der Irrtum mich betören;
katholisch bin und heiße ich,
katholisch leb' und sterbe ich;
so werd' ich nicht verderben:
katholisch ist gut sterben."
In meiner Familie besuchte nur die katholische Großmutter die Vorabendmesse. Evangelisch getauft und konfirmiert ging ich wie Oma Selma(1899-2004) allein in den Gottesdienst, leitete später Kindergottesdienste und leistete den Zivildienst im Synodalen Jugendpfarramt. Im Studium der Evangelischen Theologie für das höhere Lehramt erlebte ich ab 1975 eine Welt ohne Geschichte. Wären nicht Lehrer wie Friedrich Ohly gewesen, ich hätte von dem Reichtum der Tradition wenig erfahren. Zwischen Bibel, Luther und Karl Barth lagen Wüstungen. Feinkörnig wie Sand war auch die Auslegung des Neuen Testaments durch Rudolf Bultmanns Epigonen. Was am Ende von der Heiligen Schrift übrig bliebt, war ein wenig Wüstenstaub an den Fingern.
So musste ich mich in meiner Identität als junger Lehrer und bald Ausbilder von Religionslehrern auf ein anderes Fundament stellen. Ich suchte nach erfahrungsbezogenen Zugängen zu Bibel, Gesangbuch und Kirchengeschichte, die sich bald als Schwerpunkte meiner Didaktik herausstellten. An Erzählungen von Engeln und Heiligen interessierte mich das in ihnen verborgene biographische Zeugnis vom Wunder des Glaubens. So stieß ich auf der Suche nach Orientierung auf Rudolf Ottos Buch "Das Heilige" (1917). Otto hatte am Gymnasium Andreanum die Reifeprüfung abgelegt. Nun unterrichtete ich an dieser Anstalt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Michaeliskirche des Heiligen Bernward.
Auch Hans Urs von Balthasars „Theodramatik“ und „Große Heilige“ von Walter Nigg schenkten mir Orientierung. Der reformierte Pfarrer einer kleinen Gemeinde bei Zürich hatte mit seinen Büchern über die Heiligen ein katholisches Publikum erreicht, das nun sein Erbe fern des Glanzes alter legendarischer Vergoldung sehen lernte. Walter Nigg moralisierte nicht, wie es heute wieder kirchlicher Brauch geworden ist, sondern erzählte auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen von den Labyrinthwegen des Herzens. So wurde Hagiografie zum Spiegel biografischer Selbsterkenntnis.
Bei Herder hatte ich Bücher über Engel, Heilige und die großen Symbole des Christentums veröffentlicht. Ich hielt Vorträge in Gemeinden, Kindergärten, Schulen, Akademien. 1995 lud mich Barbara Hallensleben zu dem Engelsymposion „Un ange passe…“ nach Fribourg ein und ermutigte mich, die Biografie Walter Niggs zu schreiben. Mit ihr wurde ich an der Katholischen Fakultät zum Doktor der Heiligen Theologie („Sacrae Theologiae Doctor“), wie es auf der lateinischen Urkunde hieß, promoviert.
Die Schülerin Erwin Iserlohs („Der Thesenanschlag fand nicht statt!“) ist Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene. Papst Franziskus berief sie unlängst in die Studienkommission zur Überprüfung einer Zulassung von Frauen zur Diakoninnenweihe. In Fribourg erlebte ich die geistige Weite und Vielfalt einer katholischen Theologie mit ökumenischem Horizont, die vor allen Dingen auch die Kirchen des Ostens in den Blick nimmt.
Wenn Engel lachen: Vom Konvertiten zum norwegischen Bischof -
Erik Varden in himmlischer Schwingung mit Sr. Monica Lawry OSB
im Kloster Marienrode/Hildesheim (2020).
Hier seine homepage:
Ich folgte der Einladung, in den Klöstern Mariastein, Einsiedeln und Engelberg Exerzitien zu halten, lernte wunderbare Ordensleute kennen, durfte ihr Engelleben im Stundengebet und in der Schönheit der Liturgie teilen. An der Seite von Pater Franz OFM begab ich mich auf Pilgerreise nach Assisi und hörte auf dem La Verna die Lauretanische Litanei. Bei meinem Besuch im Kloster Einsiedeln (1996) schenkte mir Martin Werlen OSB die Regel seines Ordens. Ich bat um eine Widmung. Ja, was solle er schreiben? Das vielleicht wichtigste Wort des Heiligen Benedikt aus seiner Regel! Der Novizenmeister und Schulmeister überlegte, nahm das Buch wieder an sich und schrieb: "si revera Deum quaerit".
Hinter dem Schleier liegt das Geheimnis:
Eine Replik von Sr. M Ruth Nussbaumer OCist.
Im Kloster Engelberg hielt ich 1994 Vorträge für die
Novizenmeisterinnen und -meister des Zisterzienser- und Benedikterordens.
Vor einem Austritt aus meiner Kirche scheute ich zurück. Ich habe das evangelische Kirchenlied - auch als Erbe meiner Mutter - immer geliebt, allen voran die vielstrophigen Gesänge Paul Gerhardts und Gerhard Tersteegens. Unzählige Male habe ich meinen Kindern „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Weißt du, wieviel Sternlein stehen?“ zum Einschlafen vorgesungen. Es gibt nichts Vergleichbares in meiner Muttersprache. Konnte ich nicht in der evangelischen Kirche katholisch sein? Seit Friedrich Heiler haben evangelische Pfarrer versucht, eine evangelische Katholizität in apostolischer Sukzession nach dem Vorbild der schwedischen Staatskirche zu leben. Einige von ihnen haben sich als Mitglieder einer Bruderschaft sogar zum Priester weihen lassen. In den meisten Fällen geschah dies, ohne dass der Kirchenvorstand davon erfuhr. Es gibt viel heimliche Weisheit und katholische Sehnsucht unter den evangelischem Pfarrern, aber noch mehr Angst vor Überfremdung unter den Gemeindemitgliedern. Evangelische Identität besteht oftmals aus reiner Abgrenzung gegenüber der katholischen Tradition. In der evangelischen Kirche kann man nicht katholisch sein. Man muss den Sprung in die Mitte wagen, gerade jetzt, wo die Altäre immer mehr verhüllt werden und der Mundbinde mehr zugetraut wird als der Eucharistie. Wir erleben „Die sterbende Kirche“ (1936), die Edzard Schaper in einem Roman beschrieben hat, aber auch den „Letzten Advent“ (1953), den ein Anschlussroman eröffnet. Die Kirche findet zu ihren Ursprüngen zurück und wird daran gesunden.
In einer Zeit der großen Wende gründete Benedikt von Nursia ein Kloster und stellte das Leben der Mönche in eine feste Ordnung, in demselben Jahr 529, als die Akademie Platons als höchstes Symbol der Weisheit dieser Welt geschlossen wurde. Benedikts Schule des Glaubens diente nicht nur der Stabilisierung des Einzelnen, sondern war als Kulturstiftung auch die Bewahrung einer von Auflösung bedrohten Tradition. Ich meine etwas von diesem Geist zu spüren, wenn ich die Heilige Messe mitfeiere. Hier wird eine Ordnung erfahrbar, die weltweit gilt und trägt. Im Messopfer wird die Mitte des Glaubens erfahrbar: Gottes Gegenwart. Hier beugen Menschen die Knie vor dem Geheimnis des Glaubens. Hier erfahren sie Vergebung und Befreiung. Christus spricht nur ein Wort, und die Seele wird gesund.
Pfarrer Thomas Blumenberg
vor der Messe in St. Cosmas und Damian/Gross Düngen
Zu den geheimnisvollen Fügungen auf dem Weg zur Mitte gehörte schließlich die Begegnung mit Pfarrer Thomas Blumenberg von St. Gallus in Detfurth. Ich wusste seit Jahren, dass in seiner Kirche einige der Vorfahren meines Lehrers getauft und gefirmt worden waren. Mir war auch bekannt, dass der Priester und der Philosoph entfernt miteinander verwandt waren. Aber erst meine Arbeit an der Biographie Hans Blumenbergs führte mich in die Messe dieses Pfarrers. Da fühlte ich: Hier gehörst du hin. So kam ich an, wo ich schon immer gewesen war.
*
"Wir haben gesagt, dass der Konvertit in vieler Hinsicht der Erbe der Vergangenheit ist,
die positiv christlich zu werten ist. Das bedeutet aber:
Der Konvertit soll dieses Erbe in das gemeinsame Vaterhaus mitbringen,
da dadurch die Kirche reicher werden kann an christlichen Verwirklichungen.
Man sollte es den Konvertiten anmerken, dass sie evangelisch waren.
Sie sollen ihr Erbe nicht bloß als Vergangenes, sondern als Auftrag an die neue Kirche betrachten."
Karl Rahner. Über Konversionen (1953). In: Sämtliche Werke. Band 14. S. 33.
*
St. Gallus-Kirche in Detfurth,
einst Mutter- oder Archidiakonatskirche des Flenithigaus.
Gallarus Oratory, Dingle, County Kerry (2000)
Petersdom, Vatikan (2008)
*
"In der Liturgie begegnet mir der äusserste Anspruch.
Jede Kommunion ist ein dem Tod ins Auge Sehen.
In der heiligen Messe stehen wir lebendig in der umfassendsten Gemeinschaft, die es gibt:
Leben und Tod,
Erde und Himmel,
Leib und Seele
werden hier nicht durch Gedanken oder Vorstellungen in enge Verbindung gesetzt,
sondern sind in ihrem Wesen und Tun verbunden.
(...)
Liturgie ist Herausforderung unserer Anbetung
und Annahme dieser Herausforderung.
Wer begriffen hat,
was hier geschieht,
kann sich nicht mehr mit der gelegentlichen Teilnahme begnügen."
John Hennig. Die bleibende Statt (Autobiographie) S. 192
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Erntedankfest 2020
Mariae Lichtmess 2. Februar 2021
Palmsonntag, 28. März 2021
Wasser des Lebens:
Osternacht
Fronleichnam 2021
Pfarrer Thomas Blumenberg und Diakon Dr. Christopher McDonald
Herz Jesu Altar im Pfarrgarten
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Auch Kirchengebäude bedürfen der Pflege:
Vorbereitung der Gedenkmesse zum 77. Todestag von Pfarrer Joseph Müller
(St. Cosmas und Damian - Groß Düngen, 11. September 2021)
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Mein erstes Jahr in St. Gallus
Ich suche einen Platz in der letzten Bank. Zwar bin ich Doktor der katholischen Theologie und habe viele Bücher über Engel und Heilige geschrieben, aber in der liturgischen Praxis bin ich ein grüner Junge. Undine hatte die beiden Sakramente schon als Kind empfangen. Von Pastor Kemming erhielt sie die erste heilige Kommunion und einen guten Schwimmunterricht. Bischof +Heinrich Maria Jansen firmte sie.
Für Konvertiten ist der Platz unter der Orgelempore bestens geeignet, um mit der Vielfalt liturgischer Abläufe vertrauter zu werden. Hier erlebe ich Schönheit der Anbetung und kann mich in die Gesten einschwingen: Die Verbeugung vor dem Allerheiligsten, die Bekreuzigung von Stirn, Mund und Herz. Sie erklärt sich selbst als Symbol des ganzen Menschen mit Denken, Sprechen und Glauben. Niemand muss mir das große Kreuz erklären. Da erscheint in der Bewegung zwischen Vertikale und Horizontale der Mensch - ausgespannt zwischen Himmel und Erde. Das Kreuz ist uns auf den Leib geschrieben. Die weit ausgebreiteten Arme des Priesters und das anschließende Kreuzzeichen durchdringen das Kirchenschiff bis zur letzten Bank mit dem Segen des Himmels.
Welche Vielfalt der Hingabe sehe ich: Einer kniet in aufrechter Haltung des Oberkörpers, ohne sich mit den Händen abzustützen. Schmerzen ihm nicht die Gelenke? Ein anderer bleibt sitzen. Vielleicht hat er ein Gebrechen. Vielleicht braucht er heute diese Bodenhaftung. Das bleibt sein Geheimnis. Die Körpersprache ist auch eine stumme Predigt: Ein vom hohen Alter gebeugter Mann betet noch immer auf ein Knie gestützt. Denn hier in der Kirche ist Gott gegenwärtig und will uns dienen. Gottesdienst ist auch der Dienst, den Gott dem Menschen in Christus erweist. Diese Nähe hält nicht jeder aus.
Die Gesten der Hingabe berühren und bewegen mich. Sie bezeugen die angemessene Haltung, wenn Gott gegenwärtig ist. „Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge“ (GL 387. 1), dichtete Gerhard Tersteegen. Das Beugen von Knie und Haupt ist Ausdruck einer inneren Haltung. Wir beugen die Knie des Herzens vor Gott.
Wandlung und Umkehr: In einer langen Reihe bewegt sich die Gemeinde zum Altar, um die heilige Kommunion aus der Hand von Pfarrer Blumenberg zu empfangen. In dieser frühen Morgenstunde ist er weder Gärtner noch Camper, sondern Christus selbst. Eine Frau geht auf die Knie, bevor sie sich die Hostie in ein schneeweißes Taschentuch legen lässt, mit dem sie ihre Hände verhüllt hat. Auf den Bildern der Anbetung haben Gottes Engel diese velierten Hände.
Am Wohlgeruch des Weihrauchs sparen die Messdiener nicht. In dichten Wolken steigt er unter die Kuppel mit den Chören der Engel. Manchmal dringt ein früher Sonnenstrahl durch eines der Fenster und macht das Opfer auch für die Augen sichtbar. Ich sehe und fühle: Wir sind sichtbarer Teil einer unsichtbaren, Himmel und Erde umspannenden Kirche. Sonntagmorgen um 9.00 Uhr versammelt sich in St. Gallus der pilgernde Teil der Kirche. Aber unter uns sind die lieben Verstorbenen anwesend, deren Leiber draußen vor der Kirchentür auf dem Friedhof bestattet wurden. Die Toten sind nicht tot. Sie warten wie wir auf die letzte Wandlung und Vollendung. Vor der Muttergottes können Lichter für die Verstorbenen gestiftet werden. Meine Großmutter versäumte nie eine Vorabendmesse und noch im Alter von 103 Jahren machte sie auf den Rollator gestützt einen leichten Knicks vor dem Allerheiligsten, wie sie es als Kommunionkind in Breslau gelernt hatte.
„Gott ist gegenwärtig, dem die Kerubinen Tag und Nacht gebücket dienen.“ (GL 387. 2) Wir feiern mit ihnen das Messopfer, den Seraphinen, Kerubinen und den Schutzengeln. Wir loben, preisen und beten an. Zwei kleine Messdienerinnen symbolisieren die Gegenwart der Engel. Was wäre dieser Sonntagvormittag in St. Gallus ohne sie und alle anderen, die am Altar dienen? Was wäre die frühe Morgenstunde ohne den Herrn im Messgewand, der uns an der Kirchentür in Empfang nimmt? Den Bruder Musikus an der Orgel, die Frauen am Lesepult, die Vorsängerinnen und alle anderen, die still und unerkannt im Hintergrund wirken? Was wäre sie ohne einen kunstsinnigen Pfarrer und Meister des Erzählens, der von „der schönen Gärten Zier“ (GL 865.1) sprechen kann und der „Maienkönigin“ (GL 896.1) Maria und dem heiligen Joseph, der Altes und Neues Testament mit der Geschichte der Kirche zu verknüpfen weiß; der als Seelsorger Mut zu einer eigenen Meinung hat und ein klares Wort der Unterscheidung nicht scheut, der mutig gegen den Strom schwimmt, wenn es das anvertraute Erbe zu bewahren gilt.
Ich sehe, was ich selten gesehen habe: Blumen einer üppigen Fülle und Schönheit des kirchlichen Lebens. Ihr Höhepunkt sind die Feste im Jahreslauf. Erntedank: Der Korb mit Äpfeln und Birnen vor dem Altar ist übervoll. Gesegnetes Obst schmeckt eindeutig besser. An Maria Lichtmess geweihte Kerzen leuchten daheim eindeutig wärmer. Die opulente Krippenlandschaft zu Weihnachten erzählt von der Gottesgeburt, die sich immer wieder in der Krippe des Herzens ereignet. Geburt, Tod und Auferstehung bilden eine Einheit. An Palmsonntag binde ich bunte Bänder in zwei Puschel mit dichtem Buchsbaum. Osterwasser nicht aus dem Apenteich in Winzenburg, sondern direkt von der Quelle des Lebens. Dann die erste heilige Kommunion. Mädchen in weißen Engelkleidern, Bräute Christi wie mancher Haarschmuck und weiße Kleider andeuten. Sie widersagen vor der Gemeinde dem Teufel und bekennen sich zu dem dreieinigen Gott. Auch die durchgestylten Jungen. Einige haben sich in die Stoppelhaare an den Schläfen Muster rasieren lassen. Über dem Herzens aber tragen sie eine weiße Weste, und in großer Stille und Würde beugen auch sie ihre Knie. Um die Zukunft dieser Kinder ist mir nicht bange. Denn das Sakrament ist ein unauslöschliches Siegel („character indelebilis“). Eltern und Großeltern, Patentanten und -onkel dürfen gelassen sein, falls die Stürme der Pubertät toben.
Es ist der Marienmonat Mai. Pfarrer Blumenberg trägt seinen Namen zurecht. Er hat den Marienaltar in St. Gallus wunderbar mit Blumen geschmückt. Nach der Messe gehen er und die Messdiener zu diesem Seitenaltar. Die Gemeinde singt ein Marienlied. Viele Lieder kenne ich, weil sie von evangelischen Dichtern wie Paul Gerhardt oder Gerhard Tersteegen stammen. Andere werde ich noch lernen. Konversion bleibt ein Pilgerweg.
Draußen im Pfarrgarten feiern wir Fronleichnam. Vielleicht das katholischste aller katholischen Feste. Eine Prozession zum Herz-Jesu-Altar schließt sich an. Die Litanei beginnt. Sie schenkt einen langen Atem wie das Rosenkranz-Gebet in der Schönstatt Kapelle. Dieses Kleinod auf dem Hügel habe ich zu jeder Jahreszeit besucht, Kerzen geopfert und zur Muttergottes mit dem Jesuskind aufgeschaut. „Servus mariae nunquam peribit“ lese ich „Wer Maria dient, kann niemals verlorengehen“. Wer braucht mehr Beistand?
Früher wurden Konvertiten noch einmal getauft. Heute wird die evangelische Taufe anerkannt. Doch ein Ehesakrament und eine Firmung kennt die evangelische Kirche nicht. Die katholische Kirche bietet in ihren Gesetzen die Möglichkeit einer Anerkennung (gemäß cann. 1161 und 1165 § 2 CIC) einer evangelisch geschlossenen Ehe. Das Verfahren hat den gefährlich klingenden Namen „Sanatio in radice“ und bedeutet „Heilung bis in die Wurzel“. Unsere „Wurzelbehandlung“ durch Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ brauchte keine Betäubung und war völlig schmerzlos. Die von Pastor Klaus-Daniel Serke in Bad Salzdetfurth geschlossene Ehe wurde als katholisch anerkannt. So geht Ökumene!
Firmung durch Bischof + Heiner Wilmer
am 18. Juni 2021
Ein Gespräch mit dem Bischof von Hildesheim aus dem Zoë Magazin
a title="Gespräch Bischof Heiner Wilmer Zoe Magazin"""https://zoe-magazin.de/2019/04/09/22-fragen-an-bischof-heiner-wilmer-scj/
Nun stand die Firmung noch aus. Bei Konvertiten firmt in der Regel der Pfarrer. Zuerst war eine kleine Feier mit der Gemeinde geplant. Dann aber kam die Zeit der Masken. Sie wollte kein Ende nehmen. Da bot sich nach Pfingsten 2021 die Möglichkeit einer Firmung in der Privatkapelle des Bischofs. Ein Zeitfenster in seinem übervollen Terminkalender hatte sich auf wunderbare Weise geöffnet.
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„Die Aufgabe jeder Kirche wird es vielmehr sein,
ganz das zu sein oder zu werden, was sie bestimmungsgemäß sein sollte.“
Kurt Aland. „Über den Glaubenswechsel in der Geschichte des Christentums“ (1961)
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