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Der Engelpapst

Details
Uwe Wolff
Die Vergessenen
09. März 2021
Zugriffe: 1648

 

Collage Adobe Stock. Tagespost von 15. Juli 2021

Der Artikel erschien zuerst in der Tagespost:

 

https://www.die-tagespost.de/autoren/uwe-wolff/

 

*

 

"Zugleich wird ein heiliger Papst auftreten,

nicht von Kardinälen gewählt,

sondern von Gott gesandt..."

 

Friedrich Baethgen. Der Engelpapst. Max Niemeyer. Halle 1933. S. 90

 

 

Früher sah die Gemeinde im Priester den engelgleichen Mann. Heute wissen wir, dass Idealisierungen den Blick trüben können. Priester sind keine Engel. Sie haben nicht nur kleine menschliche Schwächen, sondern können abgrundtief fallen. Wie übrigens auch die „Gottessöhne“ (Gen 6.1-2), die sich an den „Menschentöchtern“ vergingen, oder jene Männer von Sodom, die den Engeln nachstellten (Gen 19.5). Die Bibel verschweigt das Abgründige nicht . Es markiert den Abstand vom Ideal, widerlegt jedoch nicht seine Gültigkeit. Benedikt von Nursia hatte vom engelgleichen Leben in dienender Liebe gesprochen.

 

Die Rede vom Engelpapst oder Pastor bonus nimmt dieses Ideal auf und beschreibt mit ihm eine ökumenische Hoffnung auf Heil und Heilung der zerspaltenen Christenheit, ihre Versöhnung mit den Geschwisterreligionen und darüber hinaus mit allen Menschen, die bisher Gott nicht kannten oder in ihrem Leben nicht vermissten. Die träumerische Sehnsucht vom Kommen des Pastor angelicus „gehört zu dem Heimlichsten und Zartesten katholischer Frömmigkeit, und so gut wie niemand redet von ihr; denn nur wenige katholische Fromme schauen das Papsttum in seinem erschreckenden Abstand von Jesu Ideal und bleiben ihm gleichwohl in Treue und Liebe ergeben.“

 

So schreibt der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967) in seinem Werk „Der Katholizismus“ (1923) und entwirft ein Traumbild von dem engelgleichen Papst der Zukunft. Dieser Papa angelico werde ein Sohn des heiligen Franz sein, werde nicht im apostolischen Palast wohnen, die Huldigungen der Kardinäle und Prälaten verschmähen, werde Buße tun für die unzähligen Sünden seiner Vorgänger und vom Primat der dienenden Liebe in Demut sprechen. Den getrennten Brüdern der lutherischen und reformierten Kirchen, den Schwesterkirchen im Osten wird er die Hand zur Rückkehr reichen. Im Zeichen der Liebe sollen die verlorenen Söhne und Töchter wieder in den Schoß der una sancta ecclesia heimkehren. Dieser Engelpapst wird versöhnen statt spalten, er wird nicht ausgrenzen, sondern integrieren: Die unter dem Primat Roms stehende versöhnte Christenheit muss ihre eigenen Traditionen, ihre Überlieferungen und Sitten in dieser Einheit in der Vielfalt der Stimmen nicht preisgeben.

 

Wie aber werden sich die alten und neuen Ketzer und Kirchenkritiker verhalten? Friedrich Heiler engagierte sich in der Una-Sancta-Bewegung und war optimistisch, dass alle synodalen Wege letztlich wieder nach Rom führen werden. Er glaubte an eine Allversöhnung. Gerade die hartnäckigsten Kritiker werden die Knie beugen. Nicht vor der Macht, nicht vor der Gewalt, nicht aus Furcht und Zittern, sondern vor der Evidenz der Erscheinung des Engelpapstes. So ist Heiler zuversichtlich:

 

„Gerade jene, welche seit Jahrhunderten die Papstkirche leidenschaftlich befehdet hatten, werden nun ihre eifrigsten und treuesten Glieder. Die alten ‚Häresien‘ und ‚Schismen‘ verschwinden; Orientalen und Anglikaner, Lutheraner und Calvinisten, Sektierer und Spiritualisten - alle beugen sich diesem neuen Papst, der zu ihnen kommt, nicht um über sie zu herrschen, sondern um ihnen zu dienen. Sie bleiben, was sie sind; sie behalten ihre Kultformen und Einrichtungen und hüten das besondere Charisma, das ihnen zuteil geworden ist. Aber sie stehen fortan nicht mehr getrennt von der ecclesia universalis, sondern sind vereint mit ihr und schöpfen aus ihrem Lebensreichtum und ihrer Gnadenfülle. Eine una sancta ersteht, wie sie die Welt nicht mehr gesehen seit den Anfängen der Christenheit, ja, noch größer und reicher und wunderbarer als die una sancta der ersten christlichen Jahrzehnte.“

 

Der Papa angelico besiegelt die Liebeseinheit der Kirche. Er dient in den Kathedralen des Abendlandes, feiert die Eucharistie in den Ostkirchen, „er bricht das eucharistische Brot an den schmucklosen Tischen evangelischer Puritaner und reicht den eucharistischen Kelch an den Altären der evangelischen Hochkirchen.“

 

Visionen fallen nicht nur vom Himmel. Sie erzählen von den Sehnsüchten frommer Seelen in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Wenn das Amt versagt, ist die Stunde der Seher und Reformer gekommen. In der langen Sedisvakanz nach dem Tod Clemens IV. (1200-1268) zirkulierte unter den Kardinälen im Konklave die Weissagung: der neue Papst werde der Welt Frieden schenken, Jerusalem erobern und das Heilige Grab von den Ungläubigen befreien. Er werde die Kranken heilen und die Verlorenen suchen. Der Sittenverderbnis unter den Klerikern werde er ein Ende bereiten und die gespaltene Kirche wieder zur Einheit führen.

 

In der Zeit der Kreuzzüge entstand der Traum von einer weltweitenden Ökumene. Er übernahm Erzählmuster der Kaisersage von der Wiederkehr des Kaisers Barbarossa und steigerte sie zu einer ökologischen Utopie. Unter dem Engelpapst werde der Mensch wieder achtsam mit der Natur umgehen, dem Wolf die Hand zur Versöhnung reichen, den Vögeln predigen und mit den Muslimen einen interreligiösen Dialog führen. Roger Bacon (1220-1292), als Franziskaner und „Doctor mirabilis“ hoch verehrt, verschwieg aber nicht die Grenzen der Integration:

 

„Und um der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Papstes willen wird es geschehen, dass die Griechen zum Gehorsam der römischen Kirche zurückkehren, die Tataren in ihrer Mehrzahl zum Glauben bekehrt und die Sarazenen vernichtet werden. Und es wird sein ein Hirt und eine Herde.“

 

Vier Jahre dauerte es, bis ein neuer Papst gewählt werden konnte. Er kam von weit her, war nicht einmal Priester und herrschte als Gregor X. (1210-1276) unter einem großen Namen. Aber er war nicht der Engelpapst. Der lebte von der Spiritualität der Franziskaner genährt weiter im Verborgenen eines kommenden dritten Reiches.

 

Als der Historiker Friedrich Baethgen (1890-1972) auf Einladung der Königsberger gelehrten Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag über die Utopie des Engelpapstes hielt, hatte das Geschichtsbild des Joachim von Fiore eine unheilvolle Aktualität bekommen. Der Königsberger Ordinarius glaubte nicht wie Lessing in „Erziehung des Menschengeschlechtes“ an ein kommendes drittes Zeitalter. Im Gegensatz zu Friedrich Heiler vertraute er auch nicht auf die Allmacht der Liebe.

 

„Der Gedanke, ein Papsttum ausschließlich auf die moralischen Fundamente reiner und geläuterter Menschlichkeit zu gründen, stand nicht nur in unversöhnbarem Gegensatz zu den Grundtendenzen der Entwicklung, die diese Institution in einer jahrhundertelangen Geschichte durchlaufen hatte, sondern widersprach auch den allgemeinen Bedingungen und Notwendigkeiten, von denen keine religiöse Organisation sich auf die Länge zu emanzipieren vermag.“

 

Zum Marburger Kreis um Friedrich Heiler gehörte auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003). Sie teilte mit ihm das Ideal einer „Evangelischen Katholizität“ und den ökumenischen Blick einer Liebesmystik, der weit über die Grenzen des Christentums hinausführte. Der Katholik Heiler hatte unter Nathan Söderblom am lutherischen Abendmahl teilgenommen und später die Bischofsweihe in der gallikanischen Sukzession empfangen, weshalb er mit Griechen und Russen in Marburg die orthodoxe Osternacht feiern konnte. Jeden Sonntag zelebrierte er in seiner Hauskapelle die Evangelische Messe, über deren Atmosphäre Annemarie Schimmel in ihrer Autobiographie berichtet:

 

„Treue Freunde nahmen daran teil, und später saß auch das Hündchen Mitra und dessen Nachfolger, der schwarze Laqit, ‚Findelkind‘, still in der Kapelle. Ich stenographierte oft die Predigten mit und wußte, wenn der Satz ‚Gott ist Liebe‘ kam war die Predigt bald zu Ende. Es waren schöne Stunden, in denen die für Heiler typische Verbindung von Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit deutlich wurde.“

 

Der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit hat religiöse Seelen zu jeder Zeit tief bewegt. Er wühlte auch Søren Kierkegaard auf und trieb ihn zu seinen scharfen Angriffen gegen die dänische Volkskirche. Dänemark kennt ebenfalls die Gestalt des verborgenen Retters. Der keltische König Artus ruht im Feenreich von Avalon, bis seine Zeit gekommen ist. Holger Danske schläft sitzend und mit dem Schwert in der Hand in den Kasematten von Hamlets Schloss Kronborg. Niemand kennt den Tag seines Erwachens. Aber die Sage weiß, dass es eine Stunde höchster Not und Bedrohung des dänischen Volkes sein wird. Dann wird sich Holger Danske erheben. Solche nationalen Träume kann sich Deutschland nicht mehr leisten, wohl aber die russische orthodoxe Kirche. Sie versteht sich als drittes Rom. Doch in den Augen ihrer Kritiker ist sie nicht das „heilige Russland“ und „heilige russische Imperium“ („Svjatoruskaja zemlja“), das Philotheos von Pskov schaute. Die russisch orthodoxe Kirche war seit Peter I. bis zur Revolution eine Staatskirche. Heute ist sie es wohl wieder, wenngleich es keinen Zaren mehr gibt. Doch ist die Figur eines endzeitlichen „weißen Zaren“ nie aus dem Bewusstsein der Frommen verschwunden.

 

Im Westen erwacht der Traum vom Engelpapst mit der ökumenischen Bewegung und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie Friedrich Heiler wollten viele Menschen in Johannes XXIII. den Engelpapst sehen. Heute wissen wir, er war es nicht. Die Idee des Engelpapstes integriert auch Motive des Messianismus’. Die Ankunft des Messias wird wie die Parusie Christi nicht durch Konzilsbeschlüsse eingeläutet. Sie kommt wie der Dieb in der Nacht.

 

Ob Papst Franziskus mit seiner Namenswahl und seiner Schwerpunktsetzung von der Idee eines Engelpapstes inspiriert worden ist, werden künftige Historiker herausfinden. Unsere Zeit fühlt sich von Endzeitängsten in apokalyptischer Dimension bedroht. Aber sie reagiert nicht mehr wie die franziskanische Bewegung mit Buße und Umkehr zu Gott. Ihre Utopien reichen nicht über den Horizont der Wirklichkeit hinaus. Deshalb kann sie nicht mehr vergeben und duldet in anderen die Schwäche nicht, die sie insgeheim in sich selbstverabscheut. Daher die Angst und die Gier. Von Mystik keine Spur und auch keine Erwartung kommenden Heils. Der Engelpapst bleibt im Verborgenen. Hier aber ist er vielleicht gegenwärtiger als in der sichtbaren Welt. Einen Engel erkennt man erst, wenn er vorübergegangen ist. So wird es auch mit dem Erscheinen des Engelpapstes sein.

 

*

 

"Ja, husk kun på mig I danske folk!
behold mig i tanke! jeg kommer i nødens time!“

 

Holger Danske
Et eventyr af Hans Christian Andersen

 

*

 

 

Gesehen im Ikea-Museum Älmhult (2017)

 

https://ikeamuseum.com/sv/almhult/om-oss/om-museet/

 

 

 

Söder: Waldfriedhof

Details
Uwe Wolff
Die Vergessenen
23. September 2019
Zugriffe: 3827

 

 

Der kleine Waldfriedhof gehört zu den

wirklich geheimen Orten der Hildesheimer Diözese.

 

Hier stehen zwei Kreuze für

Julia Gräfin zu Stolberg Stolberg (1810-1820)

und Anna Freiin von Hammerstein Equord geborene Gräfin von Stolberg Stolberg (1841-1864)

 

 

 

 

 

 

Auf dem Waldfriedhof wurde auch der letzte Abt des Klosters Derneburg begraben.

Johannes Faulhaber (1751-1832)

war nach der Säkularisierung Schlosskaplan beim Freiherrn von Arsbeck auf Söder.

 

 *

 

Hier liegen adelige Bewohner des Schlosses Söder.

 

 

 

 

Über die Gegenwart liest man mit einem Klick hier:

 

 https://www.holle.de/Gemeinde/Sehensw%C3%BCrdigkeiten/Schloss-S%C3%B6der/

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Ziemlich beste Freunde: Engel meiner Kindheit

Details
Uwe Wolff
Die Vergessenen
10. September 2019
Zugriffe: 6829

  

  

 Wir sind auf dem Weg.

Werden wir dem genügen, was wir sind?

Wird sich in uns entfalten, was in uns angelegt worden ist?

Die Reifeprüfung liegt nicht am Ende der Jugendzeit.

Die Reifeprüfung ist das Leben. 

 

  

 

Die Hexe Zilly

 

Wir führten ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur. Wir, das sind Rüdiger und ich. Was wir erlebt, haben alle in ähnlicher Weise erfahren. Unsere Generation. Ich schreibe die Geschichte meiner Generation.

 

Rüdiger und ich stehen auf roten Sandsteinplatten. Der Vater hat sie mit der Maurerkelle auf Bausand verlegt. Das üppig sprießende Unkraut zwischen den Bruchsteinen hatte ich zu jäten. Am Wegesrand Rosen, die bald rot blühen werden. Über ihren Wurzeln ist Torf gehäufelt worden. Ein Winterschutz, bei dessen Verteilung ich geholfen habe. Mit meinen kleinen Händen konnte ich den Torf zwischen den dornenreichen Ästen verstreuen. Das kostete immer eine Verletzung. Blut wurde abgeleckt, denn Spucke ist ein gutes Pflaster. Daher weiß ich, dass mein Blut wie Rotbäckchen Saft nach Eisen schmeckt. Eisen lässt sich nicht leicht verbiegen. 

 

Wir sahen, wie Gärten und Wege angelegt wurden. Wir übten uns in vielen handwerklichen Tätigkeiten. Der Dorn stach, die umkippende Steinplatte klemmte den Finger ein, sodass der Nagel blau anlief. Kein Problem. Er würde irgendwann von selbst abfallen. Das Leben war ein Wunder.

 

Der Arm verletzt, das Bein vertreten, die Stirn blutig geschlagen und immer fröhlich dabei, weil der Freund an der Seite steht. Wir spürten das Leben im pulsierenden Finger, unter dem Schorf der Wunde, in der dicken Beule. 

 

Von Schätzen wussten wir nichts. Es gab kein Taschengeld, auch keine Belohnung für die tägliche Mitarbeit in Haus und Garten. Daher hatten wir auch nichts zu verstecken. Unsere Hosentaschen waren leer, und deshalb waren wir so fröhlich. Jeder sah es uns an der Nasenspitze an: Die kleinen Strolche hatten ein reines Gewissen.

 

Der Vater war glücklich, wenn er uns fröhliche Gesellen sah. Einen Freund hatte er immer vermisst. Aber das wusste ich damals noch nicht. „Die beiden Räuber“, nannte er uns gerne oder „Die Zigeuner“. Räuber haben wir nie gesehen. Bei uns gab es nichts zu rauben. Deshalb standen die Türen offen. Zigeuner kamen oft vorbei. Auch sie führten ein einfaches Leben und verbrachten wie wir den größten Teil des Tages im Freien. Als Scheren- und Messerschleifer boten sie ihre Dienste an. Ihre Arbeit verrichteten sie auf der Straße. Zigeuner und Räuber halten zusammen wie Pech und Schwefel. 

 

Der Umgang mit Hexen war dagegen schwierig, weil wir sie nie zu Gesicht bekamen. Am Rand der kleinen Siedlung stand ein halb verfallenes westfälisches Bauernhaus. Hier sollte die Zilly mit ihren vielen Kindern wohnen. Die Zilly hatte keinen Mann und ging keiner Arbeit nach. Nicht einmal einen Kräutergarten hatte sie  angelegt. Auf dem Hof streunte kein schwarzer Kater und kein Besen stand vor der Tür. Es war wie verhext.

 

 

 

Nie stieg aus dem Schornstein des Hauses Rauch auf. Vielleicht wohnte hier im alten Gemäuer die Witti. So nannte Oma Selma den kleinen Waldkauz, den sie handzahm gemacht hatte. 

 

Eulen sind nachtaktiv. Rüdiger und ich mussten unsere Spiele auf den Tag beschränken. In der Abenddämmerung berührten sich unsere Lebenskreise. Oma Selma öffnete ein Fenster und rief: 

 

 

„Witti - komm!“ 

 

Der Waldkauz antwortete: „Kuwitt!“ 

 

 

„Kuwitt" bedeute „Komm - mit!“ So hatte Oma Selma einmal den Ruf erklärt. Wohin uns die Witti führen wollte, sagte sie nicht. Vielleicht ins Haus der Zilly? 

 

Oma Selma kochte gerne Hühnersuppe. Ich habe nie verstanden, warum die Witti das beste Fleisch bekam und nicht Opa Franz. Das kleine Hühnerherz galt als Delikatesse. Ein Schauder durchfuhr mich, als ich es sah. Die Witti aber fraß es Oma Selma aus der Hand. Auch Rüdiger fütterte die Witti und konnte ihr sogar den Nacken unterm Federkleid kraulen.

 

Wir lungerten oft vor dem Haus der Zilly herum und versuchten durch die Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen. Der Ort hatte eine besondere Ausstrahlung. Sie war nicht gut und nicht böse. Wir hätten sie daher nicht beschreiben können. Aber wir spürten die Kraft, die von ihm ausging. Die Zilly war nicht da und genau deshalb ungeheuer anwesend. Zum ersten Mal kamen wir mit einem großen Gesetz des Lebens in Berührung. 

Eine Aura besaß auch die katholische Sankt-Ida-Kirche. Wenn wir durch die bunten Kirchenfenster schauten, sahen wir ein rotes Licht über einem Kästchen leuchten. Im Haus der Zilly stand ein Fernseher, der nie lief. In dem Kästchen wohne Gott, hatte Oma Selma gesagt, und in dem Hexenhaus die Zilly. So oft wir durch die Fenster schauten, wir konnten weder Gott noch die Zilly sehen. Aber es gab beide. Ganz gewiss. Vielleicht wohnten sie an ganz anderen Orten als in der Kirche und dem Hexenhaus. Die Welt war voller Geheimnisse. 

 

Jahrzehnte sind seit jenen Kindertagen vergangen, aber noch immer ist das Leben wunderbar im Ganzen. Alles, alles ist da - nichts geht verloren. Das gilt auch für unsere Witti. Die Witti und mit ihr alle deutschen Waldkauze wurden zum Vogel des Jahres 2017 erklärt. Nur zähmen ist nicht mehr erlaubt. Heute hätten Oma Selma und Rüdiger mit einer Anzeige wegen des Verstosses gegen das Artenschutzgesetz zu rechnen.

 

 

 

 

Lob des einfachen Lebens

 

Das Leben war einfach. Vielleicht war früher sogar einiges besser: Ein kurzes Strickhöschen reichte als Kleidung vom Frühjahr bis zu den Herbststürmen.

 

Blondes und braunes Haar, mehr gerupft als geschnitten von der Mutter oder dem Vater. Die Effilierscheren so alt und stumpf, dass jeder Schnitt ziepte. So erfuhren wir, dass Haare in der Kopfhaut verwurzelt sind. 

 

Ältere Geschwister zu haben, ist manchmal von Vorteil, wenn sie blaue Turnschuhe und eine schwarze Turnhose vererben. Diese Erbstücke waren immer eine oder zwei Nummern zu groß, sodass sie noch im nächsten Jahr Freude schenkten. 

 

Kinder des Wirtschaftswunders. Generation Babyboomer: In den Schlafzimmern der Eltern herrschte eine Willkommenskultur für Kinder. Rüdiger war ein Nachkömmling. Er trug die abgelegten Kleider seiner älteren Geschwister. Ein Flanellhemd des älteren Bruders, wollene Strümpfe, Hüftgürtel und Leibchen der Schwester. Darüber eine großzügig geschnittene schwarze Unterhose. Wem gehörte sie einst? 

 

Glückliche und sorglose Zeit! An Kleidung war nie ein Mangel, und alles konnte miteinander kombiniert werden! 

 

Ich war das Erstgeborene von vier Kindern, trug dennoch nicht die erste Wahl. Onkel Johannes und die Verwandtschaft aus Amerika schickten regelmässig Kleider. Sie waren aus Königsberg vertrieben worden und hatten nach dem Schrecken der Russenzeit Deutschland für immer verlassen. 

 

Es waren zwei Flüchtlingskinder, die hatten einander so lieb: Onkel Johannes war der Bruder unserer Mutter. Im November 1955 fuhr er auf dem ehemaligen Truppentransporter „General Langfitt“ von Bremen-Lesum nach New York. 13 Tage dauerte die Seefahrt. Im Gepäck hat er eine Kuckucksuhr. Das Abschiedsgeschenk seiner Kollegen von der Bremer Landesbank. Bei der Ausfahrt des Schiffes spielte die Kapelle: 

 

 

„Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus…“ 

 

 

Fünf Jahre später wurde Elvis Presley während seines Armeedienstes in Deutschland auf diesen Brauch aufmerksam und machte das alte deutsche Wanderlied zu seinem Plattenerfolg.

 

Das Aufwachsen in einer Recycling-Gesellschaft, das freie Leben auf der Straße und in den Wäldern hat unsere Kindheit geprägt. Niemand führte für uns einen Terminkalender und traf Verabredungen zum Spiel. Niemand griff ein, wenn wir uns kloppten. Niemand lobte unsere Kompetenzen beim Spiel. Das Leben war herrlich!

 

Es gab keine Container für Altglas, Papier, Schuhe oder Kleider. Flaschen und Weckgläser wurden ausgespült und wieder verwendet. Mit altem Papier wurde das Feuer im Koksoffen entfacht. 

 

Der Vater  besaß einen Dreifuß. Ihn brauchte er zur Besohlung alter Schuhe. Selbst die Knöpfe abgelegter Hemden wurden in einer alten Dose zur Wiederverwendung gesammelt. Welch ein farbenfroher Schatz! 

 

Geöffnete Konservendosen eigneten sich wunderbar zur Aufbewahrung von alten Schrauben und Muttern. Nägel wurden vom Vater aus der Wand oder dem Holz gezogen und mit dem Hammer wieder begradigt. 

 

In den Sechziger Jahren folgten mir drei Geschwister. Da war Rüdigers großer Bruder bereits in die weite Welt gezogen. Die Berliner Schering AG hatte die erste Antibabypille auf den deutschen Markt gebracht. Rüdigers Bruder vertrat dieses Produkt in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. 

 

 

 

Kasperletheater

 

Kein Kino, kein Fernsehen, kein Theater, keine Schallplatten. Nichts lenkte uns vom Gesang der Vögel, dem Wiehern der Pferde, dem Muhen der Kühe und dem Bellen der Hunde ab. Die Welt war Klang, und wir stimmten mit ein. Wir sangen die alten Volkslieder und pfiffen den Vögeln nach. Rüdiger war ein Meister im Pfeifen durch die Zähne. 

 

Kasperle wurde im Kindergarten gespielt. Später sahen wir die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste und lernten neue Lieder. Wir spielen auf der Terrasse. In Blickweite der Kindergarten St. Ida, den wir gemeinsam besuchten. 

 

So lange der Sommer währte, hatten Kinder im Haus nichts zu suchen. Unsere Spielräume waren die Straße, Wiesen und Wälder. Rüdigers Vater hatte ein großzügiges Wohnzimmer bauen lassen, wie nur Bauingenieure es können. Der Wohnraum mit Sitzecke und Blumenfenster wurde durch einen Kachelofen beheizt. Das Wohnzimmer ging in ein Esszimmer über, das durch einen Vorhang abgetrennt werden konnte. 

 

Einen Vorhang zu öffnen und zu schließen macht viel Freude. Auch mein Kasperletheater besaß einen Vorhang, der mit Rollen an einer Schiene befestigt worden war. Mein Vater hatte das Kasperletheater gebaut. Deshalb hielt der Vorgang noch in der größten Balgerei. Warum riss der Vorhang in Rüdigers Elternhaus aus der Schiene, als ich an ihm hochkletterte? Das ist mir heute noch ein Rätsel. Rüdigers Vater ließ meinen Vater kommen und die Sache instandsetzen. Darin fand wohl auch eine Rangordnung Ausdruck. Der Bauingenieur war älter, kräftiger und vermögender als mein Vater. Ein Herrscher. Aber einen Vorhang konnte er nicht richtig befestigen.

 

Krokodil, Polizist, Kasper, Gretel und ein König gehörten zu den Figuren, mit denen wir spielten. England, Spanien, Griechenland, Holland, Belgien, Norwegen, Dänemark, Schweden - die meisten Völker hatten einen König. Das hatte Oma Selma gesagt. Sie wusste auch, wie man als Kind von einem Kaiser spricht:

 

 

„Der Kaiser ist ein lieber Mann,

er wohnet in Berlin.

Und wär’ das nicht so weit von hier,

so ging’ ich heut’ noch hin.“

 

 

Oma Selma hatte Kaiser Wilhelm II. in ihrer Heimatstadt Breslau gesehen. Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Jetzt war der Kaiser schon lange tot, und Berlin nicht mehr die Hauptstadt Deutschlands. Oma Selma lebte noch nimmer und würde sehr lange leben. Munter überschritt sie die Jahrtausendwende und wurde 104 Jahre alt. So lebte sie in drei Jahrhunderten und zwei Jahrtausenden. Aber noch ist sie jung. Gerade einmal sechzig Jahre.

 

Einen deutschen König gab es nur noch im Kasperletheater. Ich wollte König sein. In meiner Rechten halte ich mein Wunschbild. Rüdiger setzt zum Angriff mit Gretel. So hieß seine Mutter. Sie malte gelegentlich nach einer Vorlage. Die Bilder hingen im Treppenaufgang: Dürers betende Hände, Berge des Sudetenlands und eine spanische Zigeunerin mit halb nackter Brust. Rüdigers Mutter war zuständig für Renovierungsarbeiten. Statt eine Raufasertapete zu kleben, strich sie die Wände mit weißer Farbe, unter die sie Sägespäne gemischt hatte. 

 

Ein Foto von uns Spielern: Rüdigers Gesicht zeigt konzentrierte Energie. Das Foto ist ein Standbild wie alle Aufnahmen aus jenen Jahren. Schnappschüsse waren unerwünscht, denn ihr Erfolg war ungewiss und kostete somit unnötiges Geld. Die digitale Aufnahmetechnik mit ihrer Bilderflut lag in sehr weiter Ferne. Damals wurde ein Foto gemacht. Eingeklebt in das Album und beschriftet lebt es noch heute.  

 

 

 

Im Rasen hinter dem Elternhaus steckten zwei Wäschestangen. Wenn man eine Stange in die Halterungen legte, konnten Teppiche geklopft werden. Ich hatte die eine Seite des Teppichs zu halten, während der Vater so kräftig zuschlug, dass ich meine Fingernägel und den Staub der vergangenen Monate deutlich spürte. Die Stange konnte tiefer gelegt werden und schon hatten wir ein kleines Freilichttheater. Opa Franz sah unser Spiel mit Freude. Er war Laiendarsteller und hatte Oma Selma in einer Breslauer Spielschar kennengelernt.

 

 

 

 

Katholiken haben zwei Geburtstage

 

Der Zahnwechsel hat noch nicht begonnen. Ein sicheres Zeichen, dass die Schule noch fern liegt. Wir sind im Kindergartenalter. Der Lichterkranz steht auf dem Tisch. In seiner Mitte brennt das Lebenslicht. Es ist ein Symbol für die Einzigartigkeit des Lebens. Sein Urbild brennt an verborgenem Ort. Wenn es erlischt, stirbt der Mensch. Um das Lebenslicht herum brennen weitere Kerzen. Für jedes Lebensjahr eine. Vier müssen es sein. 

 

Es ist daher der 27. Juli 1959. Zur Feier des Tages wird ein Farbphoto gemacht. Wir sitzen auf der Knüppelholzgarnitur im Garten. Rüdiger auf einem Stuhl, breit genug für den dicken Pöter von Tante Martha, ich auf der Bank von Opa Franz. Hinter Rüdiger blühen die Gladiolen. Auf dem Tisch stehen Kosmeen. Wir lächeln im Sonntagsstaat, wie es sich gehört, wenn ein Geburtstagsphoto gemacht wird.

 

Auf der gestickten Tischdecke liegt das Geburtstagsgeschenk. Eine Packung mit Katzenzungen. Vor der kleinen Vase stehen vier rosafarbene Gummipüppchen. Ein sicheres Indiz, dass Rüdiger und ich den vierten Geburtstag feiern. Denn die Mutter verfügte über einen tiefen Symbolsinn. Die Gummipüppchen waren in Zehnerreihen zu kaufen. Die Abtrennung war an diesem Festtag gewiss nicht aus Gründen der sonst immer gebotenen Sparsamkeit erfolgt. Auch die Kosmeen waren ein Symbol. In Erinnerung an ihre Großmutter wurden sie „Großmutterblümchen“ genannt. 

 

Rüdigers Familie stammte aus dem Sudentenland. Wir waren Flüchtlingskinder, Kinder von Vertriebenen, Geschlagenen, Gefangenen, Missbrauchten, Ermordeten. Die Mutter hatte beide Eltern verloren. Sie hießen Gertrud und Hermann Moeck wie die Blockflöte, auf der ich spielen lernte. Die Toten feierten unsere Geburtstage mit. Sie waren jetzt in der himmlischen Heimat. Wir dagegen wohnten in neu erbauten Häusern und lebten doch in der Fremde. Manchmal weinten die Alten in Erinnerung an die verlorene Heimat. Heute freuten sie sich. Unsere Freude gab ihrem Überleben Sinn.

 

Der Sommerwind fährt durch die Kerze. Ein Festtag kann durch das Erlöschen des Lebenslichtes jäh beendet werden. Gut, wer dann einen Schutzpatron an seiner Seite wusste. Rüdiger hatte zweimal Geburtstag. Er war Katholik, und die begingen ihren Namenstag, an dem sie reichhaltiger beschenkt wurden als an ihrem Geburtstag. Kein Wunder, dass Rüdiger so strahlt. 

 

Ein Stück Torte gab es für jeden. Dazu ein Glas Wasser mit Himbeersirup. Der Strohhalm diente dem Schutz vor Wespen, die gerne das Glas umkreisten oder in süßer Trunkenheit hineintauchten. Dieser Tag aber ist besonders glücklich, weil der Wind weht, ohne das Lebenslicht zu löschen, und die Wespen fernhält. 

 

Frisch geschnitten sind unsere Haare. So gehört es sich bei einem festlichen Anlass wie diesem. Jeder kennt die ungeschriebenen Gesetze und weiß, was sich gehört oder ungehörig ist. Rüdiger trägt sogar ein weißes Hemd und ein helles Höschen. Gab es außer ihm noch weitere Gäste? Reinhard Flott vielleicht oder seine Schwester Doris? Sigrid Rendemann? Die Brocke-Töchter und Rendemanns älteste Kinder gingen ihre eigenen Wege wie die einzige Tochter der Wolfen. Nein, ein Freund genügt.

 

 

 

 

Der Nickneger und seine zehn kleinen Negerlein

 

Ein gespanntes Seil in der Eingangstür zum Kindergarten. Darüber gelegt eine Decke, dahinter Tante Anneliese und der Herr Kaplan. Zwei oder vier Figuren – mehr bedurfte es nicht, um 50 Kinder in Bann zu schlagen und 50 Mütter als Zuschauer zu erfreuen. Rüdiger legt die Beine übereinander und presst die Oberschenkel zusammen. Mit seiner Rechten versucht er dem Druck der Blase Widerstand entgegenzusetzen. Rüdiger ist festlich mit Schlips gekleidet. Seine Mutter hat ihn die Haare in fast mönchischer Strenge rasiert. Nur noch die Tonsur fehlt. Neben ihm sitze ich im Spielhöschen, wie ich es am Strand von Wangerooge oder Borkum getragen habe. 

 

Wir sind eins mit dem Geschehen über dem Vorhang des Kasperletheaters. Es gibt nur diesen Moment. Mir stockt vor Spannung der Atem. Die Mädchen sitzen mit Blumenschmuck in den Händen. Sie tragen Zöpfe oder den sparsamen Pottschnitt. Auch sie zittern mit. Ein Junge verbirgt sein Gesicht hinter den Händen, ein älterer bohrt vor Aufregung in der Nase. Wir alle haben vergessen, dass hinter uns zur sicheren Wacht die Mütter Platz genommen haben.

 

Väter haben im Kindergarten nichts zu suchen. Sie arbeiten und verdienen das Geld. Eine Frau, die zusätzliches Geld für den Familienunterhalt verdienen muss, gereicht dem Mann nicht zur Ehre. Ein Zweitverdiener ist Ausdruck des Mangels. Die Erziehung von Kleinkindern ist Frauensache. Sie vermitteln uns die Lieder, Geschichten und Werte.

 

Kinder mit anderer Hautfarbe gab es im Kindergarten St. Ida nicht. Eine Ausnahme bildete unser Nickneger. Wir dachten, er sei der letzte aus der Reihe der zehn kleinen Negerlein. Dieses Lied sangen wir im Stuhlkreis mit besonderer Freude und lernten nebenbei das Zählen bis zum Zehnerübergang:

 

 

„Zehn kleine Negerknaben schlachteten ein Schwein;

Einer stach sich selber tot, da blieben nur noch neun.

 

Neun kleine Negerknaben, die gingen auf die Jagd;

Einer schoss den andern tot, da waren’s nur noch acht.

 

Acht kleine Negerknaben, die gingen und stahlen Rüben;

Den einen schlug der Bauer tot, da blieben nur noch sieben.

 

Sieben kleine Negerknaben begegnen einer Hex’;

Einen zaubert sie gleich weg, da blieben nur noch sechs.

 

Sechs kleine Negerknaben geh’n ohne Schuh und Strümpf';

Einer erkältet sich zu Tod, da blieben nur noch fünf.

 

Fünf kleine Negerknaben, die tranken bayrisch’ Bier;

Der eine trank, bis dass er barst, da waren’s nur noch vier.

 

Vier kleine Negerknaben, die kochten einen Brei;

Der eine fiel zum Kessel rein, da blieben nur noch drei.

 

Drei kleine Negerknaben spazierten am Bau vorbei;

Ein Stein fiel einem auf den Kopf – da blieben nur noch zwei.

 

Zwei kleine Negerknaben, die wuschen am Nil sich reine;

Den einen fraß ein Krokodil – da blieb nur noch der eine.

 

Ein kleiner Negerknabe nahm sich 'ne Mama;

Zehn kleine Negerknaben sind bald wieder da.“

 

 

Niemand von uns lebte in einer Familie mit zehn Kindern. Allein drei oder vier Kinder durchzufüttern, kostete viel Geld. Zehn Kinderlein frassen den Eltern die Haare vom Kopf. Daher brauchten das Negerlein und seine Mama dringend unsere Unterstützung. So ähnlich erklärte es der Kaplan. In der Fastenzeit forderte er uns auf, Süßigkeiten mitzubringen und in ein Kästchen zu legen, damit auch wir kleinen Seelen unser Opfer bringen. Der junge Priester im schwarzen Rock stellte eine Spendenbüchse für das Negerlein und seine Mama auf. Unser Neger hieß Nickneger. Wer in das Kästchen mit dem Nickneger eine Münze warf, dem dankte es das Negerlein durch sein Kopfnicken. Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt, sagte der Kaplan. Ich habe dem dunklen Gesellen nie eine Münze gespendet und nie ein Bußopfer während der Fastenzeit ins Kästchen gelegt. Ich wollte noch nicht in den Himmel springen, denn die Erde war schön.

 

Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen waren Autoritäten. Persönliches gaben sie nicht preis. Bei Tante Anneliese war das anders. Denn unsere Mutter und Tante Anneliese waren Freundinnen und sind es noch heute. So besuchte ich Tante Anneliese und Onkel Paul in ihrem kleinen Hexenhaus. Das war besonders an den Festtagen eine große Freude. Überall lagen zertretene Ostereier herum, und niemand nahm an der Unordnung Anstoss. Herrlich! Onkel Paul rauchte gemütlich Pfeife oder Zigarette, und im dunklen Flur brannte das Ewige Licht. Draußen im Zwinger bellte Blitz und sprang gegen das Gitter. 

 

Onkel Paul arbeitete bei der Güterabfertigung der Deutschen Bundesbahn. Dort hatte er von Blitzens Schicksal gehört. Der Schäferhund mit der Spürnase eines Trüffelschweins besaß sämtliche Eigenschaften eines sehr guten Polizeihundes. Doch seine Karriere bei der Bahnpolizei fand ein jähes Ende, als sich im Schießstand herausstellte, dass Blitz nicht schussfest war. Eine Tragödie für Blitz. Onkel Paul hatte Mitleid und gab ihm Asyl. Blitz konnte man nicht streicheln. Das Schicksal hatte seine Seele verhärtet, und er war bissig geworden. 

 

Viele Jahre später kam ein junger Kaplan aus Zaire und predigte in der St. Ida Kirche. Er hieß Dr. Mauritius Matata und hatte seine Doktorarbeit bei Johann Baptist Metz geschrieben. Er war für die Gemeinde wie ein junger Hirsch aus den Quellgründen Afrikas. Die Zeiten hatten sich geändert und mit ihr die Zahl jener jungen Männer aus Deutschland, die ein Priesterseminar besuchen wollten. Dr. Mauritus Matata holte den Nickneger aus dem Putzraum, wo er inzwischen abgestellt worden war, und nahm ihn wieder in Betrieb. Afrika habe Hunger, sagte der Priester. Er sprach von seinen neun Geschwistern, die alle von seinem Gehalt lebten. Wenn die Gemeinde heute nicht den Nickneger grosszügig füttere, stehen morgen Hunderttausende von Afrikanern vor den Toren Europas. Dabei lachte Dr. Mauritus Matata und zeigte seine tadellosen weißen Zähne. 

 

  

 

 

 

Wunder am Wegesrand

 

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt: Immer war Adventsstimmung.   Ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter: Wir waren voller Erwartung und getragen von der Gewissheit: Ein Wunder könne sich jederzeit ereignen. 

 

Im Winter erwarteten wir den Frühling mit Wiesenschaumkraut auf  den Weiden und Sumpfdotterblumen am Loddenbach; im Frühjahr  den Sommer mit seinen Streifzügen durch die Erdbeerfelder in den Nachbargärten; im Sommer den bunten Herbst mit Hagebutten und Kastanien und dem Lambertusfest; im Herbst den Schnee und das Eis über den versumpften Wiesen. Immer reichten wir dem Wunder die Hand.

 

Ich war ein Frühaufsteher. Rüdiger ein Langschläfer. Singend stand ich um 6.30 Uhr vor der Haustür und schellte. Rüdigers Vater öffnete. Ich fragte, ob ich mit Rüdiger spielen dürfe. Er schlafe, antwortete der Vater und hatte schon entnervt die Tür geschlossen. 

 

Vierzig Jahre später besuchten Rüdiger und ich gleichzeitig unsere Eltern. Es war in der Mittagszeit, als ich an der Klingel schellte. Rüdigers Vater öffnete die Haustür, sah mich und schlug die Tür wieder zu. Der alt gewordene Mann hatte das Kind gesehen und wie damals gesagt:

 

 

„Wir essen jetzt!“

 

 

Das Vergangene ist nicht vergangen und wird niemals vergehen. Alles, was wir erlebten, ist verwandelt in lebendige Erinnerung. 

 

Es gibt Begegnungen, die durch ein langes Leben tragen. Je älter wir werden, desto kostbarer werden sie. Warum ist das so? 

 

Viele Freundschaften gründen sich auf gemeinsamen Interessen und Neigungen, auf den Vorteil, den man sich verspricht, und die Begünstigungen, die gegenseitige Förderung in beruflichen und gesellschaftlichen Dingen. Von all diesem Beiwerk ist die erste Freundschaft frei. Wir sind, was wir sind, und wollen nichts anderes sein. 

 

In jenen frühen Jahren liegen Schule, Studium und Beruf in weiter unausdenkbarer Ferne. Wir wissen nichts von den Bewährungen, die uns das Leben abverlangen wird. Jahrzehnte scheinen uns heute von der Kindheit zu trennen. Aber das gilt nur für die messbare Zeit. In uns ist Ewigkeit.

 

Das Kind in uns ist nicht erwachsen geworden, und das Lebenslicht brennt noch immer. Wir sind noch immer in Erwartung. Die Tage des Spleens und der Schwermut ändern an dieser Grundstimmung der Lebensmelodie nichts.

 

Tante Anneliese entließ uns aus dem Kindergarten mit einem Gebet an den Schutzengel. Was immer kam – wir waren bereit zu ringen oder die Hände zu falten:

 

 

„Lieber Gott,

einen Engel sende,

der mit uns nach Hause geht.

Bei jedem Schritt, bei jedem Tritt,

geh du, mein guter Engel, mit!“

 

 

Welch ein Segen, dass der Schutzengel nicht von der Seite wich! Unter seinen Flügeln geborgen, erlebte ich Wunder über Wunder. Jeder Tag bestätigte den unermüdlichen Einsatz der Engel, von dem die Gebete der Mutter sprachen. „Guten Abend, gute Nacht, von Eng’lein bewacht!“ So war es. Über die Zahl der Schutzengel gaben die Lieder klare Auskunft: 

 

 

„Abends, wenn ich schlafen geh’, 

vierzehn Engel um mich stehen.“

 

 

Die vierzehn Schutzengel schlafen nie. Sie sind auch nachmittags zur Stelle, wenn wir auf der Straße spielen. Es bedarf keiner Verabredung. Alle Kinder sind draußen an der frischen Luft. Hier gehören wir hin. Das weiß jeder. Im Haus haben wir tagsüber nichts zu suchen.

 

Wir beobachten die großen Geschwister. Manchmal dürfen wir an ihren Spielen teilnehmen. Sie spielen, was seit vielen Generationen auf der Straße gespielt wird. Pieter Breughel hat diese alten Kinderspiele ins Bild gesetzt. Wir erkennen uns auf seinem Bild wieder und erleben eine Kinderwelt, ohne Anleitung und Kontrolle der Erwachsenen. Niemand greift von außen ein, wenn ein Bein gestellt wird oder ein böses Wort fällt. 

 

Wir spielen „Himmel und Hölle“, „Hinkekästchen“ und „Gummi-Twist“. Die Straße ist noch nicht asphaltiert. Da kann man gut mit Murmeln kicken. Für Straßenspiele sind genügend Kinder da:

 

 

 „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Niemand!

Wenn er aber kommt?

Dann laufen wir!“

 

„Ochs am Berge eins, zwei, drei“ 

 

“Hexe, Hexe, eins, zwei, drei...“

 

 

 

In den Gärten schweift der Blick über Karotten-, Kohl- und Erdbeerbeete ins offene Nachbargrundstück. Die Eltern sind Selbstversorger. Eine große Stille liegt über den Gärten. Benzingetriebene Rasenmäher, Laubsauger, elektronische Gartenscheren und anderes Gerät stören nicht den Frieden ruhiger Handarbeit. 

 

Telegraphenmasten stehen neben dem Graben entlang der Straße. Wir bewundern die Arbeiter, die an ihnen hochklettern und versuchen vergeblich, es ihnen gleichzutun. Rüdiger kommt auf eine andere Idee. Mit einer Hand am Mast beginnt er sich zu drehen. Unten dümpelt der Jauchegraben. Eine Kanalisation gibt es noch nicht. Siggi löst Rüdigers Finger, er stürzt kopfüber in den Schmutz. Wir versuchen den Dreck aus seinen Haaren und von der Jacke zu klauben. Am Ende der Straße wartet bereits der Vater. Er spricht kein Wort. Mit dem Finger weist er auf sein Haus. Wie ein Hund trottet Rüdiger über die Straße. Alle wissen, was ihn erwartet. Kein Aufschrei wird erfolgen. Denn ein Indianer kennt keinen Schmerz.

 

Jenseits der Masten erstrecken sich feuchte Wiesen. Adebar stolziert durch den Sumpf. Storche bringen neue Geschwister. Aber woher nehmen sie die Kinder? Aus dem Sumpf? Gewiss nicht. Kinder haben keine Kiemen wie die Guppies in meinem Aquarium. Der Loddenbach mäandert um hohle Weidenbäume. Vom Winde gebeugt, strecken sie ihre Äste über das Wasser. Wir kriechen in die Baumhöhlen hinein und fühlten uns geborgen. Kinder wachsen in Baumhöhlen, sagt Rüdiger. Das könnte stimmen.

 

Zur Erntezeit werden die goldenen Garben zu Hocken aufgestellt. Hejo, spann den Wagen an! Die goldenen Garben sind unsere Zelte. Sie atmen den betörenden Duft des Sommers. Die kleinen Hocken bergen ein Geheimnis. Wir treten ein und verweilen, bis das Angelusläuten vom Ida Kirchturm hinüberweht oder Bauer Wortmann uns das Fell gerbt.

 

Bäche sind noch nicht begradigt. Sümpfe noch nicht trockengelegt. Im November tritt der Bach über die Ufer und überflutet das Weideland. Wir leben im Einklang mit der Natur: Der Winter zaubert die wunderbaren Muster der Eisblumen auf die einfachen Fensterscheiben und verwandelt das überflutete Sumpfland in einen zugefrorenen See. Auf ihm laufen die großen Kinder Schlittschuh. Rüdiger und ich besitzen keine. Doch Schlittern ist auch schön. Man rutscht nicht so leicht aus und fällt nicht so heftig mit dem Hinterkopf aufs blanke Eis.

 

Am Ufer des Baches hängen Glocken aus Eis am steif gefrorenen Schilf. Der Löschteich vor der Ida-Schule ist von Eis bedeckt, nur in der Mitte nicht, wo das Schilf wuchert. Ich breche ein, wage aber nicht nach Hause zu gehen. Hinter der Turnhalle entkleide ich mich, wringe die nassen Kleider aus und lege sie wieder an, damit sie auf meiner Haut trocknen. Rüdiger läuft nach Hause und verständigt den Vater. Er holt mich ab. Da ist sie wieder, die Geste der Väter: Der ausgestreckte Arm weist den Weg. Der Vater steckt mich ins Bett und zieht die Jalousien runter. Ich liege im Dunklen.  

 

Wer mit dem Kinderrad auf der Straße umkippt, fällt in den schwarzen Schotter. Die Splitter dringen tief unter die Haut von Knie, Kinn oder Ellenbogen. Am Abend wird sie der Vater mit der heißen Nähnadel entfernen. Auf diese Weise werden auch Wunden geöffnet, um Dornen und Holzsplitter zu entfernen. Wenn die Schürfwunde zu eitern beginnt, gilt die Operation als geglückt. Die Natur waltet ihres Amtes. Der Rest des Splitters verwächst sich mit der Zeit. Die Alten bewiesen es, indem sie ihre Arme und Beine zeigten, wo tief unter der Haut schwarze Punkte zu erkennen waren. 

 

Beulen auf der Stirn oder am Schienbein zeigen sich zuerst als Wölbung unter der Haut. Dann wachsen sie, pochen und nehmen eine Färbung an. Meistens wird die Beule blau und immer dicker. Aber die Haut platzt nicht. Da können wir ganz beruhigt sein. Wenn die blaue Beule sich zu färben beginnt, erst dunkelblau, dann gelb oder grün, ist sie bald verschwunden und die Haut sieht aus, als hätte es nie eine Beule gegeben. Schürfwunden heilen von ganz alleine. 

 

Wegen einer Beule muss man nicht zum Arzt. Ich trage ständig ein neues blaues Horn auf der Stirn. Einmal fahre ich mit dem Fahrrad gegen Brockes Kalksteinmauer. Die Mauer weicht nicht. Ich fahre neben meiner Mutter auf dem Fahrradweg am Hansaring. Vor dem Geschäft von Feldkeller parkt ein Wagen. Der Beifahrer öffnet die Wagentür. Er hat mich übersehen. Ich rase gegen die Tür, stürzte auf den Fahrradweg und verliere für einen Moment das Bewusstsein. 

 

Wer sich ein Auto leisten kann, der ist im Recht und hat immer Vorfahrt. Das wusste ich noch nicht. Jetzt aber weiß ich es. Zu Hause im Bett sehe ich Sterne, obwohl die Jalousien heruntergelassen sind. Sterne im Kopf sind nicht so schön wie die Sterne am Himmelszelt in klarer Winternacht. Weisst du wieviel Sternlein stehen? Doktor Holtmann weiß es. Er kommt und leuchtet mit einer Taschenlampe in die Ohren und die fiebrigen Augen. Er spricht ganz ruhig: Der Sternenflimmer werde sich in den nächsten vierzehn Tagen von alleine legen. Doktor Holtmann hat recht behalten. Zwei Wochen später will ich dem Vater entgegen fahren. Ich bin voller Freude, dass ich wieder mein kleines Rad benutzen kann und fahre, ohne auf den Verkehr zu achten, aus der Stichstraße auf den Erbdrostenweg und stürze. Das Auto habe ich übersehen. Eine Vollbremsung. Nichts ist passiert. Keine Schramme, keine Beule, keine Gehirnerschütterung. Wie wunderbar ist doch der menschliche Körper!

 

Deshalb mag ich es nicht, wenn Ärzte und Zahnärzte in ihn eingreifen wollen. Eines Vormittags liege ich dennoch auf dem Operationstisch. Die Krankenschwester bindet beide Armgelenke am Bettgestell fest. Sie sagt: 

 

 

„Na, dann wollen wir dich mal fesseln.“

„Warum?“ 

„Damit du uns nicht boxst!“ 

 

 

Jetzt erfahre ich, dass meine Polypen entfernt werden sollen. Da ist es zu spät. Das Lachgas ist nicht zum Lachen. Ich sehe schreckliche Bilder: Einen grünen Kreis, der von einem Sägeblatt durchtrennt wurde. Dahinter wird eine hautfarbene Fläche sichtbar. Rüdiger hat es besser. Ihm werden die Mandeln entfernt. Deshalb bekommt er im Krankenhaus so viel Schokoladeneis, wie er will. 

 

Der Wald war unser Spielplatz. Wie die Bäume, so wollten wir hoch hinaus. Wir kannten keine Angst vor großen Höhen, kletterten in die Kronen und ließen uns von den Ästen tragen. Stolz zeigten wir unsere Schürfwunden vom Klettern in Bäumen. Knie und Unterschenkel juckten vom Saft der Brennnesseln. Abends im Bett glühten Arme und Beine. Selbst Stürze vom Dach einer Laube in den Sandkasten konnte man ohne Rippenbrüche überleben. Das hatte Rüdiger mit einem Kopfsprung bewiesen. Zwar blieb ihm für Sekunden die Luft weg und es dauert einige Zeit, bis sich der Atem wieder beruhig hatte, aber sein Schutzengel hatte ihn getragen. Auch als er mit der Stirn gegen die scharfe Kante einer Mauer fiel, dämpfte er den Aufprall. Doktor Holtmann brauchte nur wenige Stiche, um die Wunde zu nähern und nach drei Stunden war Rüdiger wieder zur Stelle und spielte die alten Spiele, die allen Schmerz vergessen lassen.

 

 

 

 

 

 

Die Lebensmelodie 

 

Der Vater sang selten. Das verstärkte die Wirkung. Sein Repertoire bestand aus zwei Sommerliedern und einem Winterlied. In ihnen wurde unsere kleine Welt beschrieben. Das erste Sommerlied  war sehr zart und erzählte von den Vögeln in den Obstbäumen unseres Gartens, den Blumen draußen auf den Wiesen und dem Loddenbach. Da wurde das Herz still und andächtig.

 

 

„Vöglein im hohen Baum, 

klein ist’s ihr seht es kaum,

singt doch so schön,

dass wohl von nah und fern

alle die Leute gern

horchen und stehn,

horchen und stehn.

 

Blümelein im Wiesengrund

blühen so lieb und bunt

tausend zugleich.

Wenn ihr vorüber geht,

wenn ihr die Farben seht

freuet ihr euch,

freuet ihr euch.

 

Wässerlein fließt so fort,

immer von Ort zu Ort

nieder ins Tal.

Dürsten nun Mensch und Vieh,

kommen zum Bächlein sie,

trinken zumal,

trinken zumal.“

 

 

Das war eine Melodie wie aus meinem Herzen. Die Mutter kannte noch eine weitere Strophe. Der Vater ließ sie weg, weil er nicht an den lieben Gott glaubte.

 

 

“Habt ihr es auch bedacht,

wer euch so schön gemacht,

alle die drei?

Gott, der Herr, machte sie,

dass sich nun spät und früh,

jedes dran freu,

jedes dran freu.“

 

 

 

Der Kuckuck war ein arger Räuber. Er legte seine Eier in fremde Nester und ließ sie von Leihmüttern ausbrüten. Das war gemein, kam aber auch unter Menschen vor. Im Kindergarten gab es ein Kuckuckskind. Darüber durfte nicht gesprochen werden, aber alle kannten es. Das Kuckuckskind lebte allein mit seiner Mutter. Der Vater war nämlich nicht der Vater gewesen, so wurde gesagt. Wie aber merkt ein Vater, dass er nicht der Vater ist? Das war eines der Rätsel, die den Kuckuck und seine Kinder umgaben. Wie merken Kuckuckskinder, dass sie Kuckuckskinder sind? Spüren sie es im Herzen oder im Bauch? Sehen sie es dem Vater an? Ist man ein Kuckuckskind, wenn man sich fremd fühlt und das Herz schwer wird? 

 

Vielleicht war auch ich ein Kuckuckskind? Das zweite Sommerlied des Vaters war ein Kuckuckslied. Machte ihn das verdächtig? 

 

 

„Auf einem Baum ein Kuckuck, 

simsalabimbambasadusaladim, 

auf einem Baum ein Kuckuck saß...“ 

 

 

Das war lustig und kam flott daher. Aber ich ließ mich nicht täuschen. „Simsalabim“, sagte der Zauberer im Kindergarten. Der Kuckuck war wie ein Zauberer. Das wusste jeder. Wenn sein Ruf erklang, dann antworteten wir: „Kuckuck, sag’ mir doch, wie viel’ Jahre leb’ ich noch?“ Dann zählten wir die Anzahl seiner Rufe. Wenn sie kein Ende nehmen wollten, ließen wir das Zählen. Denn alles, was über die Zahl zehn hinausging, lag in so weiter Ferne, dass es uns nicht bewegte. Rief er aber nur drei oder vier Mal, taten wir so, als hätten wir nichts gehört. Der Kuckuck, von dem der Vater sang, wurde von einem Jäger erschossen. Ein Jahr später saß er wieder auf dem Baum und sang. Ja, das war Zauberei. Die konnte niemand verstehen.

 

Vaters Winterlied sang ebenfalls von unseren Erlebnissen in Wald und Flur: den schneebeglänzten Feldern und dem mit Eis bedeckten Loddenbach.

 

 

„Es ist für uns eine Zeit angekommen, 

die bringt uns eine große Freud’.

Übers schneebeglänzte Feld

Wandern wir, wandern wir,

durch die weite weiße Welt.

 

Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise,

es träumt der Wald einen tiefen Traum.

Durch den Schnee, der leise fällt,

wandern wir, wandern wir,

durch die weite weiße Welt.

 

Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen

Erfüllt die Herzen mit Seligkeit.

Unterm sternbeglänzten Zelt

Wandern wir, wandern wir

durch die weite weiße Welt.“

 

 

 

In der Küche summte der Wasserkessel auf dem Herd, draußen rauschten die Blätter, der Loddenbach murmelte und die Vögel zwitscherten, die Schweine grunzten, die Kühe muhten, die Pferde wieherten – die Welt war Klang. Nur die Fische im Aquarium glotzen  stumm.

 

Manchmal kam Gerald vorbei. Er sang: „Pigalle, das ist die große Mausefalle mitten in Paris, Pigalle, Pigalle, der Speck in dieser Mausefalle schmeckt so zuckersüß“ und klatschte dabei in die Hände. Gerald war einige Jahre älter als wir. Er ging auf eine besondere Schule, denn er dachte anders als wir. Davon wussten wir aber nichts, denn auf der Straße ist Platz für alle. Gerald hatte ein wunderbares Gedächtnis für Schlagertexte. Wir nannten ihn Pigalle, und er freute sich darüber. Dann sang er: „Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ und „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“. Gus Backus konnte er perfekt imitieren: 

 

„Ja, meine Mutter sagt: Steck’ keine Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren. Und auch der Lehrer klagte: Du hast Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren. Und so geht’s mir auch heute: Ich hab Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren, Bohnen in die Ohren.“ 

 

 

Als Fan von TSV 1860 München verehrte Gerald den Torwart Petar Radenkovic, den die Münchener „Radi“ nannten. Radi Radenkovic war auch ein Sänger. Gerald liebte seinen Schlager „Bin I Radi, bin I König“.

 

Im Spätsommer zogen wir mit selbst gebastelten Lampions durch die Abenddämmerung und feierten das Lambertusfest. Die Väter hatten Holzpyramiden aus Dachlatten gezimmert und sie mit grünen Zweigen der Thuja geschmückt. Dann kam die Nacht und erste Sterne wurden sichtbar. Bunte Laternen leuchteten an der Pyramide. Wir umkreisten sie mit unseren Lampions und sangen:

 

„Ich geh mit meiner Laterne

und meine Laterne mit mir.

Da oben leuchten die Sterne,

hier unten, da leuchten wir...“

 

Da oben am Himmelszelt leuchten die Sterne, hier unten auf der Erde, da leuchten unsere Laternen. Ja, so war es: Die Welt war wunderbar im Ganzen. 

 

„Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne.

Brenne auf mein Licht, 

brenne auf mein Licht, 

aber nur meine liebe Laterne nicht...“ 

 

Diese Zauberworte waren notwendig, denn immer wieder geschah es, dass eine Laterne abfackelte und ausgetreten werden musste. Eines der Lieder begann mit einer Frage: 

 

„Guter Freund, ich frage dir,

bester Freund, was rätst du mir: 

Sag’ mir, was ist Eine?“ 

 

Die Antwort lautete: 

 

„Einmal eins ist Gott allein, 

der da lebt und der da schwebt, 

im Himmel und auf Erden.“ 

 

In der neunten Strophe dieses Liedes war die Rede von den neuen Chören der Engel. 

 

„Guter Freund, ich frage dir,

bester Freund, was rätst du mir: 

Sag’ mir, was sind Neune? 

Neun Chör‘ der Engel...“ 

 

 

Was ein Engel ist, wusste jedes Kind. Aber was sind neun Chöre der Engel? Niemand kannte die Antwort, obwohl alle das Lied sangen. Das sei eine Frage für den Herrn Kaplan, sagte Tante Anneliese. Und richtig. Er wusste die Antwort, und dann wusste sie auch Tante Anneliese. Jedes Kind hat mindestens einen Schutzengel, sagte der Herr Kaplan. Neben unseren Schutzengeln gebe es noch viel mehr Engel. Einige helfen dem Pfarrer bei der Messe. Sie passen auf, dass kein Krümel vom Leib des Herrn verlorengeht. Einmal sei ihm die Hostie aus der Hand gelitten und wäre auf den Boden gefallen, wenn nicht der Engel zur Stelle gewesen wäre. Die neun Chöre der Engel wohnen bei Gott im Himmel, weit hinter den Sternen. Sie singen den ganzen Tag wunderschöne Lieder. Da könnten wir uns vorstellen, wie glücklich diese Engel seien. Sie werden noch glücklicher, wenn wir am Lambertusfest mit ihnen singen. 

 

So war das Rätsel der Engelchöre geklärt. Gott und die Chöre der Engel wohnen hinter den Sternen im Himmel. Zum Mond und den Sternen konnte man fliegen. Der kleine Häwelmann hatte es bewiesen. Er hatte sein Hemdchen über dem großen Zeh wie ein Segel gespannt, aus voller Kraft hineingeblasen und war so mit seinem Kinderwagen durch das Schlüsselloch gefahren. 

 

Fliegen war kinderleicht, wenn man ein bestimmtes Abendlied gesungen hatte. Zuerst schlief ich ein. Dann träumte ich, bewegte die Arme gleichmäßig und ruhig und erhob mich in die Lüfte. So gelangte ich ins Paradies:

 

 

„Guten Abend, gute Nacht,

von Englein bewacht.

Sie zeigen dir im Traum,

Christkindleins Baum.

Schlaf nun selig und süß,

schau’ im Traum vom Paradies.“

 

 

Vielstimmig erklingt die Lebensmelodie, manchmal laut und unüberhörbar, dann als ein leiser Seelenhauch. Zuweilen stockt ihr der Atem. Sie kann verstummen. Aber niemals für immer. 

 

Lieder der Kindheit. Frühes Glück des Wiedererkennens: Das bin ja ich! Gleiches wird durch Gleiches erkannt. Homöopathie der Herzen. Seelenverwandtschaft: Du gehst deinen Weg nicht allein. 

 

Gewissheit: Was für uns bestimmt ist, wird uns auch finden. Frühe Musik der Kindheitstage. Zum ersten Mal gehört und nie vergessen: Die Auflösung der Gegensätze im Walzerklang von Jean Sibelius’ Valse triste, die unvermittelt auftauchenden Stimmungswechsel von panischem Schrecken und jubelnder Apotheose in Gustav Mahlers 1. Sinfonie, das alle Wehmut sprengende Allegro molto vivace von Pablo de Sarasastes Zigeunerweise. The Fairy Queen von Henry Purcell und die engelgleiche Stimme von Alfred Deller, voller Innigkeit, Schwermut und Heiterkeit, ein Seelenton ewiger Kindheit. Nie wird sie verstummen, was immer kommt. 

 

 

 

 

 

 

 

"Ich habe angefangen,

meine Jugend-Geschichte aufzuschreiben

und bin überrascht,

wie klar sich das längst vergessene Geglaubte

wieder vor mir auseinander breitet.

Nun darf ich fortfahren,

denn nun bin ich gewiss,

dass ich mein Leben darstellen kann

und nicht darüber zu räsonieren brauche."

 

Friedrich Hebbel. Tagebuch vom 16. September 1846 

 

 

 

 

Künstler in Skagen: P.S.Krøyer, Anna Ancher, Holger Drachmann

Details
Uwe Wolff
Die Vergessenen
09. September 2019
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Künstler in Skagen:
Der Abend des Heiligen Hans


 

 
 

Als Undine zwei Kombitickets im Skagener Kunstmuseum bezahlt, staune ich über den abenteuerlichen Preis. Mit Rollator wäre der Eintritt frei gewesen. Vielleicht ist das ein Grund, warum einige rüstige Rentner mit rollenden Gehhilfen anreisen und diese gleich im ersten Bildersaal parken. Vielleicht ist es aber auch die berühmte heilende Kraft der Kunst, die hier oben im nördlichsten Zipfel Dänemarks erfahrbar wird.

Immer wieder sehe ich mich mit Fragen konfrontiert, auf die ich keine Antwort habe. Das betrifft auch die eigene Familiengeschichte. So besaß Oma Selma einen Schwerbehindertenausweis, der ihr die kostenlose Benutzung der städtischen Busse von Münster erlaubte. Sie war damals so alt wie ich es heute bin. Oma Selma lief jedem davon, und noch in ihrem 103. Lebensjahr bewegte sie sich ohne Rollator zu Heiligen Messe. Allerdings recht langsam.

Vendsyssel heißt das Land zwischen Kattegat und Skagerrak. Nördlich von Skagen vereinigen sich Nordsee und Ostsee. Ein Kraftort für Künstler und Lebenskünstler. Im Jahr 1874 gründeten hier Michael Anker (1849-1927) und sein Malerfreund Karl Madsen (1855-1958) eine Künstlerkolonie, wie sie beinahe zeitgleich auch in Worpswede und Pont-Aven erprobt wurde. Seevögel leben in Kolonien. So ein Vogelfelsen im blauen Meer sieht recht malerisch aus. Doch trügt der romantische Eindruck. Unter Vögeln herrscht eine brutale Hackordnung wie in einer Künstlerkolonie.

 
 

Geblieben ist in Skagen die Erinnerung an eine spannungsvolle Zeit dänischer Malerei. Michael Anker logierte im Hotel von Erik Brøndum. Manche Rechnung konnte er durch ein Bild begleichen. Heute hängen diese Bilder neben vielen anderen im ehemaligen Speisesaal des Hotels. Er bildet die Keimzelle für das Skagener Kunsthaus. Während der Besatzungszeit waren die Bilder ausgelagert, denn das deutsche Militär nutzte den Bildersaal als Turnhalle.

Erik Brøndum hatte eine begabte Tochter. Er erkannte ihr Talent und förderte es durch privaten Kunstunterricht. Die Kopenhagener Akademie stand jungen Frauen nicht offen.. Anna Brøndum (1859-1935) galt seit frühster Kindheit als ein ganz besonderes Kind. Denn in der Nacht, als ihre Mutter mit ihr niederkam, wohnte Hans Christian Andersen in Brøndums Hotel und alle sahen darin ein Zeichen der Vorsehung, von deren gütigem Walten dieser Däne überzeugt war. Anna war fünfzehn Jahre jung, als sie sich in den zehn Jahre älteren Michael Anker verliebte. Mit 18 Jahren verlobte sie sich, mit 21 heiratete sie ihn. Michael und Anna Ancher führten eine Künstlerehe in gegenseitigem Respekt. Ein Familienidyll wie auf den Bildern von Carl Larsson.

 

 
Das berühmteste Bild der Skagener Maler zeigt Anna Ancher mit ihrer Freundin Marie Krøyer (1867-1940) bei einem Spaziergang an der Nordsee. Es trägt den Titel „Sommerabend am Skagener Südstrand“ (1883) und wurde von Peder Severin Krøyer (1851-1909) gemalt.
 
In bodenlangen weißen Sommerkleidern gehen Krøyers junge Ehefrau Marie und Anna Ancher in ein Gespräch vertieft am Saum des Meeres. Der Betrachter sieht sie vor dem verschwimmenden Horizont der drei Elemente: Meer, Luft und Dünen gehen am Ende des Weges ineinander über. Ein Grenzgang in der blauen Stunde. Ein romantisches Bild der Sehnsucht nach Unendlichkeit. Nichts trübt diesen Moment der Innigkeit und Einheit mit der Natur, kein fremdes Ohr lauscht dem Gespräch. Die Frauen haben ihre weiten, weißen Kleider mit gelbgoldenen Gürteln eng um den Leib geschnürt. Eine Frau trägt einen Sonnenhut auf dem Kopf. Die andere hat ihn abgelegt und hält ihn in der linken Hand. Hat P.S. Krøyer hier ein Zeichen der Entgrenzung gesetzt?
 
 
 
 
Ein frühes Doppelportrait zeigt ihn an der Seite seiner schönen Frau mit ihren ebenmässigen Gesichtszügen. Krøyer dagegen schaut angestrengt. Der Betrachter glaubt einen Schatten in seinem Gesicht zu sehen, eine in Zaum gehaltene negative Energie. Anders als Michael und Anna Ancher führten Marie und Peder Severin Krøyer keine Ehe auf Augenhöhe. Er besaß Genie. Sie Talent. Bille August hat Szenen dieser Ehe ins Bild gesetzt. Der Film heißt „Balladen om Marie Krøyer“ (2012), fiel bei der Kritik durch und kam nicht in die deutschen Kinos.

Krøyer konnte über viele Jahre mit geradezu manischer Kraft und Kreativität seine Bilder malen. Dann ließen seine schöpferischen Kräfte nach. Eine Arbeit, die früher in zwei oder drei Tagen erledigt war, brauchte nun lange Zeit. Er wurde schwermütig, kam 1900 in psychiatrische Behandlung. Marie Krøyer reiste während dieser Krise nach Sizilien und verliebte sich 1902 in den schwedischen Komponisten Hugo Alfvén (1872-1960). Krøyer versuchte, seine Ehe zu retten. Er lud Marie und ihren Liebhaber nach Skagen ein. Hugo Alfvén reiste mit seiner neuen Komposition „Midsommarvaka“ (op. 19) an.

 
 
 
 
 

„Schau’ mal der Hund!“, ruft Undine. Wir gehen wie immer getrennt durch die Bildersammlung des Skagener Museums. Denn jedes Auge sieht anders und will anderes sehen. Eine schöne Frau mit ihrem Hund am Strand. Eine noch schönere lesende Frau unter Apfelbäumen. Zu ihren Füßen ruht ein Hund: Ich bin froh, dass Tobit der Zutritt zum Museum verboten ist.

„Den Hund habe ich schon gesehen“, behaupte ich und ergänze: „Sehr schön getroffen.“

Mädchen müssen immer etwas mit sich herumschleppen, denke ich - Puppen, Einhörner, Nixen. Junge Frauen halten ihre Kinder im Arm oder an der Hand. Reife Frauen brauchen einen Hund an ihrer Seite und offensichtlich einen Künstler, der dieses Bild verewigt. Da ich nicht malen kann, sage ich zu Undine:

„Wenn wir wieder daheim sind, werde ich Edda Grossmann bitten, dich und Tobit zu malen. Vielleicht bei einer Besteigung des Brocken, denn Bilder von Wanderlust sind gerade wieder in Mode gekommen!“

Über die dänischen Maler und ihre Bilder wissen wir zunächst nichts. Unsere Eindrücke sind unmittelbar. Wir betrachten, wir tauschen uns aus. Ich höre zu und fühle mich bereichert. Ich höre weg, denn ich will mich in meinem eigenen Gedankenstrom nicht stören lassen. Wir lesen die spärlichen Informationsblätter. Ins Ferienhaus zurückgekehrt, beginnen wir unsere Studien. So bildet sich ein Mosaik. Erst im Rückblick entsteht ein erstes Bild von den Bildern.

Der Sommerabend in der blauen Meeresstunde ist kein Idyll, sondern eine Ahnung. Vor dem Horizont der Unendlichkeit werden die letzten, die wesentlichen Fragen gestellt. Als das Bild im Jahr 1978 auf einer Auktion angeboten wurde, versuchte es der Direktor des Skagener Museums für seine Sammlung zu erwerben. Axel Springer überbot ihn. Tief erschüttert durch den Freitod seines Sohnes suchte er Orientierung auch in letzten Fragen. Als er sah, welche Bedeutung der Gang in die Blaue Stunde für viele Dänen hatte, verfügte er die Übergabe des Bildes nach seinem Tod an das Skagener Museum. In der Widmung bezeichnete er sein Geschenk als Gabe der Dankbarkeit für das dänische Volk, das im Oktober 1943 vielen Juden die Flucht nach Schweden ermöglicht hatte. Diese Stiftung gibt dem Bild eine Tiefendimension, die weit über das Schicksal der Frauen hinausweist. Da hat jemand etwas gesehen, was wir nicht sahen, aber in Zukunft immer sehen werden.
 
 

 
 
 

War der Sommerabend ein Bild der Vorbereitung zur Flucht? Krøyer konnte seine Ehe nicht retten. Marie heiratete Hugo Alfvén und führte eine unglückliche Ehe, die schließlich geschieden wurde, denn der schwedische Musiker betrog sie von Anfang an. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Krøyer an einem Bild „Sankt Hansblus på Skagen strand“ - „Johannisfeuer am Strand von Skagen“ (1906). Es zeigt Dorfbewohner und Mitglieder der Künstlerkolonie am Vorabend des 24. Juni. Um das lodernde Feuer tanzen Kinder. Hinter ihnen lehnen sich Alfvén und Marie an ein Boot am Strand. Ein Bild der Versöhnung des Malers mit der Vergangenheit.
 
 

Unter den bekannten Künstlern auf der rechten Seite des Gemäldes steht der Dichter und Maler Holger Drachmann (1846-1908) mit seiner Frau. Noch heute wird am Sankt-Hans-Aften, wie die Dänen den Mittsommerabend nennen, Drachmanns Midsommervise „Vi elsker vort land“ - „Wir lieben unser Land“ (1885) gesungen. Eine Liebeserklärung an Dänemark und die Bekundung von Wehrbereitschaft gegenüber allen Feinden. Heimatliebe und Nationalismus verbinden sich in Drachmanns Hymne:

„Vi elsker vort land,
og med sværdet i hånd“

Wir finden die Mitsommer-Hymne „mit dem Schwert in der Hand“ nicht auf der CD mit Drachmann-Liedern, die Undine in dem Museumsshop kauft. Dafür schöne romantische Liebeslieder.
 

 
 
 

In Drachmanns Hus sind wir die einzigen Besucher. Hier treffen wir Lars. Er sitzt in der Sonne vor dem kleinen Museum und freut sich über die Abwechslung. Lars hat das fünfzigste Lebensjahr überschritten, ist aber noch sehr gut in Form. Wir glauben ihm sofort, dass er in Aarhus Karate unterrichtet hat. In dieser Universitätsstadt begann er Søren Kierkegaard zu lesen und ist ihm treu geblieben. Kierkegaard war schrullig, verwachsen, ein Kauz und Trollkind - also das glatte Gegenteil dieses wahrhaft nordischen Recken, der mühelos sein Ruderboot über den Atlantik nach Island gesteuert hätte.

Kein Tag vergehe ohne einen Blick in das Werk dieses dänischen Philosophen. Dass Denken traurig und einsam und die Lektüre Kierkegaards depressiv mache, kann Lars nicht bestätigen. Kierkegaard sei von untergründigem Witz wie Franz Kafka. Kierkegaard sei ein unabhängiger Geist gewesen. Er habe sich in seinem Schreiben nicht am Geschmack des Publikums orientiert. Durch das geerbte Vermögen seines Vaters war er versorgt. Als er starb, hatte er die letzte Krone ausgegeben. Ein Lebenskünstler.

Kierkegaard hat seine Verlobung mit Regine Olsen aufgelöst und ist nie wieder eine Beziehung eingegangen. Während Lars mit uns im großen Atelier von Holger Drachmann plaudert, hat draußen auf der Bank in der Sonne eine große blonde Dänin Platz genommen. Es ist 16.00 Uhr. Das Museum schließt. Wir verlassen das Drachmann-Haus. Ich frage Lars, welchen Beruf er ausübt, wenn er nicht als Museumswächter tätig ist. Die Frage führt offensichtlich auf ein zu weites Feld.

„Auf Kierkegaard wartete keine schöne Dänin, wenn er sein Haus verließ“, sagt Undine im Gehen. Das ist wohl wahr.

Holger Drachmann war dreimal verheiratet und hatte wie Hugo Alfvén zahlreiche Frauengeschichten. Ein Womenizer hatte Lars ihn genannt. Der Sohn eines Marinearztes machte eine Ausbildung zum Marinemaler, bereiste die Welt, wurde zum meist diskutierten dänischen Schriftsteller seiner Zeit. Sein schriftstellerisches Werk zählt über 50 Bände. Heute ist es nahezu vergessen.

Vergessen sind auch die Namen der meisten Künstler, die in Skagen lebten. Das Lager des Museums quillt von Bildern über, die niemand je gesehen hat. Im Sommer werden diese Staubfänger ihren Stiftern zurückgegeben oder auf Loppetmärkten verramscht. Doch vor diesem Ende werden sie einmal das Licht der Öffentlichkeit erblicken und im Museum aufgehängt werden. „So long - Adieu - Auf Wiedersehen. Vom Keller in ein neues Zuhause“ lautet der Titel der kommenden Ausstellung.

Nachdem Hans Christian Andersen Skagen besucht hatte, schrieb er die Erzählung „Eine Geschichte aus den Sanddünen“ (1860). Sie beginnt in Spanien. Hier sprechen zwei Liebende über die Vergänglichkeit, ein Thema, das Andersen bewegte.

„Mir aber genügt nur diese Welt!“, rief der Mann und umschlang sein schönes, liebliches Weib, rauchte eine Zigarre auf dem offenen Altan, wo die kühle Luft erfüllt war mit dem Duft der Orangen und Nelken. Musik und Kastagnetten erklangen von der Straße herauf, die Sterne flimmerten von oben herab, und zwei Augen voller Liebe, die Augen seines Weibes, schauten ihn mit dem ewigen Leben der Liebe an.
„Eine solche Minute“, sprach er, „ist es wohl wert, dass man geboren wird, empfindet und - verschwindet!“ Und er lächelte. Die junge Frau hob die Hand mit mildem Vorwurf - und der Schatten auf ihrer Welt war wieder verschwunden, sie waren gar zu glücklich.“

Vielleicht erleben die vergessenen Bilder jene Minute, für die es sich lohnt, gemalt worden zu sein. Drachmann starb zwei Jahre, nachdem Krøyer ihn auf seinem Mitsommernachtsbild portraitiert hatte, in Hornbæk. Seine Asche wurde in den Dünen vor Skagen beigesetzt. Holger Drachmanns Bilder zeigen immer wieder die dramatische Seite des Meeres. In einer Reisebeschreibung von Skagen schrieb Drachmann:

„Hier ist eine Wüstenlandschaft, die einen zermalmen kann. Entweder graues Gelb mit blaugrauer Luft darüber, oder glänzendes Weiß mit knallender blauer Luft darüber. Wenn man diese Landschaft malt, dann sollte man nicht einige Spuren von Menschenstiefeln oder Möwenknochen im Vordergrund vergessen. Weit draußen über der ungeheuren Fläche geht ein winziger Fischer. Hier draußen wird man ganz leicht zu einem Nichts.“

 
 

In diesen Tagen im wunderschönen Monat Mai erleben wir eine ganz andere Stimmung am Meer. Johannis, der Tag des Heiligen Hans, liegt noch in der Ferne, doch sind die Abende bereits vom Licht der hellen Nächte durchflutet. In Lønstrup bummeln wir durch die Gallerien und entdecken die Butik Hørnhuset mit Kleidern und Tischdecken aus schwedischen Leinen. Klässbols heißt der kleine Ort in Värmland, in dem Else Marie Overgaard den Tischläufer Lønstrup hat fertigen lassen. Die weißen und hellblauen Linien fangen jene Stimmung ein, die täglich vor unseren Augen liegt. Von Klässbols haben wir bisher noch nie etwas gehört. Jetzt wissen wir, dass die kleine Leinenweberei mit ihren handgefertigen Tischdecken nicht nur das Königliche Haus beliefert, sondern auch die Tische beim Bankett der Nobelpreisträger eindeckt.

Wir aber schauen über unseren kleinen Lønstrupläufer auf das stille Meer im Sonnenschein und lesen Verse von Holger Drachmann:


Lyse Nætter

Paa Stranden skælver ej det mindste Blad;
Her ruller Søen sølvblank ud sit Bad,
Og Solnedgangen lejrer sig derover.
I Himlen smeltes ind de bløde Vover,
Du skuer mod uendelige Sletter
Af Barndomsminder uden mørke Pletter,
Vemodig glad: –
De lyse- Nætter, ak de lyse Nætter!


Lichte Zeiten, dunkle Zeiten. Zeiten des Wachsens und Reifens in der Berufung. Zeiten des Aufbaus einer Familie. Zeiten des Abschieds und des Verlustes. Zeit der Entsagung. Zeit der Versöhnung. Zeit, dass etwas Neues kommt und andere das Ruder übernehmen.

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes 3.30) Das berühmte Wort Johannes des Täufers war nicht diätetisch gemeint. Es markiert den Abschluss seines prophetischen Auftrages. Die Zeit hatte sich erfüllt. Ein neuer Mann kam. Johannes ist der Heilige Hans. Mittsommer wurde sein Fest. Denn nun nehmen die lichten Tagen wieder ab. Die Nächte werden länger. Das Dunkel wird wachsen.



 


 

 

Corona: Es ist ein Kreuz

Details
Uwe Wolff
Die Vergessenen
08. September 2019
Zugriffe: 7651

 

Überwasserkirche Münster (Barbaratag 2022)

 

*

 

"Mit brachialer Gewalt haben Unbekannte einen Tag vor dem Osterfest

ein 76 Jahre altes Wegekreuz mit Sitzbank unter einer Kastanie am Brenneweg

zwischen Borsum und Harsum zerstört.

Eigentümer des Kreuzes ist Reinhold Hollemann aus Borsum.

Sein Großvater Bernward Hollemann hatte es wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkrieges gebaut

und dort aufgestellt, um damit an seinen damals 30-jährigen gefallenen Sohn Walter zu erinnern."

Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom 19. April 2022

 

*

 

 

 

"Stat crux, dum volvitur orbis"

 

"Die Welt wandelt sich, das Kreuz bleibt"

Motto der Kartäuser

 

*

 

"Glaubst du etwa dem zu entkommen,

dem noch kein Sterblicher je entrinnen konnte?"

Thomas von Kempen. Nachfolge Christi, Kapitel XI

 

*

 

 

Das Kreuz hat eine horizontale und zugleich vertikale Ausrichtung.

Der Horizont steht für den Menschen und seine Verantwortung für die Erde.

Über diesem Horizont strebt die Vertikale in eine andere Dimension.

Sie ist unendlich viel größer, als alle Macht und aller guter Wille.

Im Spannungsfeld dieser Möglichkeiten und Begrenzungen bewegen sich die großen Fragen unserer Zeit.

 

 

Würden sämtliche Kruzifixe aus der Öffentlichkeit entfernt, so wäre das Kreuz dennoch überall sichtbar.

Wie kein anderes Symbol ist es dem Menschen auf den Leib geschrieben.

Wenn wir beide Arme ausbreiten, so wird das Kreuz sichtbar.

Das Kreuz ist das Symbol des Menschen.

Das Kreuz ist sperrig und widersprüchlich wie das Leben.

  

 

Zum Kreuz gehören Grenzerfahrungen wie Schuld und Sühne.

Niemand kann ihnen entfliehen.

Sie holen uns ein wie die Folgen der Umweltsünden.

Wir Menschen des 21. Jahrhunderts fühlen uns schuldig,

vielleicht schuldiger als jede Generation vor uns.

Haben wir doch die Folgen unseres Tuns unmittelbar vor Augen.

 

 

Gesundheits-, Umwelt- und Ernährungsfragen haben eine geradezu religiöse Dimension gewonnen.

Zu recht.

Denn in ihnen lebt das Bewusstsein für das Ganze, in das wir eingebunden sind.

Das Ganze wird auch „Ökumene“ genannt.

Der Mensch ist verantwortlich für die Erde.

Zugleich macht er immer wieder die Erfahrung, dass das Ganze zu groß ist, um bewältigt zu werden.

Handeln zu müssen und nicht handeln zu können - aus diesem Zwiespalt von Macht und Ohnmacht besteht das Leben.

Die Betrachtung des Kreuzes führt hinein in dieses Geheimnis. 

 

 

Das Kreuz ist ein Geheimnis.

Geheimnisse kann man nicht rasch und nebenbei erklären.

Man muss sich auf sie einlassen, sie bedenken, betrachten, meditieren. 

Zu dieser ruhigen Betrachtung möchte ich neun Anstösse geben.

Sie führen  schrittweise in das Geheimnis des Kreuzes.

 

Jesus musste eine Dornenkrone tragen.

Im Tod verwandelte sie sich in die corona vitae.

 

 *

 

 

 Überwasserkirche Münster (Barbaratag 2022)

 

*

 

Dr. Christian Heidrich in: "Christ in der Gegenwart"

https://www.herder.de/cig/cig-ausgaben/archiv/2020/36-2020/medizin-der-unsterblichkeit/ 

 

 

 

 Ein Gespräch über das Symbol "Kreuz" mit Ralph Wicki im SRF 1 vom 8. April 2020:

 https://www.srf.ch/sendungen/nachtclub-mit-ralph-wicki/nachtclub-von-22-08-uhr-953

https://www.srf.ch/sendungen/nachtclub-mit-ralph-wicki/nachtclub-von-23-04-uhr-720

 https://www.srf.ch/sendungen/nachtclub-mit-ralph-wicki/nachtclub-von-00-06-uhr-924

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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